Wie Amateurvereine in Deutschland zur Gestaltung des kulturellen Lebens beitragen.
Die Plattform adventsmusik-bw.de hat alle Erwartungen übertroffen. Innerhalb eines Monats kamen über 200 Veranstaltungen von Amateurmusikensembles zusammen. 31 Konzerte waren es allein am 1. Advent.
Die Aktion „b.-w.egen – b.-w.ahren – b.-w.irken – Adventsmusik im ganzen Land“ des Landesmusikverbandes Baden-Württemberg hat wieder mal eindrücklich gezeigt, wie vielfältig Ensembles und Vereine der Amateurmusik das kulturelle Leben bereichern. Im Folgenden werfen wir einen genaueren Blick auf die gesellschaftliche Bedeutung der Amateurmusik in Deutschland und Baden-Württemberg.
Über 120 Millionen Besucher in den Konzerten
Schon die zahlenmäßige Betrachtung der Amateurmusik macht ihre Bedeutung für die Gesellschaft deutlich. Über acht Prozent der deutschen Bevölkerung musizieren in ihrer Freizeit in einem, viele auch in mehreren, Vereinen. Allein die Chöre erreichen mit ihren rund 300.000 Konzerten im Jahr schätzungsweise rund 60 Millionen Menschen1. Zählt man hier noch die mindestens genauso große Zahl der Besucher von Instrumentalkonzerten hinzu, zeigt sich, welche Bedeutung die Amateurmusik für das kulturelle Leben und die Freizeitgestaltung hat. Gerade im ländlichen Raum sind die kulturellen Angebote durch öffentliche oder kommerzielle Träger häufig gering und schlecht zu erreichen. Dort sind es oftmals die Amateurorchester, die den ersten, für viele den einzigen Kontakt zum aktiven Musizieren herstellen. Gerade in diesen Regionen übernehmen die bürgerschaftlich engagierten Vereine Aufgaben, die in größeren Kommunen und Städten die öffentlichen Hand leistet. Diese Bedeutung wird mit den Sparzwängen der öffentlichen Haushalte und der sich weiter ausdifferenzierenden Bevölkerung eher zu – als abnehmen.
Selber aktiv statt nur als Gäste
Ensembles der Amateurmusik zeichnen sich vorallem dadurch aus, dass die Mitglieder selbst aktiv musizieren und vor Publikum auftreten. Neben der Versorgung mit Konzerten und damit Freizeitangeboten vor Ort hat das gemeinsame Musizieren noch weitere positive Auswirkungen, die in unterschiedlichen wissenschaftlichen Studien nachgewiesen wurden. Die Studien sind jedoch kritisch zu lesen, da zuweilen weitere Studien zu anderen Ergebnissen kommen oder die Ergebnisse nicht verallgemeinerbar sind. Eine einfache Verwertungslogik im Sinne „Singen macht gesund“ würde auch dem ganzheitlich und individuell fördernden Wesen des gemeinsamen Musizierens nicht gerecht.
Dennoch lassen sich als Summe der Studien und aus der persönlichen Wahrnehmung der meisten (Amateur-)Musiker insbesondere die positiven sozialen Effekte des gemeinsamen! Singens und Musizierens festhalten. Chöre und Musikvereine bilden innerhalb des sozialen Umfelds eine stabile, in der Regel vertrauensvolle und freundschaftliche, Struktur. Die Vereine engagieren sich nicht nur für die Musik, sondern für das Zusammenleben in der Gemeinde und oft mit hohem Einsatz und Kreativität für Mitglieder, die besondere Hilfe benötigen. Hier sei nur auf die zahlreichen Benefizkonzerte zugunsten Nachbarschaftshilfen, anderer Vereine oder schwerkranker Gemeindemitglieder verwiesen. Eine Darstellung der individuellen positiven Effekte würde den Rahmen hier sprengen – am wirkungsvollsten ist der Selbstversuch durch aktives Singen und Musizieren.
Kulturelle Bildung im ganzen Land
Bemerkenswert und oft zu wenig wahrgenommen ist, die bedeutende Rolle der Vereine im Bereich der musikalischen Ausbildung von jungen Menschen und auch Erwachsenen. Im instrumentalen Amateurmusizieren sind rund 50 Prozent der Vereinsmitglieder Kinder und Jugendliche, die in den Vereinen ihre Instrumente erlernen1. Die Regional-, Landes- und Bundesverbände bieten in ihren Akademien und freien Kursen ein durchgängiges Ausbildungssystem im musikalischen, pädagogischen sowie im kulturmanagerialen Bereich bis hin zu staatlichen Abschlussprüfungen an. Die Amateurmusik leistet daher einen wesentlichen Beitrag zur kulturellen Bildung und zur Professionalisierung im positivsten Sinne, insbesondere in strukturschwachen Regionen abseits der großen Zentren.
Gerade im Jugendbereich sind Amateurmusikensembles sehr aktiv und bieten neben der Ausbildung von Stimme oder Instrument auch zahlreiche weitergehende Veranstaltungen wie Freizeiten, Ausflüge oder Schulungen an, in denen Jugendliche sich sinnvoll beschäftigen können.
