Wie man Potentiale der stimmbildnerischen Arbeit im Kinder- und Jugendchor erkennt und schult.
Stimmbildung gehört zu jeder Form von Chorarbeit! Dieser Satz dürfte wohl in unangetasteter Gültigkeit Bestand haben. Das obligatorische Warmup zu Beginn der Probe hat mittlerweile Einzug in den breiten Choralltag gehalten. Viele Chöre leisten sich mittlerweile eigene Stimmbildner oder bieten ihren Mitgliedern Workshop- und Fortbildungsformate zum Thema an. Wozu also noch ein Artikel? Vielleicht als Versuch, den Horizont stimmbildnerischen Handelns und die damit einhergehenden Potentiale noch ein wenig zu weiten und damit Lust auf mehr zu wecken – auch wenn hier nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Themenkomplex chorischer Stimmbildung angesprochen werden kann, der keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit erheben will.
Was aber ist eigentlich Stimmbildung im Chor? Ist das Thema mit dem eingangs beschriebenen Warmup zu Beginn der Probe erledigt? Wenn wir den Begriff im eigentlichen Wortsinn – nämlich „Stimme zu bilden“ – ernst nehmen, sicher nicht. Denn „Stimme bilden“ muss zwangsläufig mehr sein als die vokale Vorbereitung auf die bevorstehende Probe im Rahmen eines Einsingens.
Der Begriff „Stimm-Bildung“ impliziert eine Entwicklung vokaler Fähigkeiten. Ein Zugewinn an sängerischem Bewusstsein, das auf den angemessenen Umgang mit der eigenen Stimme abzielt, ein Zugewinn an klanglichen Möglichkeiten und damit auch ein Zugewinn an individuellem sängerischem und chorischem Potential.
Aus der Perspektive der chorleiterischen Verantwortung gegen-über den uns anvertrauten Sängern gewinnt der Begriff der Stimmbildung einen weiteren tragenden Aspekt. In dem Sinn, dass wir gerade bei Kindern und Jugendlichen unbedingt auch für einen stimmhygienischen, gesunden Zugang zum Singen in der Pflicht stehen, werden wir in unserer Rolle als Chorleiter – ob wir das nun wollen oder nicht – automatisch auch zu Stimmbildnern. Und dieser Verantwortung sollten wir mit Lust und Freude begegnen, liegt in ihr doch auch eine ungeheure Chance. Denn eine gesund geführte Stimme, die in einem lockeren und weiten Raum mit Spannung, aber ohne übermäßigen Druck frei agieren darf, wird bei aller Individualität mit Sicherheit eines tun: schön klingen!
Die stimmliche Gesunderhaltung unserer Sänger und die klangliche Entwicklung unseres Chores sind also zwei Seiten ein und derselben Medaille. Stimmhygiene und Klangqualität gehen Hand in Hand. Das eine kommt ohne das andere nicht zustande.
Doch wie sieht der vokal- und chorpädagogische Weg zum „gesunden Wohlklang“ aus? Was ist überhaupt gesund? Und mit Sicherheit am schwierigsten zu beantworten: was ist schön?
Ich möchte zunächst auf die Frage nach einem „gesunden“ Zugriff auf unsere Singstimme eingehen. Als gesund oder auch stimmhygienisch möchte ich einen Umgang mit der Stimme bezeichnen, der ihrer Physiologie und den damit einhergehenden Funktionsprinzipien entspricht. Wir müssen unserer Stimme in Sachen Druck, Spannung, Lockerheit, Raum und Weite mit großer Sensibilität begegnen. Und wir als Chorleiter sollten uns mit den grundlegenden Funktionsprinzipien des menschlichen Stimmorgans vertraut machen! Unsere Stimme unterliegt durch ihren Bau und ihre organische Beschaffenheit in ihrem Klingen logischen funktionalen Prinzipien. Sofern wir diese grundlegend verstanden haben, wird es uns auch besser möglich sein, stimmliche Schwierigkeiten in ihrer funktionalen Ursache logisch nachzuvollziehen, sie zu verstehen und ihnen im Rahmen eines angemessenen chorleiterischen Handelns zu begegnen.
