Männerchöre benötigen eine ganz eigene Chorliteratur und auch Stimmbildung. Doch auf was ist besonders zu achten?
Dazu sollte man erst wissen, wie viele Stimmen, wes Geistes Kind, welche Ziele, welche Ansprüche? Empfehlungen allgemeiner Art zu geben ist bei der stilistischen Vielfalt nur bedingt möglich. Was der eine goutiert, lehnt der andere ab – und: Was der eine Chorleiter bewältigt, ist für den anderen ein unbekanntes Buch oder ein rotes Tuch.
Bewusst möchte ich somit erst auf das Grundproblem eingehen: den Chorleiter (oder auch „sie“). Beobachte ich allüberall wie etwas dargeboten wird, so sind gar manche Wunden sichtbar und hörbar, wären aber vermeidbar. Doch wie?
Textverständnis ist unbedingt notwendig
Das Grundverständnis eines Stückes beginnt nicht in der Hüfte, sondern im Kopf, also beim Text. Verstehe ich ihn selber, inhaltlich (seine Bildersprache und Symbolik, die Metaphern, den Sinn, seine sprachlichen Feinheiten und seinen Hintergrund) und formal (die Dramaturgie von Anlauf und Peripetie, dazu den grammatikalisch angesetzten Satzbau), erst dann kann eine schlüssige Interpretation erfolgen. Wem diese Feststellung lächerlich klingt, der mag einmal zuhören, mit welchen unsinnigen Zäsuren oftmals selbst einfache Texte durchgeholpert werden!
Selbstverständlich ist nicht jeder Chorleiter Germanist, und vom Eintauchen-Können in fremdsprachige Feinheiten schweige ich lieber. Wie mag ein Chor Texte verstehen, wenn er nicht dahin geführt wird? Wie mag er interpretieren und einem Zuhörer etwas zu verstehen geben, wenn es ihm selber daran mangelt? Aus dem Grund-Verstehen folgert die Darstellung mit Hilfe der entsprechenden musikalischen „Werkzeuge“ wie Tempo, Lautstärke und klanglicher Dichte, dazu dem Heraus-arbeiten von Strukturen, der Artikulation und sprachlichen Präsenz. Die Komposition als wortgezeugtes Werk gibt doch aus sich selbst Interpretationshilfen:
Mit den Mitteln des Rhythmus entstehen Schärfe und Pointierung bzw. Lyrik und Ebenmaß; mit der Harmonik die Spannungslinie einer möglichen Dramatik, aus der Melodie der Bogen des Atems. Die homophone und polyphone Satzstruktur weist stimmliche Zuordnungen und Wertigkeiten aus. Daran erkennt man auch den Qualitätsabfall vom Schlichten zum Dümmlichen, von der strukturellen Klarheit zum Aufgeblasenen, von der Abwechslung zur Einförmigkeit.
Und was wird gerne verkauft, was so gerne gesungen? Was wird überhaupt hinterfragt oder nur nachgemacht? Anspruchslose Texte, die jeder selbst zusammenreimen könnte, deren Bilder ohne Phantasie sind, aber schwülstig daherkommen; anspruchslose Musik, deren Melodien banal und deren Harmonien und Sätze unter der untersten Schublade der Primitivität ruhen, weil sie ideenlos töricht sind und noch nicht einmal der Textmetrik genügen.
Die große Verantwortung des Chorleiters
Die Verantwortung des Chorleiters, als wirklicher Chorerzieher seinem Ensemble den richtigen Hut zu verpassen, um es innerlich zu festigen und äußerlich strahlen zu lassen, ist riesig. Sie wahrzunehmen, kostet Zeit, viel Zeit; sie kostet Phantasie und Umschau, immerwährende eigene Fortbildung. Entscheidend ist ja nicht, was man selber gerne hätte, sondern was dem Ensemble nützt. Ist das deckungsgleich, dann ist Harmonie angesagt. Also entsteht – wenn’s denn passen soll, die Wahrheit eines Ausdrucks vom Kopf her ins Körperliche, von der Offenheit eines Gesichtes zur Selbstverständlichkeit einer nicht schematisch aufgesetzten glaub-haften Bewegung.
Literatur für Männerstimmen
Können Männerstimmen das? Oh ja – wenn man die Älteren sich öffnen hilft, die Jüngeren ideenreich improvisierend führt. Literatur für Männerstimmen? Aus der Menge heraus wie beliebig gegriffen vier Beispiele = vier Stile. Da habe ich gerade das „Türkisches Schenkenlied“ von Mendelssohn Bartholdy vor mir.
Wie ein Komponist den zweidimensionalen sinnigen Text von Goethe in wenigen Takten ideenreich satztechnisch, melodisch und rhythmisch bewältigt, um die beiden Grundaussagen des Liebelosen und des Liebevollen zu erklären, das ist es. Also führe ich den Chor hier hinein – und habe die Interpretation aus dem Studium der Partitur wie von selbst gefunden.
Oder ich denke mich beim schon ausgetretenen „Schifferlied“ von Silcher mal in die Metaphern, in die Bilder hinein und erläutere, was „der goldne Adler“ und der „Silberschwan der Nacht“ sind, um daraus die Liebespoesie zu verstehen, den strukturierenden Gondelrhythmus zu erfassen und die Gesichter der Singenden zu öffnen.
So komme ich auch zur swingenden Interpretation von „Fever“ („Reine Männersache“, Bd.1, S. 98ff) und kann anschließend augenzwinkernd das berühmte „Badewasser schlürfen“ (S.102 ff.)
Wann brauche ich dazu den Hüftschwung beim Singen? Sicher also zuerst den richtig erfassten Text, daraus den rechten Ausdruck im Gesicht. Ohne den wird’s sicher nichts, auch nicht mit einer swingenden Hüfte.