Diese enorme Bedeutung und Wirkung der Amateurmusik beschreibt auch 2007 der Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“2. Die Kommisson wurde 2003 eingesetzt, um die Situation der Kunst und Kultur in Deutschland zu durchdringen, sie darzustellen, den Handlungsbedarf festzustellen und Handlungsempfehlungen zu geben.
Hohe Motivation im Ehrenamt
Ein zentrales Erscheinungsbild der Amateurmusik ist der hohe Anteil an ehrenamtlicher Arbeit in den Vereinen und Ensembles vor Ort und bis zur Bundesebene. Nur dadurch ist es möglich, ein solch breites Angebot an kulturellen Aktivitäten bei einem vergleichsweise geringen Zuschuss an öffentlichen Finanzen und geringen Teilnehmergebühren zu schaffen2. Die Vereine bieten damit vielen Menschen die Möglichkeit, sich zu engagieren und ihren Lebensraum mitzugestalten. Gerade älteren Menschen im Ruhestand bietet das Ehrenamt in der Amateurmusik ein sinnstiftendes Element. Durch dieses gemeinsame Miteinander wird der Kontakt zwischen den Generationen und sozialen Schichten verstärkt und es trägt zu einem Zusammenwachsen der Gesellschaft bei. Das ehrenamtliche Engagement vieler Ensembles und Amateurmusiker beschränkt sich wie oben beschrieben nicht auf ihren Verein und die Musik.
Chöre kaufen Noten, Instrumente …
Nicht zu unterschätzen ist auch die Amateurmusik als Wirtschaftsfaktor. Amateurmusiker benötigen für die Ausübung ihres Hobbys Noten, Instrumente, Kleidung und weiteres Zubehör. Die Vereine sind Kunden bei Klavierbauern, Instrumentenbauern, Musikhäusern und Veranstaltungstechnikern. Die zahlreichen Konzerte führen zu Erträgen bei den Verwertungsgesellschaften und Gastronomen. Als Chorleiter und Dirigenten finden zahlreiche studierte Musiker einen Haupt- oder Nebenerwerb. Amateurmusiker sind darüber hinaus oftmals auch häufige Konzertbesucher in anderen Konzerten, z. B. kommerzieller Anbieter.
Durch die Ausbildung der Amateurmusik wird für die Konzert- und Musikwirtschaft hier ein fachkundiges, interessiertes Publikum geschaffen. Die wirtschaftliche und damit auch monetär existenzielle Bedeutung der Musik wie der gesamten Kultur- und Kreativwirtschaft hat in den vergangenen zehn Jahren enorm an Wahrnehmung gewonnen. Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist mittlerweile einer der größten Wirtschaftszweige in Deutschland und dementsprechend durch Förderprogramme und Lobbyarbeit vertreten.
Kulturelle Werte erhalten und beleben
Nicht zuletzt beim Erhalt kulturellen Erbes kommt der Amateurmusik eine große gesellschaftliche Bedeutung zu.2 Die vielen Ensembles vor Ort erhalten die in Deutschland einzigartige Tradition des gemeinsamen Musizierens in Vereinen. Dabei leisten sie immer wieder erstaunliches beim Erhalten und Wiederentdecken von Literatur. Insbesondere regionale Komponisten werden oftmals nur durch die Amateurmusik erhalten und somit als ein Teil der Geschichte bewahrt. Sie erhalten kulturelles Erbe und sind gleichzeitig Träger gegenwärtiger kultureller Entwicklung. Dies zeigt sich auch in der Aufnahme des Amateurmusizierens in Baden-Württemberg in das Bundesweite Verzeichnis Immateriellen Kulturerbes im vergangenen Jahr.
So engagiert sich der Schwäbische Chorverband seit 1912 beim Erhalt und der Weiterentwicklung des Silcher-Museums. Als anerkanntes Musikermuseum steht es dabei in Kontakt mit den großen Häusern zu Bach, Brahms und Beethoven. Neben dem Sängermuseum in Feuchtwangen ist es das einzige Museum in Deutschland, das darüber hinaus die bedeutsame Geschichte der Sängerbewegung in Deutschland bewahrt, aufarbeitet und erlebbar macht.
Silchers “Alle Jahre wieder” wurde sicherlich reichlich gehört und gesungen in den über 200 Konzerten der Amateurmusik im Advent.
Das Engagement, die Neugier und die Kreativität der Amateurmusikensembles machen Baden-Württemberg derart lebenswert. Und dies nicht nur im Advent, sondern auch in diesem neuen Jahr wieder.
Und den nächsten mindestens 1.000 Jahren Musikgeschichte.
1) http://miz.org/static_de/themenportale/einfuehrungstexte_pdf/06_Laienmusizieren/reimers.pdf
2) Deutscher Bundestag (2007): Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. Berlin. http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/16/070/1607000.pdf, 05.08.2013 12:20. Drucksache 16/7000.