Das Interesse an einem gesunden Singen macht auch klar, dass die stimmbildnerische Arbeit in der konkreten Situation der Chorprobe mit einem sensiblen und durchdachten Einsingen beginnt, mit diesem aber keinesfalls endet, liegen doch die eigentlichen Schwierigkeiten selten in den Stimmübungen des Warmups sondern eben gerade in den Stücken, mit denen wir uns nach dem Aufwärmen beschäftigen. Stimmbildnerisches Handeln erstreckt sich also unbedingt auf die Chorarbeit in ihrer Gesamtheit. Oder anders formuliert: Unser stimmbildnerischer Fokus und unsere stimmbildnerische Achtsamkeit begleiten uns als Chorleiter im Idealfall durch die ganze Probe.
In diesem Sinne sollten wir stimmbildnerisches Handeln innerhalb der chorischen Arbeit nicht als Klotz am Bein empfinden, als notwendiges Übel, das Zeit und Nerven kostet, ohne dabei einen direkten und zeitlich greifbaren Nutzen zu haben. Vielmehr sollte sich eine Symbiose zwischen dem Erarbeitungsprozess von Stücken und der Stimmpflege und Stimmentwicklung unserer Sängerinnen und Sänger entwickeln. Im Folgenden werden einige grundlegende Kategorien dieser Arbeit angesprochen. Sicher nicht als vollständige Darstellung der Möglichkeiten, sondern vielmehr als Impulsgeber zur weiteren, eigenständigen Ausein-andersetzung mit dem Thema.
Der Klang
Gerade im Kinder-, aber auch im Jugendchor ist die Frage des gewünschten Klangs ein Balanceakt. Natürlich soll der Kinder-chor nicht zu grob und massiv klingen. Andererseits ist das vielerorts etablierte Postulat, dass Kinder eben hoch und leicht klingen sollen eine grobe Verkürzung dessen, was die Kinder- und Jugendstimme klanglich und an Farbreichtum zu bieten hat. In der konkreten Situation der Probe – zumindest
im Anfangsstadium von Kinderchören – sind wir oft mit zwei Antipoden von Klang konfrontiert, die sich entweder in einem etwas groben, leicht brüllig-brustigen, oft unsauberen Klang, oder auf der anderen Seite in einem ebenso wenig gewünschten, kaum tragfähigen und spannungslosen Säuseln der Kinder niederschlagen. Viele Kinder sind anfangs verbrustet, kommen mit einem stark eingeschränkten Ambitus in den Chor, können ihre Stimme in der Gruppe nur schwer koordinieren und haben Schwierigkeiten mit dem Treffen der Töne.
Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Und genauso sollten wir sie betrachten. Werfen wir hierfür zunächst einen Blick auf die musikalische Welt, in der unsere Kinder aufwachsen. Der Umgang mit Gesang und Stimme war in den vergangenen Jahrzehnten einem grundlegenden Wandel unterworfen. Während einerseits eine erfreuliche Zahl an Kinder- und Jugendchören neu gegründet wird, ist das kindliche Singen in der Breite, in Kindergarten, Schule, Kirche und Familie zumeist eher rückläufig. Singen zieht sich in Nischen zurück. Die Folge ist, dass wir in unseren Chören häufiger als früher völlig ungeübte Sänger aufnehmen, die das Singen als einerseits ganz natürlichen, anderseits aber eben auch hoch komplexen Vorgang tatsächlich erlernen müssen.
Ein anderer Grund liegt in den klanglichen Vorbildern, mit denen Kinder in ihrer akustischen Umwelt konfrontiert werden. Auch hier hat sich ein Wandel hin zu einem in der Jazz- und Popularmusik verorteten Klangideal vollzogen. Dieses liegt in der Regel tiefer und arbeitet am Ort der Klangerzeugung – im Kehlkopf – mit höheren Druckverhältnissen.
