Tübingen im Jahr 1839: Die Akademische Liedertafel ist gerade zehn Jahre alt geworden – und es kriselt bei ihr! Die anfangs so hochmotivierten Studenten verlieren allmählich die Lust am Singen. Schuld daran sei, so der Vereinschronist, „die Concerttheorie“, sie widerspreche „dem Grundzweck der Liedertafel auf die schädlichste Weise“. Die Konzerttheorie als Schuldige? Eine merkwürdige Begründung! Was war da vorgefallen?
Die Liedertafel war 1829 von Studenten als geschlossene Gesellschaft ins Leben gerufen worden. Zweck des Vereins: Die Pflege niveauvoller Geselligkeit durch Gesang. Deshalb trafen sich die Sänger mit ihrem Dirigenten Silcher außer zu wöchentlichen Proben zusätzlich jeden Freitagabend zum gemeinsamen Singen im Museum, dem neuen Tübinger Gesellschaftshaus.
Natürlich benötigte der Verein auch Geld, und so gab es neben der aktiven Mitgliedschaft auch eine passive. Diese Mitglieder – Studenten, Professoren und gutbetuchte Stadtbürger – nannte man salopp „die Heizer“, denn mit ihren Beiträgen wurde u. a. das Heizmaterial für den im Museum benutzten Raum berappt.
Unterstützung war wichtig
Aber nicht nur den Saal im Museum galt es, sich warm zu halten, auch die Heizer selbst. Deshalb kam man dem Wunsch der passiven Mitglieder nach, etwas von den „Productionen“ des Chors hören zu dürfen. Einmal im Monat waren sie bei einer „offenen Liedertafel“ zugelassen.
Die Offenen Liedertafeln sahen zunächst so aus: Die Herren Studenten saßen gemütlich mitten im Saal an mit überschäumenden Biergläsern bestückten Tischen und sangen und tranken sich zu. Die Gäste dagegen saßen mucksmäuschenstill seitlich auf Bänken (und auf dem Trockenen).
Die Liedertäfler hatten bald mehr zu bieten als nur volkstümliches Liedgut. Man sang anspruchsvolle Chorlieder, Quartette und sogar Opernchöre. Die Zuhörer wiederum brachten ebenfalls bald mehr mit als nur Geld, nämlich eine ganz bestimmte Erwartungshaltung an diese Veranstaltungen.
Der Weg zum anspruchsvollen Konzert
Aus den singenden Studenten war mit der Zeit eine Art Künstlertruppe geworden, aus den Zaungästen ein anspruchsvolles Publikum und aus dem feucht-fröhlichen Singabend eine Konzertveranstaltung.
Da störte es nun auf einmal, dass der Liedvortrag im Rahmen einer geselligen Kneiperei präsentiert wurde. Man verbot den Sängern das Zechen – womit wir bei der eingangs beklagten „Concerttheorie“ wären.
Konzerte als eigenständige Form des reinen Kunstgenusses sind eine relativ junge Erscheinung. Bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde Musik meist im Rahmen (oder als Rahmen) kirchlicher oder höfischer Ereignisse präsentiert. Das änderte sich um 1800 mit dem neuen Kunstverständnis des Bildungsbürgertums.
Die Kunst, nun im Idealreich des Wahren, Schönen, Guten angesiedelt, sollte ohne störendes Drumherum und nur um ihrer selbst willen in vollständiger Reinheit ausgeführt und erlebt werden. Dafür baute man jetzt sogar eigene Musentempel wie z. B. Museen und Konzerthäuser.
In diesen heil´gen Hallen wird bis heute nach den damals eingeübten Ritualen und Rollenverteilungen Kunst praktiziert und konsumiert. Die Aufgabe der Musiker ist es seither, sich auf der Bühne ausschließlich der richtigen Interpretation eines Werks zu widmen, die Rolle der Hörer, sich im Saal andächtig schweigend und körperlich regungslos dem Reich der Töne hinzugeben.
Um 1832 hatte diese neue „Concert-theorie“ die Offene Liedertafel der Tübinger Studenten eingeholt. Konzertieren und dabei Zechen – ein No-Go! Damit war aber für die Sänger der ursprüngliche Spaßfaktor dieses Abends dahin.
Heute versucht man, neben dem fest etablierten alten Konzerttyp neue, offenere Aufführungsformen zu finden. Man möchte das Publikum und
die Interpreten aus der Starre ihrer seit zweihundert Jahren festgelegten Rollen erlösen.
Für den Tübinger Studentenchor fand man übrigens 1839 eine kleine (Er-)Lösung! Um die Stimmung der Sänger zu heben, genehmigte man ihnen den Alkoholgenuss während der Offenen Liedertafeln wieder. Allerdings mit einer Einschränkung: Das geräuschvolle Ritual des „Vor- und Nachtrinkens“ mit Gläsern blieb verboten, erlaubt war deshalb nur noch „Bouteillebier“ (Flaschenbier).