Das Singen im Chor fördert beruflich und gesellschaftlich relevante Kompetenzen
„Die Relevanz lebenslanger Lernprozesse, wie sie auch beim Singen im Amateur- oder Laienchor stattfinden, nimmt fortlaufend zu – dennoch scheitert bisher dessen gesellschaftliche und berufliche Anerkennung. Dabei ist dieser Lernprozess nicht nur quantitativ von Bedeutung, er stellt ebenso einen wichtigen Punkt in der Persönlichkeitsentwicklung und zur Lebensbewältigung des Menschen dar: Er schafft Identität und setzt Normen, fördert Verantwortungsübernahme, Selbstwirksamkeit, psychische und physische Gesundheit und bietet ein soziales Umfeld – eine Gemeinschaft mit gemeinsamen Zielen, Normen und Werten.
Ein großes unerforschtes Thema
Bislang ist jedoch unerforscht, welche Kompetenzen das Chorsingen fördern kann. Trifft diese Freizeitgestaltung bei Kindern auf Begeisterung, so nimmt diese im Jugend- bis zum jungen Erwachsenenalter stark ab, später im Leben treten die Sänger wieder einem Chor bei. Die Pause im jungen Erwachsenenalter als Unterbrechung eines so bedeutenden Lernprozesses ist zwar bekannt, jedoch existieren lediglich Spekulationen über die Gründe, denen die Autorin in ihrer Untersuchung nachgegangen ist, um daraus Empfehlungen zur Reduktion dieses Phänomens abzuleiten. Im Rahmen dieser Fragebogenuntersuchung (n* = 55) an zwei Laienchören wurde außerdem den Fragen nachgegangen, welche Kompetenzen durch das gemeinsame Singen erworben und wie diese anerkannt werden können. Die Merkmale der Chöre wiesen Strukturen auf, die der gesamtdeutschen Chorlandschaft ähneln. So konnten die Probanden auf durchschnittlich 24 Jahre Chormitgliedschaft(en) zurückblicken. Im Vergleich zum ECTS-System der Hochschulen entspräche dies dem zeitlichen Umfang von einem Jahr Vollzeit-Studium. Insgesamt flossen knapp 1.300 Jahre an Chorerfahrungen in die Untersuchung ein. 2/3 schieden zwischenzeitlich aus dem Chorleben aus, meist im Bereich um 18 Jahre, gefolgt von durchschnittlich 22 Jahre Pause. Gründe sind dabei kaum in mangelndem Interesse zu suchen, vielmehr gab die Mehrheit der Probanden familiäre (ein Großteil der Chorsänger deutschlandweit sind Frauen) und ausbildungs-/studien-/berufsbezogene Gründe an, bei manchen war kein adäquater Chor in der Nähe. Durch diese Pausierungen fällt ein wichtiger Gegenpol zum Stress des Alltags weg.
Viel Zeit für das Hobby, viel Zeit zum Lernen
Unter den Probanden herrscht eine positive Einstellung und auch ein hohes Bewusstsein bezüglich lebenslangem Lernen im Chor vor,
es wurde sogar mehrheitlich die Bereitschaft zur Teilnahme an weiterführenden praktischen Lerneinheiten (Gesang und Notenlesen) angegeben. Sozial- und Selbstkompetenzen waren bei den meisten Probanden auf einem mindestens geringen bis mittleren Niveau vor-
handen, was im Vergleich zum Berufsleben einer zweijährigen abgeschlossenen Ausbildung entspricht (DQR**). Darüber hinaus fand sich
ein mit steigendem Kompetenzniveau abnehmender Anteil an Chorsängern mit einem dem Bachelor-Abschluss vergleichbaren Niveau.
Dies traf vor allem bei langjährigen Mitgliedern zu und lässt vermuten, dass das Chorsingen lebenslang zur Ausbildung dieser Kompetenzen beiträgt. Im Bereich der interkulturellen Kompetenzen eröffnete sich noch auszuschöpfendes Potential: So gaben Probanden an, dass sie zwar durch Liedtexte interkulturell lernen, kaum jedoch durch persönlichen Austausch. Gegenseitige Besuche und Treffen sowie Online-Kommunikation mit anderen Chören können Möglichkeiten bieten, diese Kompetenzart stärker auszuprägen. Kaum zehn Prozent der Probanden konnten ein Chorzertifikat beruflich anwenden, obwohl 44 Prozent der Ansicht sind, dass das Chorsingen im Berufsleben hilfreich ist/war.