Meine Erfahrung ist aus genau diesen Gründen, dass Kinder oft erst erfahren müssen, wie eine Kinderstimme klingen kann. Dies liegt vor allem daran, dass sich Kinder die Welt vor allem durch Nachahmen aneignen. Die „Imitatio“ ist einer der wesentlichsten Mechanismen im kindlichen Lernen und in der kindlichen Persönlichkeitsbildung. Kinder wollen also auch in ihrem Singen wie ihre erwachsenen Vorbilder klingen. Dementsprechend imitiert kindliches Singen ganz selbstverständlich den Stimmklang, der als Vorbild zur Verfügung steht. Es ist falsch und wenig zielführend, die Klangkultur der modernen U-Musik grundsätzlich zu verteufeln. Es ist aber wichtig zu erkennen, dass sie als Vorbild
für das kindliche Singen und für die Physiologie der Kinderstimme wenig geeignet ist. Die Nachahmung von Gesangstechniken der Pop- und Rockmusik führt im Kehlkopf des Kindes zu Druckverhältnissen, die einen massereichen, eher tief verorteten, brustigen Stimmklang, der häufig im Grenzbereich unterhalb des zweiten Passagios (ungefähr um d„) gefangen bleibt, provoziert. Die Kinderstimme verliert Leichtigkeit. Und: die Kinderstimme verliert ihren natürlichen Ambitus. Wir müssen heute im Kinderchor also fast immer die glockig, helle Leichtigkeit die dem kindlichen Stimmklang eigentlich zu eigen ist, aufspüren, und im inneren Ohr der Kinder als ureigenste Klangmöglichkeit ihres Singens verankern.
Das Entdecken der eigenen vokalen Möglichkeiten im spielerischen Umgang mit Singen und Stimme ist hierbei ein wertvoller Ansatz. Vielfältiges Glissandieren in Verbindung mit musikbezogener Bewegung und Bildern, die einen leichten Zugriff auf die Stimme implizieren, sind wertvolle Anknüpfungspunkte. Kinder können so im Spiel die Klangvielfalt ihres Stimminstruments entdecken. Indem sie das Säuseln des Windes im Kornfeld, das leichte Fallen von Schneeflocken, den sachten Niederschlag von Nieselregen auf der Stirn, das leise Summen von Bienen imitieren, üben Kinder im Spiel einen leichten Zugriff auf ihr Stimmorgan, den sie im Alltag häufig verlernt haben. Als Chorleiter sollten wir diesen Lernprozess nicht zu früh in die festen Bahnen einer konkreten Melodie lenken wollen. Gerd Guglhör hat in seinem mittlerweile Schule bildenden Standardwerk zur chorischen Stimmbildung die wunderbare Idee entwickelt, sich auch in Erwachsenenchören über leichtes und ungezwungenes Glissandieren erst allmählich und mit großer Lockerheit und Leichtigkeit einem Singen auf konkreten Tonhöhen anzunähern.
Wichtig ist allerdings, dass im Rahmen der Erschließung des Kopfregisters auch dieser spielerische Umgang mit der Stimme qualifiziert angeleitet wird. Der Klang im Glissando muss bei einem locker geöffneten Unterkiefer leicht und mit flexibler Elastizität geführt werden. In dieser Leichtigkeit sollten wir die Kinderstimmen immer wieder deutlich über den Grenzbereich des zweiten Passagios (also über den Bereich um d„) hinweg führen. Damit fördern wir einen massearmen Schwingungsmodus der Stimmlipperänder. Dieser zeichnet sich durch Leichtigkeit, Schmiegsamkeit und vor allem Durchhörbarkeit aus und wird dem Kopfregister zugeordnet.
