Zuweilen ist es schon erstaunlich, wie manche Gedanken und Texte sich durch das eigene Leben ziehen, wie sie in einem arbeiten, weiterdenken… So ging mir das z. B. mit Gryphius Sonett „Tränen des Vaterlandes“ oder Meyers Gedicht „Friede auf Erden“.
Das eine begegnete mir im Deutschunterricht in der Oberstufe des Gymnasiums, das andere während meiner Zeit bei den Stuttgarter Hymnuschorknaben in Arnold Schönbergs expressiver Vertonung. Und dann – Jahre später – begegnete man Aussagen wie denen Hans Küngs, man erlebte die Wende und den Zusammenbruch unzerstörbar geglaubter Ismen, gleichzeitig aber auch den Wiederaufstieg von Irrationalität und Fanatismus überall auf der Welt, wo man doch meinen sollte, die Menschheit habe mittlerweile genug gelernt…
Eine lange Genese
So arbeiteten diese Gedanken in mir und wollten sich irgendwann manifestieren, in Gestalt eines Werkes ins Leben treten. Indes: Ohne konkreten Anlass wird daraus nichts. Wer setzt sich schon hin und macht sich an eine mutmaßlich Jahre dauernde Arbeit einfach „ins Blaue“ hinein? Und dann fügt sich plötzlich eins ins andere, weil es offenbar doch „sein“ sollte: So war es dann 2009, als Ulrich Egerers zunächst noch gar nicht detaillierter Vorschlag eines „Oratoriums für den Frieden“ zur Initialzündung wurde und in kurzer Zeit das Werk vor meinem inneren Auge erstehen ließ – nicht sofort in konkreten Texten oder gar in Noten, aber doch in der Anlage und der beabsichtigten Aussage. Was dann folgte, waren zweieinhalb Jahre Arbeit, immer wieder mit Unterbrechungen, aber mit fortschreitender Zeit immer intensiver. 2011 konnte dann mit den Proben begonnen werden und im Frühjahr 2012 erfolgten dann die Uraufführungen in Ludwigsburg und Fellbach.
„Dona nobis pacem“ trägt nicht zufällig den Untertitel „ein Requiem“: Die Satzfolge dieses Werkes folgt der klassischen Einteilung der musikalischen Form des Requiems, der lateinischen Totenmesse: Introitus, Kyrie, Sequenz, Offertorium, Sanctus, Communio und Lux aeterna. Die Textauswahl geht jedoch über den üblichen Requiem-Text hinaus: Neben einzelnen liturgischen Passagen liegen dem Werk Gedichte sowie Texte aus den Heiligen Schriften verschiedener Religionen zu Grunde, die alle um das Thema „Frieden“ kreisen. Insofern steht dieses Werk bewusst in der Tradition von Brahms’ „Ein deutsches Requiem“, Brittens „War Requiem“ oder Jenkins’ „The Armed Man“.
Das Werk berührt
Der interkulturelle und interreligiöse Ansatz des Werkes spiegelt sich auch darin wieder, dass viele der ausgewählten Texte in der Originalsprache gesungen werden und dadurch, so hoffe ich zumindest, auch musikalisch unterschiedliche Ebenen berühren, weil jede Sprache eine ihr eigene Musikalität besitzt. So erklingen in dem Werk neben deutschen Textpassagen auch solche in Englisch, Französisch, Latein, Kirchenslawisch, Hebräisch, Arabisch und Sanskrit. Selbstverständlich ist das nur eine kleine Auswahl aus den Sprachen der Welt – dennoch hoffe ich, dass dadurch die Botschaft klar wird, dass wir alle Teil einer Menschheit sind.
Das Werk ist mit vier Gesangssolisten, gemischtem Chor, Kinderchor, Sinfonieorchester und Orgel besetzt. Wie bei Brittens „War Requiem“ wird der Kinderchor räumlich getrennt vom Rest des Ensembles bei der Orgel postiert – sozusagen „Gesang aus einer anderen Sphäre“. Sie treten jedoch immer wieder in direkten musikalischen Kontakt mit dem Rest des Ensembles.
Die Zeit zwischen den ersten Ideen zu dem Werk (2009) und der Uraufführung (2012) war eine „Wende“-Zeit: In der islamischen Welt weckte der „Arabische Frühling“ große Hoffnungen auf eine freiheitlich-demokratische Entwicklung und damit auch die Hoffnung auf eine allgemein größere Toleranz der Kulturen und Religionen untereinander. Insofern erschien damals das Werk, das Frieden, Aussöhnung und Verständigung zum Thema hat, besonders aktuell. Inzwischen, sechs Jahre später, müssen wir feststellen, dass jene Hoffnung damals einem barbarischen und zerstörerischen Hass weichen musste, der unzähligen Menschen Flucht oder Tod brachte und noch bringt. Und auch bei uns hat sich die hässliche Fratze von Nationalismus, Populismus und Hass auf Fremde oder auch nur anders Denkende wieder erhoben – wo wir doch glaubten, dass das in einer zivilisierten Welt eigentlich nicht mehr möglich sein sollte. Dadurch ist das Werk mit seiner Forderung nach Versöhnung und Toleranz heute sicher noch aktueller als zur Zeit seiner Uraufführung.
Ich freue mich daher sehr, dass der Schwäbische Chorverband die „Wieder“-Aufführung dieses Werks im Rahmen des Chorfestes 2019 in Heilbronn ermöglicht und damit auch ein politisches Zeichen setzt. Dafür habe ich allen Anlass zu danken. Mein Dank gilt ferner meinen mich unterstützenden Kollegen Ulrich Egerer aus Ludwigsburg und Steffen Utech aus Heilbronn und allen Mitwirkenden aus dem Robert-Mayer-Gymnasium Heilbronn, den Philharmonischen Chören Fellbach und Ludwigsburg sowie der Jungen Süddeutschen Philharmonie Esslingen.