Ein Verein, der zukunftsfähig sein will, ist offen für die Menschen
Rund 600.000 Vereine gibt es derzeit in Deutschland. Schon diese schiere Masse ist Beweis für die Bedeutung dieser Rechtsform.
Zugleich sind die Klagen über den Verlust der Vereinskultur laut.
Beim Begriff „Verein“ denken die meisten wohl zuallererst an eine – oftmals gesellige – Freizeitgestaltung. In Vereinen treffen sich
Menschen regelmäßig, um ihren Hobbys nachzugehen und Gleichgesinnte zu treffen. Ist es also eine überwiegend
private Angelegenheit? Keineswegs.
Vereine stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt
„Vereine haben die wichtige Funktion, jenseits von Staat und Familie, eine soziale und kulturelle Struktur und gesellschaftlichen Zusam-
menhalt zu schaffen.“, sagt Prof. Dr. Thomas Klie im Interview mit der Zeitschrift SINGEN. Klie ist der Leiter des Zentrums für Zivilgesellschaftliche Entwicklung (ZZE) in Berlin und Freiburg. Das ZZE ist seit 1996 in Forschung und (Politik-)Beratung national und international tätig. Es unterstützt und berät staatliche und nichtstaatliche Akteure. Thomas Klie ist zudem Vorsitzender der Sachverständigenkommission für den zweiten Engagementbericht der Bundesregierung, der 2017 veröffentlicht wurde.
„Vereine bereichern“, so Thomas Klie weiter, „das soziale, kulturelle und sportliche Leben in Deutschland. Sie zeigen die Vielfalt, aber auch Potentiale der Gesellschaft.“ Das reiche Vereinsleben ist also ein Beweis dafür, dass Menschen sich nicht nur für ihre eigenen, sondern auch die Interessen anderer oder der Umwelt, der Kultur, der Menschenrechte einsetzen.
Triebfeder demokratischer Prozesse
Das Vereinswesen in Deutschland ist fest mit der Geschichte und Entwicklung der Demokratie hierzulande verbunden. Im 19. Jahrhundert waren insbesondere die neu entstehenden Gesangs- und Turnvereine wichtige Orte der Begegnung und der Meinungsbildung. Sie boten politisch interessierten Menschen Schutzraum und Sprachrohr zugleich.
Die Vereine sind Ausdruck der sehr ausgeprägten und unterschiedlichen örtlichen Kultur und Tradition der Selbstorganisation von Bürgern. Im Rahmen der erst durch das Allgemeine Preußische Landrecht, dann das Grundgesetz garantierten Versammlungsfreiheit ist der Verein eine sehr einfach zu bedienende Rechtsform. Annette Zimmer schreibt in ihrem Grundlagenwerk „Vereine – Zivilgesellschaft konkret“, dass Vereinen
als „Teil der Zivilgesellschaft […] zentrale demokratische Implikationen zugeschrieben“ werden.
Mitglieder first
Die demokratische Kraft von Vereinen rührt insbesondere daher, dass die Mitglieder die höchste Entscheidungsgewalt haben. Alle Entscheidungen und Vorgaben obliegen zuerst der Versammlung der Mitglieder, die diese dann an Gremien und einzelne Engagierte delegie-ren. Thomas Klie ist daher überzeugt, dass man in Vereinen lernen kann, wie Demokratie funktioniert und er sieht sie als „die ganz wesentlichen kleinen Zellen einer lebendigen und auf Zusammenhalt ausgerichteten Gesellschaft“.
In Vereinen wachsen Menschen regelmäßig und oftmals ganz automatisch in Verantwortung und verantwortliche Positionen hinein. Für den Leiter des ZZE hat dies sehr viel mit Bildung zu tun. „Also Engagement vom Kindergarten bis in die Schulen hinein, als etwas, das für die weitere Lebensführung und den gesellschaftlichen Zusammenhalt ausgesprochen bedeutsam ist“, so Klie.