Soweit zur stimmphysiologischen Seite von Klang im Chor. Um diesen in der Gruppe zu etablieren sollten wir unsere Sänger unbedingt auch zu Hörenden erziehen. Ein schön geformter Chorklang kann vor allem dann entstehen, wenn das Singen aller Beteiligten aus einer engen Interaktion zwischen Ohr und Stimme resultiert und so jeder Sänger ein in Farbe, Intensität, Intonation und Volumen passendes Puzzleteil des Ganzen wird. Ein solch durchgehört sauberer Klang kann gerade im Anfang von Chor nur mit einem leichten Zugriff auf die Stimme gelingen. Gefragt ist hier also eine Form von Stimmklang, in dem jeder Singende auch Hörender sein kann. Vorstellungshilfen und Bilder wie die eines freundlich hörenden Staunens im Singen oder die des Empfangens von Klang (im
Fachjargon eigentlich Inalare la voce) erzeugen eine Wachheit, die dieser feinen Arbeit unbedingt zuträglich ist. An dieser Stelle sei auch kurz auf die Gefahr einer zu massiven Klavierbegleitung hingewiesen. Sänger in jeder Chorsituation können immer nur so sensibel mit der Stimme umgehen, wie dies ihre akustische Umgebung zulässt.
Unterschiedliche Vokale als Werkzeuge des Klangs
Wir sind also zunächst daran interessiert, in unserem Chor einen leichten und kopfigen Klang zu etablieren, der es uns nicht zuletzt ermöglicht, den vollen Umfang der Kinderstimme zu erschließen. Unsere Sprache, genauer die Palette unterschiedlicher Vokale, bietet uns hier die Möglichkeit, ganz konkret auf die Art der Klangerzeugung im Kehlkopf zuzugreifen. Hauptverantwortlich hierfür ist – verkürzt ausgedrückt – der Musculus vocalis. Dieser Muskel sitzt in der Stimmlippe und kann sich in die Schwingung derselben ein- oder ausblenden. Dabei reagiert er reflexartig auf die Menge an Luft, die von der Lunge kommend auf die Stimmritze (Glottis) trifft. Bei hoher Luftstromrate blendet sich der Vocalis also zunehmend in die Schwingung ein. Der Stimmklang wird massereicher, kräftiger und tendiert damit im Rahmen der Vollschwingung eher zum Brustregister. Bei niedriger Luftstromrate an der Stimmlippe hingegen blendet sich der Vocalis aus der Schwingung aus. Es kommt zur sogenannten Randschwingung. Das Ergebnis ist ein massearmer, sehr feiner Klang. Er wird dem Kopfregister zugeordnet.
Wir können (und müssen) die Schwingungsverhältnisse im Kehl-kopf einerseits durch die Führung unseres Sängeratems steuern. Andererseits bieten uns die unterschiedlichen Vokale einen wertvollen Schlüssel zu den unterschiedlichen Schwingungsformen/Registern unserer Stimme. Denn während die dunklen Vokale „u“ und „o“ mit einem sehr geringen Luftdruck arbeiten – und sich damit eher durch eine massearme leichte Schwingung auszeichnen – nimmt der Luftdruck an der Stimmlippe bei den Vokalen „a“, „e“ und „i“ zu. Vereinfacht gesagt tendieren die dunklen Vokale also eher zum Kopf-, die hellen Vokale eher zum Brustregister. Dies ist der Grund dafür, dass das „u“ weithin als der Kinderstimmbildungs-Vokal überhaupt bezeichnet wird (Was nicht bedeutet, dass die hellen Vokale nicht über ganz andere, ebenso wertvolle Qualitäten verfügen). Vertiefend darf ich an dieser Stelle das Kapitel zum Vokalausgleich in Andreas Mohrs „Handbuch der Kinderstimmbildung“ empfehlen. Die dunklen Vokale „u“ und „o“ innervieren also eine Tendenz zum Kopfregister und öffnen gleichzeitig einen weiten, lockeren Raum im Ansatzrohr. Damit bieten sie einen guten Einstieg in das kindliche Singen im Allgemeinen. Sie eignen sich aber auch dazu, zu Beginn der Probe im Rahmen des Einsingens eine gute Registermischung zu etablieren.
