Wie wichtig ein breitgefächertes Angebot im Verein wichtig für die Zukunftsfähigkeit ist.
„Wir haben ja bei uns im Gemischten Chor schon Probleme jüngere SängerInnen (also jünger als 50 Jahre) zu bekommen. Und dann sollen wir uns einen Kinderchor oder gar einen Jugendchor „zulegen“ ? Die kosten ja nur und von denen kommt ja dann eh keiner zu uns zum Singen.“
So oder so ähnlich hört man häufig Gegenargumente zur Jugendarbeit im Verein. Aber genau das ist der fatale Irrtum. Die Vereinslandschaft hat sich in den letzten 40 Jahren stark verändert. Es ist immer weniger selbstverständlich, dass die eigenen Kinder den Eltern in den Gesangverein nachfolgen und so das Bestehen des Chores sichern. Vielmehr hat sich in dieser Zeit sowohl das Freizeitangebot für Kinder und
Jugendliche wie auch für Erwachsene stetig erhöht. Ebenso steht es um die Mobilität und Flexibilität. Das bedeutet: Der örtliche Gesangverein konkurriert nicht nur mit dem örtlichen Sportverein um Mitglieder, sondern mit allen Vereinen, kommerziellen Angeboten, Musikschulen etc. in einem Umkreis von mindestens 15 Kilometern.
Doch wie können Vereine so weiter bestehen? Es empfiehlt sich hier ein Blick zu den Profis in der Wirtschaft zu werfen. Wie schaffen Unternehmen eine langfristige Kundenbindung? Sie versuchen ihre Kunden möglichst früh mit attraktiven Angeboten anzusprechen – sei es z. B. ein Sparbuch zur Konfirmation, eine günstige Schülerversion einer Software oder ein Studierendentarif bei Versicherungen. Das zweite wichtige Instrument zur langfristigen Kundenbindung ist die gezielte Ausrichtung auf die Lebensumstände der Kunden, d. h. dass ich für sie zu jedem Zeitpunkt in ihrem Leben das passende Angebot habe.
Diese Ausrichtung lässt sich sehr einfach auf einen Verein übertragen. Zum ersten müssen die Kinder früh abgeholt werden, spätestens in der ersten Klasse, besser noch schon im Kindergarten: D. h. ohne Kinderchor besteht überhaupt keine Möglichkeit, die Kinder früh für das Singen zu begeistern. Und zweitens muss es im Verein für jedes Lebensalter ein Angebot geben. Hier ein Beispiel: Eine 13-jährige Sängerin fühlt sich im Kinderchor nicht mehr wohl, weil sie denkt, sie ist zu alt dafür. Für den Gemischten Erwachsenenchor ist sie aber noch zu jung. Um also dieser Sängerin etwas Adäquates zu bieten, braucht der Verein einen Jugendchor, in dem sich die Sängerin bis Mitte 20 wohl fühlt. Wenn dann optimalerweise der Gemischte Chor bei Mitte 20 beginnt, kann sie dann später nahtlos in diesen überwechseln.
Ein richtiger Weg: Kinderchor, Jugendchor, Gemischter Chor
Der Verein, der vor 30/40 Jahren einen Kinderchor gegründet hat, der dann in einen Jugendchor überging, und es geschafft hat diese beiden Chöre gut zu pflegen, sollte sich also heute über einen stetigen Zustrom von Mitte 20-jährigen Sängerinnen und Sängern mit über zehn jähriger Chorerfahrung im Gemischten Chor freuen dürfen. Diejenigen Vereine, die diese Entwicklung verschlafen haben, stehen heute mit einem Chor da, in dem die jüngsten Sänger zwischen 50 und 60 Jahre alt sind, weil schon seit Jahrzehnten kein Nachwuchs mehr gefunden wurde. Daran wird sich auch in den nächsten 20 Jahren nichts ändern, wenn nicht massiv gegengesteuert wird.
Deswegen muss ein Verein, der auch in Zukunft bestehen will, für jede Altersgruppe etwas anbieten. Das Mindeste ist:
• ein Kinderchor von der ersten bis zur fünften Klasse
• ein Jugendchor ab der 6. Klasse bis 27 Jahren
• ein gemischter Chor ab Mitte 20
So ein Verein liefert sich für Jugendchor und Gemischten Chor selbst den Nachwuchs, wenn er intensiv Werbung für den Kinderchor betreibt. Dieses System ist auch durch Weggang zum Studium etc. nicht bedroht, da einige junge Menschen bleiben oder zurückkommen, und durch die Mitgliederstruktur mit allen Altersgruppen es für andere junge Menschen auch attraktiver ist, in diesen Verein einzutreten. Natürlich bleibt nicht jeder, der als Kind anfängt, bis ins hohe Alter beim Singen, in Wirklichkeit ist die Altersstruktur eine Pyramide, aber durch die größere Altersspanne im Jugendchor und die noch größere Altersspanne im Gemischten Chor wird die verringerte Jahrgangsgröße aufgefangen, so dass die Größe aller Chöre des Vereins über Jahre stabil bleibt.