WEge der Zukunftssicherung: Gemeinsames musizieren von Anfang an
In meiner Studie schlage ich vor allem drei wesentliche Wege für die Zukunft moderner Chöre vor: Zertifizierung, Flexibilisierung und
Digitalisierung: Junge Erwachsene könnten durch standardisierte und von Arbeitgebern anerkannte Zertifikate eine biografisch verwertbare Qualifikation erwerben, so zur Fortsetzung ihrer Chormitgliedschaft motiviert und vom teilweisen Verlust des sozialen Umfeldes bewahrt werden. Flexible Angebote wie Projektchöre, weniger strenge Anwesenheitspflichten, eine funktionierende Informationsweitergabe und Familien freundlichkeit stellen nur einige Optionen dar, jungen Erwachsenen das gemeinsame Singen zu ermöglichen. So sollten neben Probenzeiten auch die räumlichen Gegebenheiten daraufhin geprüft werden, ob Babies/Kinder an Proben teilnehmen können: Ein abgetrennter Bereich kann hier dazu dienen, dass sich Stillende Mütter oder spielende Kinder bei Bedarf zurückziehen können. Kinder lernen so selbst früh das gemeinsame Musizieren zu schätzen.
Und: Wer Studien zufolge schon als Kind im Chor war, singt meist sein ganzes Leben. Die interne Kommunikation lässt sich durch Digitalisierung schneller, umfangreicher und praktikabler gestalten, indem zum Beispiel 3D-Lernumgebungen Lernmaterial in Zukunft auch außerhalb fester Zeiten und Räume besonders Menschen in Ausbildung, der Phase der Familiengründung und mit kleinen Kindern Handlungsspielräume bieten können. Alternativ können Abwesende durch Mitschnitte von Proben und Newsletter auf dem Laufenden bleiben. Die Außendarstellung und Konzertwerbung sollten professionell, stets aktuell und modern (Social Media) gestaltet sein. Auch der Chor selbst profitiert durch die Förderung intergenerationalen Lernens und effizientere/geringere Akquisebemühungen.
Der Chorleiter hat eine Schlüsselposition inne
Chorleiter spielen durch ihre impulsgebende Position eine beeinflussende Rolle in ihrer Chorgemeinschaft. Dort treffen sie oft auf unterschiedlich ausgeprägte Kompetenzen. Sie können helfen, interkulturelle, Sozial- und Selbstkompetenzen der Mitglieder zu fördern,
indem sie durch Appelle, Übertragung organisatorischer Aufgaben, Anregung interkulturellen Austauschs und Vorschläge für ein abwechslungsreiches Repertoire aus verschiedenen Kulturen zu aktivem Handeln anregen, Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen, Gruppenkohäsion stärken und somit Lernprozesse initiieren. Dauerhaftes Proben in Frontalunterricht sollte durch abwechslungsreiche
Maßnahmen wie das Positionieren im Halbkreis, Durchmischen der Stimmlagen und Singen in/mit Bewegung, ohne Dirigat, a-cappella,
ohne Tonvorgabe oder mit geschlossenen Augen zur Förderung des gegenseitigen Aufeinanderhörens und Koordination von Bewegung
und Gesang ergänzt werden. Durch derartige Reize werden neue Erfahrungen, Interesse und Motivation begünstigt und damit neue Lernprozesse in Gang gesetzt. Ebenso können neue Zielsetzungen wirken: Konzerte an neuen, ungewöhnlichen Orten, Flashmobs, Aufnahmen (zur Eigenüberprüfung oder als Image-Werbung) oder die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern (Chören, Solisten, Schauspielern, Tänzern). Anknüpfend an die Erkenntnis der hohen Lernbereitschaft können Proben speziell zur Förderung gesanglicher Fähigkeiten und im Notenlesen angeboten oder in vorhandene Proben integriert werden.
Diese Ideen stehen im Chor festen, gewachsenen Strukturen und einem hohen Altersdurchschnitt gegenüber. Es ist deshalb davon auszugehen, dass Maßnahmen eher mittel- bis langfristig eingeplant werden sollten.
* Anzahl der Befragten
** Deutscher Qualifikationsrahmen