Dieser „schöne“ Klang läuft im Prozess der Probe permanent Gefahr, durch Schwierigkeiten in Text und Melodik allzu schnell wieder verloren zu gehen. Der Prozess der Stimm- und Klangbildung muss also über das Einsingen hinaus auch den Rest der Probe in vielfältiger Weise durchdringen. Eine Möglichkeit sind kleine Stimmbildungsbausteine, die auf den gesamten Verlauf der Probe verteilt sind, und den Sängern so immer wieder die Möglichkeit geben, sich losgelöst von den Schwierigkeiten eines Stückes ganz auf ihr Singen und ihren Klang zu konzentrieren.
Auch das Proben auf vielfältige Vokalisen (ganze Phrasen auf einen Vokal) bietet die Möglichkeit, die zu erarbeitenden Stücke zumindest in Sachen Text zunächst wesentlich zu entschärfen. Parameter wie Phrasierung und Legato lassen sich im Rahmen der Vokalise ebenfalls hervorragend trainieren.
Die Vokalise auf leichten Vokalen bietet auch einen guten Einstieg in die Mehrstimmigkeit – oder im bereits geformten Jugendchor einen vereinheitlichten Raum, in dem mehrstimmiges Singen sensibel und besonders rein ausgehört werden kann.
Der Atem…
…als Motor allen Singens bildet eine wesentliche Voraussetzung für alle Fragen von Klang und Registrierung der Stimme. Grundsätzlich bedarf Atem im Zusammenhang mit Singen immer der Sensibilisierung. Warum? Wir atmen unser ganzes Leben – und machen uns aus genau diesem Grund in der Regel selten Gedanken darüber, wie Atem funktioniert, wie man ihn beeinflussen kann, wie er sich anfühlen kann. Die Atemvorgänge zu beobachten und fühlend wahrzunehmen ist für die meisten Kinder und auch für viele Jugendliche eine völlig neue Erfahrung. Aus dem Themenkomplex der Atmung möchte ich stellvertretend drei Problemstellungen herausgreifen:
• Vollpumpen. Der Sänger überatmet. Die Folge ist ein Überangebot an Luft, das unkontrolliert auf die Stimmlippe trifft. Ein kontrollierter Stimmansatz – und infolge dessen eine ordentliche Koordination der Stimmregister – wird durch zu großen Druck erschwert.
• Die Hochatmung verfestigt die oberen Atemmuskulaturen und die Einhängemuskulatur des Kehlkopfs.
• Kurzatmigkeit: Die Sänger sind nicht in der Lage, einen längeren stabilen Luftstrom zur Phrasenbildung zu erzeugen (Atembalance).
Wir wollen also erreichen, dass unsere Sänger im so genannten sängerischen Atem die Muskulaturen nutzen, die originär für die Atmung bestimmt sind (Tiefatmung – Costo-abdominal-Atmung). Dies ermöglicht einerseits, den für das Singen wesentlichen Vorgang der Ausatmung über eben diese Muskeln (insbesondere Zwerchfell) zu kontrollieren und sensibel den Bedürfnissen des Stimmorgans anzupassen. Gleichzeitig ist die Tiefatmung weniger anfällig für Verspannungen im Schulter- und Halsbereich und trägt somit doppelt zur Stimmhygiene bei. Eine erschöpfende Behandlung des sängerischen Atems ist hier sicher nicht möglich. Deswegen möchte ich lediglich einige stichwortartige Impulse geben: Die Tiefatmung ist im Rahmen der chorischen Stimmbildung nur schwer zu etablieren. Es gibt aber ein Übungsrepertoire, das intuitiv unter Ausschluss der Schultern die Aktivität der unteren Atemmuskulaturen initiiert. Beispielhaft seien hier die Folgenden genannt:
• Beim Atmen mit locker hängenden Armen in eine Kniebeuge fallen. Mit einer langsamen Ausatmung auf „f“ langsam wieder in den normalen Stand wachsen.