Dieses Minimalmodel lässt sich je nach Gegebenheiten jederzeit erweitern, z. B. durch die Zwergenmusik für 18 bis 36 Monate alte Kinder mit einem Elternteil, über den Liedergarten für die Drei- bis Fünfjährigen. Der Kinderchor ließe sich noch um einen Vorchor erweitern und in verschiedene Altersgruppen aufteilen, so dass man den Jugendchor auch erst mit 14 Jahren beginnen lassen könnte. Auch wäre als Anschluss an den anspruchsvollen und leistungsbereiten Gemischten Chor ein „Second-Time“-Chor denkbar, in dem mehr die Gemeinschaft und der Spaß am Singen im Vordergrund stehen, so dass auch diejenigen ein Angebot im Verein haben, die nicht mehr so viel Kraft und Zeit in das Singen investieren wollen oder können.
Gibt es eine Alternative zur Jugendarbeit, um einen Verein zu erhalten? Man könnte einen Jungen Chor mit anderem Liedgut gründen, um den Verein für junge Menschen attraktiv zu machen. Das ist sicher mit einigem Aufwand möglich. Nur ist der Junge Chor, der heute aus 25- bis 50-Jährigen besteht, in 25 Jahren auch zwischen 50 und 75 Jahre alt, wenn nicht in Nachwuchs aus eigener Jugendarbeit investiert wird. Somit kommt ein Verein, der eine langfristige, gute musikalische Arbeit anstrebt, nicht um Jugendarbeit herum.
Sie wollen ihre Zukunft sichern? Ein Beispiel aus der Praxis.
Was ist ein Jugendchor: Laut Jugendordnung der Chorjugend im Schwäbischen Chorverband ist ein Jugendchor ein Chor „mit überwiegend Sängerinnen und Sängern über 14 Jahren bis höchstens 27 Jahren“ (§1a). Da die Sänger zwischen 14 und 27 Jahren zum großen Teil ihre Mutation schon hinter sich haben, sind – im besten Fall – bereits alle Stimmen vertreten. Das heißt also: Ein Jugendchor ist ein Gemischter Chor mit 14 bis 27 Jahre alten Mitgliedern.
Soweit die Definition. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? Was muss ich dafür tun, damit mein Jugendchor funktioniert, wie muss ich ihn ausrichten, wie verwalten? Auf diese Frage gibt es sicher keine allgemeingültige Antwort. Deswegen ist es am sinnvollsten ein funktionierendes Beispiel heranzuziehen, das gut auf andere Situationen übertragbar ist. Einiges von diesem Beispiel kann sicher als Grundvoraussetzung für einen funktionierenden Jugendchor angenommen werden, das meiste zumindest als Ideengeber.
Als Beispiel dient der Jugendchor des Liederkranz Albeck 1900 e. V. Albeck ist ein Dorf mit ca. 1.360 Einwohnern in der Nähe von Ulm. Der Liederkranz hat im Jahr 1978 einen Kinderchor gegründet, aus diesem heraus entwickelte sich dann 1986 zusätzlich auch noch ein Jugendchor. Heute besteht der Jugendchor aus 20 Sängerinnen und sieben Sängern. Davon sind 19 aus dem Kinderchor gekommen, weitere acht sind Freunde oder Geschwister von Sängerinnen aus dem Kinderchor. Die wichtigste Grundlage des Jugendchores ist der zugehörige Kinderchor. Die Größe des Jugendchores schwankte in den letzten zwei Jahrzenten zwischen 20 und 50 Mitgliedern. Wobei er die Schwankungen der Kinderchorgröße um fünf Jahre verzögert aufnahm, was nicht verwunderlich ist und noch einmal den Kinderchor als wichtige Grundvoraussetzung des Jugendchores unterstreicht. Der Jugendchor geht von Klasse 6 bis ungefähr 27 Jahre. Selten bleibt eine Sängerin auch noch mit 28 und 29 Jahren im Jugendchor. Die Besetzung des Liedgutes schwankt je nach Anzahl der Jungs zwischen SSAB über SAB bis zu SATB. Die Probe findet freitags von 20 bis 21:30 Uhr statt. Das bringt einige Vorteile mit sich. Zum einen ermöglicht es die späte Zeit auch berufstätigen Mittzwanzigern noch mitzusingen, zum anderen ist es für die Jüngeren möglich, zu dieser späten Zeit dabei zu sein, da sie am nächsten Tag nicht in die Schule müssen. Außerdem können dadurch diejenigen, die zum Studieren weggezogen sind, trotzdem noch mitproben, wenn sie am Wochenende heimkommen. Der Probentermin ist also sicher mit ein Grund, dass die Altersstruktur relativ gleichmäßig über die ganze Altersspanne verteilt ist. Das ist auch nötig für die Funktionsweise des Chores.