Der Verein als Übungsplatz für mündiges Denken
Damit Vereine funktionieren und weiterhin existieren, muss es attraktiv bleiben, in Verantwortungsrollen hineinzuwachsen. Für den Engagementforscher Klie ist dies insbesondere eine Frage der Vereinskultur und der Leitung des Vereins. Wichtig ist, dass „man hier nicht auf Konsum alleine setzt – denn das kann man sich woanders holen – sondern, dass man vermittelt, wie wichtig es ist, dass Bürgerinnen und Bürger sich selbst organisieren“. Die Ausrichtung auf den reinen Konsum von Freizeitdienstleistungen macht die Nutzer der Vereinsangebote letztlich selbst zum Produkt und ihre gemeinsamen Angebote austauschbar. Die Erfahrungen einer scheinbaren Kostenlos-Kultur im Internet verführt dazu, auch Vereinsangebote als Produkt zu sehen, das günstig zu haben ist. Klie ist besorgt, dass „die Jugend auch verdammt unkritisch“ damit ist. „Die ganze Smartphonennutzung offenbart das gesamte Verhalten von privaten Kontakten bis zum Konsum-Verhalten, und wenn ich diese Daten über kostenlose Inanspruchsnahme nutze, mache ich mich zum Produkt. Damit verlieren wir zentrale unternehmerische und demokratische Tugenden.“
Damit Verantwortungsrollen attraktiv bleiben, braucht es im Verein eine Kultur des Mitmachens und des Wechsels. Dazu gehört auch, dass Ältere im Verein Ämter freimachen. Viele Vereine sind klassischer Weise sehr bürokratisch organisiert. Das ist für junge Leute oft wenig attraktiv. Thomas Klie sieht da „noch viel Luft nach oben“.
Die Meinungsfreiheit und Selbstorganisation in Gefahr
Das Ehrenamt steht aktuell vor der Heraus-
forderung, dass das Engagement lebenslauf-
und lebensphasenbezogen je unterschiedliche Bedeutung hat. Dadurch gewinnen kurz-
fristige Engagements mit hoher Selbstwirk-
samkeitserfahrung an Bedeutung. Das Enga-
gement junger Menschen ist häufig explo-
rativ. Sie erforschen durch freiwilliges Enga-
gement sich selbst, ihre Interessen und die Wirkung in die Gesellschaft. Erwachsene engagieren sich häufiger auch langfristig. Dennoch hat das Engagement junger Men-
schen, ob im Verein, in der Kirche oder als Klassensprecher in der Schule, bedeutenden
Einfluss auf die spätere berufliche Karriere, das politische Engagement und den Lebens-
lauf. Daher lohnt es sich als Verein hier zu Zeit, Geld und Mut zur Veränderung zu in-
vestieren.
Damit Vereine zukunftsfähig bleiben, müs-
sen sie offen bleiben und sich an den The-
men orientieren, die die Menschen interes-
sieren, ist Engagementforscher Klie über-
zeugt. Moderne, zukunftsorientierte Vereine
sind offen für Kooperationen und den Blick über den Tellerrand. Vorallem aber ist er nachwuchsorientiert in seiner Haltung und seinen Aktivitäten.
„Der demokratische Raum für Meinungsbil-
dung und -äußerung ist in unseren Tagen wieder zunehmend in Gefahr geraten“, zeigt
sich Klie besorgt. Denn „wir leben in einer Gesellschaft, in der kritische Bürgerschaft nicht mehr überall in Europa erwünscht ist, schauen Sie in die Türkei oder nach Polen. Dort ist die Selbstorganisation von Bürger-
innen und Bürgern schlicht nicht mehr er-
laubt.“ Diese Orte und die Kultur der Diskus-
sion, des Streites und des Miteinanders zu gestalten und lebendig zu erhalten, ist dem-
nach eine zentrale Aufgabe von Vereinen.
Perspektive und Empfehlungen
Vereine sind eine tragende Säule des kultu-
rellen, sozialen und sportlichen Lebens und übernehmen zugleich zentrale Funktionen innerhalb einer demokratisch organisierten Gesellschaft. Ihre Selbstorganisation und Unabhängigkeit von staatlichen Stellen – finanziell, personell und organisatorisch – ist
im Alltag aufwendig und bisweilen anstren-
gend. Doch sie ist eine wichtige Stärke und Chance zugleich für die Vereine und die Zivilgesellschaft. Seit der deutschen Wieder-
vereinigung gibt es in Deutschland eine neue
Welle von Vereinsgründungen.
Thomas Klie interpretiert diese insbesondere als „Dynamik […], sich eigene Interessen zu eigen zu machen, ohne staatlich ver-
pflichtet zu werden und ökonomischen Nut-
zen zu verbinden“. Vereine müssen daran arbeiten einen gesellschaftlichen Kontext zu schaffen, der dieser Kultur Raum gibt. In Regionen, die unter strukturellen Problemen
leiden – hohe Arbeitslosigkeit, geringe Wirt-
schaftskraft und demographischer Druck –
nimmt die Aktivität von Vereinen und damit
das kulturelle Angebot ab. Die Gleichwertig-
keit der Lebensverhältnisse in Deutschland zu schaffen, ist daher eine zentrale Aufgabe
der Bundes- und Landespolitik. Denn Ver-
einsleben ist keine Privatangelegenheit, son-
dern ein zentraler Baustein, um das demo-
kratische Gefüge zu erhalten und mit Leben
zu füllen.