• Beim Einatmen reflexartig seitlich die Arme heben (wie ein Regenschirm). Mit einer verlängerten Ausatemphase werden die Arme langsam wieder gesenkt.
• Über eine Verlängerung der Atempause wird Lufthunger aufgebaut. Ein Signal löst den Stau. Provoziert wird hiermit der sogenannte reflektorische Atem, der eigentlich den Idealfall von sängerischer Atmung darstellt.
• Vielfältige Übungen zur verlängerten Ausatmung, die auch durch eine atemtragende Gestik unterstützt werden können, fördern im Erzeugen eines konstanten Luftstroms das Potential zum Aussingen längerer Phrasen. Im Kinderchor sind die Möglichkeiten, diese Übungen auch an Spielideen zu knüpfen, fast unbegrenzt. Insofern sind Atemübungen immer auch motivierende und aktivierende Probenbausteine.
Grundsätzlich sollte jede Probe kleine Atembausteine enthalten. Zahlreiche weitere Bilder und Übungen finden sich in der gängigen Literatur.
Körperliche Aspekte – der Sänger als Sänger…
Stimmklang, -intensität, -farbe, Ausdruck – all diese Qualitäten sind rein technisch gesehen natürlich auch das Resultat von sängerischen Aspekten wie Registerkoordination, Atmung, Vokalfärbung und dergleichen mehr. Ob all das im Singen gelingt hängt aber ganz wesentlich auch davon ab, ob sich ein Sänger selbst als Sänger wahr- und ernst nimmt.
Nach außen hin drückt sich dieses Sänger-Sein zunächst einmal in der Haltung aus. Doch was ist eine gute Haltung für den Sänger? Zusammenfassend möchte ich hier als Ideal den Begriff der „gespannten Durchlässigkeit“ als Ziel benennen. Der Stand ist stabil, lässt dem Körper durch lockere Knie aber die nötige Elastizität. Rücken und Nacken verfügen über eine aufgerichtete Größe, ohne dabei überstreckt zu sein. Die Schultern hängen entspannt im Schlüsselbein und sind leicht geöffnet. Der Sänger ist gespannt, aber nicht überspannt. Dass eine solche Haltung eine körperliche Bereitschaft für Atem, Gesang und Stimme schafft ist uns allen bekannt. Das ist aber bei weitem nicht alles. Wer sich mit solcher äußerer Größe auf sein Singen und seine Stimme einlässt, der wird das mit einem völlig veränderten mentalen Fokus und einer anderen Wachheit tun. Haltung und Größe beeinflussen uns unbedingt in der Körperlichkeit unseres Singens. Wir sollten bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen unbedingt ein Bewusstsein hierfür schaffen. Druck oder Nörgeln nutzen hier wenig. In der Praxis gelingt dies häufig vor allem über das Lob derer, die es gerade richtig machen. In der Regel reicht ein Satz wie „…David sitzt heute einfach toll!“ um einen kleinen Ruck durch die Gruppe gehen zu lassen – und damit den Chorklang nachhaltig zu verändern.
Auch der Aspekt der Kieferöffnung hat mit Wachheit und Körperlichkeit zu tun. In der Fachliteratur wird er häufig kaum oder gar nicht erwähnt. In der Praxis ist das Thema Öffnung aber ein auf einen gähnig geweiteten Unterkiefer achten. Singen ist überhöhtes Sprechen. Dementsprechend müssen wir mit unseren Artikulatoren und vor allem mit der Öffnung unseres Mundes – insbesondere im Bereich des Mundrachens auf eine lockere Weite achten. Die vorne an den Lippen sichtbare Öffnung ist hierbei nur das Resultat eines locker geweiteten Rachens. Kindern hilft es besonders am Anfang, wenn dieser Raum immer wieder haptisch begriffen und kontrolliert wird. Eine gute Möglichkeit hierfür ist, die Wangentaschen mit zwei Fingern zwischen die Backenzähme zu schieben. Dies gelingt tatsächlich nur bei einem locker geöffneten Unterkiefer.