Der Chor gehört zwar neben dem Kinderchor und dem Gemischten Chor mit zum Liederkranz Albeck, verwaltet sich aber unter diesem Dach eigenständig. Das heißt, es gibt einen gewählten Jugendchorausschuss mit eigener Kasse, der die Jugendabteilung verwaltet und betreibt. Zu den regelmäßigen jährlichen Aktivitäten gehört ein eigenes Jahreskonzert zusammen mit dem Kinderchor und auch das dörfliche Adventssingen, das vom Jugendchor in Eigenregie ausgerichtet wird. Aber auch das Probenwochenende, Notenbeschaffung oder Chorkleidung wird ausschließlich vom Jugendchor durchgeführt. Das bedeutet, dass die Jugendlichen selbst verantwortlich für ihren Chor sind. Das heißt, dass sie langsam in Positionen mit Verantwortung hineinwachsen können, sich aber auch ausprobieren können, unkonventionelle oder neue Ideen entwickeln und somit auch den Gesamtverein beweglich halten. Gleichzeitig identifizieren sich die jungen Menschen aber auch sehr stark mit diesem Chor, weil sie darin ihre Ideen verwirklichen können.
Diese Identifikation ist mit ein Grund für die langjährige Treue zum Chor. Ein zweite wichtige Säule für das Funktionieren des Jugendchores ist die Gemeinschaft im Chor. Eigentlich passiert im Alter zwischen 12 und 27 Jahren sehr viel im Leben und ein 12-jähriger Schüler hat nur wenig gemeinsam mit einer 27-Jährigen, die fest im Berufsleben steht. Trotzdem erlebe ich immer wieder, wie alle durch das Singen und die Chorgemeinschaft verbunden sind. Daher ist es wichtig diese Chorgemeinschaft zu pflegen. Ein unverzichtbares Mittel dafür ist das jährliche „Probenwochenende“ von Donnerstag bis Sonntag in den Osterferien. Weiterhin gehören hierzu aber auch das Zusammensitzen nach Chorproben oder gemeinsame Ausflüge etc. Nicht zu unterschätzen sind hier auch große Events, wie es z. B. das Chorfest in Stuttgart war. Daran auch über mehrer Tage teilzunehmen bleibt im Gedächtnis und verbindet auch noch nach Jahren die Zeit im Jugendchor mit positiven und erlebnisreichen Erinnerungen.
Die dritte Säule ist die Qualität. Die Sängerinnen und Sänger im Jugendchor wollen und müssen gefordert werden. Nur so können sie ihr Hobby, das Singen im Chor, auch vertreten. Die Hörgewohnheiten der meisten Jugendlichen liegen im Bereich der Popmusik und das wollen sie dann auch gerne im Chor singen. Deswegen kommt ein großer Teil des Repertoires des Jugendchores aus diesem Genre. Trotzdem ist es gerade im Jugendchor wichtig, die ganze Bandbreite der Chormusik kennenzulernen. Neben qualitativ guter Popmusik dürfen und müssen ebenso Volkslieder, oder ein romantischer Brahmssatz zu finden sein. Die Literaturauswahl sollte geistliche und weltliche Musik gleichermaßen umfassen. Wo sonst, wenn nicht im Jugendchor können Jugendliche mit Musik in Berührung kommen, die sie bisher noch nicht kannten. Und über den Anspruch an Qualität ist das auch problemlos an den Jugendchor heran zutragen, denn die Jugendlichen wollen Leistung zeigen.
Diese drei Säulen bilden die Grundlage für das Gelingen eines Jugendchores. Aber das Ganze ist kein Selbstläufer, man muss viel Arbeit investieren und gerade auch in Phasen, in denen es gut läuft viel Werbung machen, viel investieren, damit das Fortbestehen gesichert ist.
Auch darf man sich nicht der Illusion hingeben, dass ein neu gegründeter Kinder-chor schnell Früchte trägt. Man braucht dazu einen langen Atem und sollte schon in Zeiträumen von 10 bis 20 Jahren denken. Deshalb ist es geraten so schnell wie möglich mit der Jugendarbeit zu beginnen.
Andreas Schulz