In der Praxis
Klang, Registerkoordination, Haltung, Atmung, Körperlichkeit, Vokalausgleich – damit sind nur wenige Aspekte des Singens benannt. Es erscheint utopisch all diese Dinge im Kinder- und Jugendchor einzufordern. Und doch ist es möglich und dabei ungeheuer lohnenswert. Kinder und Jugendliche sind in der Lage mit ungeheurem Tempo zu erfassen und zu lernen. Sie verfügen über die erstaunliche Fähigkeit, technische Aspekte oder auch klangliche Qualitäten oft scheinbar völlig mühelos und intuitiv von einem vorbildhaften Modell zu lernen und zu übernehmen.
Die Entwicklungsfähigkeit eines Kinder- und Jugendchores ist ungeheuerlich und endet nicht selten erst da, wo der Chorleiter ihr mit seiner eigenen Vorstellungskraft eine Grenze setzt. Hier liegt sicher auch ein besonderer Reiz in der chorischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Die Arbeit mit Ihnen zeichnet sich in der Regel durch eine große Offenheit gegenüber Neuem aus. Hemmschwellen, denen wir manchmal bei Erwachsenen begegnen, liegen in Kinder- und Jugendchören viel niedriger oder existieren gar nicht. Das eröffnet uns in unserem stimmbildnerischen Handeln einen weiten Horizont der Möglichkeiten.
Diese Arbeit erfordert vom Chorleiter neben einem großen Methodenrepertoire auch Geduld. Vor allem in der Liederbearbeitung oder in der Arbeit an Stücken gehen bereits gewonnene Qualitäten, die sich in einem schönen Klang, guter Intonation, einem klaren Umgang mit Sprache oder einheitlicher Farbe und dergleichen mehr niederschlagen, auch immer wieder verloren. Umso wichtiger ist es, dass wir den gesamten Prozess der Chorarbeit als einen Raum begreifen, in dem alle Musik auch zum Objekt stimmbildnerischer Arbeit werden kann. Dies kann in Form von vielfältigen Vokalisen, kleinen, aus Stücken abgeleiteten Übungsbausteinen, körperbetonten Übungen, unterstützender Gestik, konkreten Übungen zu Stimmklang, Haltung, Öffnung von Räumen und noch viel mehr geschehen.
Die Ursachen für Probleme im Chorklang aufzuspüren, sie konkret zu benennen und nach Lösungsansätzen zu suchen ist zugegebenermaßen zeitintensiv. Sich zusammen mit seinem Chor auf einen Weg der Weiterentwicklung zu begeben, Fortschritte und Erfolge zu beobachten dafür aber umso beglückender. Der Mut zu einer Chorphilosophie, die über die Entwicklung des einzelnen Sängers an der Entwicklung des chorischen Potentials interessiert ist, wird in der Praxis durch eine Arbeitsform belohnt, die in ihrem Verlauf keinen Stillstand kennt. Eine solche Herangehensweise eröffnet vielmehr einen weiten Raum für die permanente Begegnung mit neuen Möglichkeiten in Klang und Gestaltung. Damit generiert sie ein spannendes Potential zur Weiterentwicklung von Sängern, von Chören – und nicht zuletzt auch von Chorleitern.
Robert Kopf
Robert Kopf studierte Schulmusik, Kirchenmusik und Dirigieren/Chorleitung. Lehrtätigkeiten übt er am Spohngymnasium Ravensburg, an der Musikhochschule Trossingen, an der Hochschule des Saarlandes, an Studienseminaren und bei mehreren Chorverbänden aus. Als künstlerischer Leiter der Rottweiler Münstersängerknaben war er von 2012 bis 2016 für einen der ältesten Knabenchöre Deutschlands verantwortlich. Seit 2016 leitet er die Domsingknaben Rottenburg als Kantor.