„Seid gegrüßt, Gesangessöhne“
Das Remstal wurde nicht nur von Friedrich Silcher singend durchwandert: 2019 bietet viele Möglichkeiten, sich den Orten an der Rems musikalisch zu nähern.
Bis ins 20. Jahrhundert hinein war es üblich, zu allen möglichen Anlässen Gedichte zu schreiben, auch auf Chorfeste. Eine solche „Gelegenheitsdichtung“ ist der im Silcher-Museum ausgestellte „Sänger-Gruß“ des Justinus Kerner, den der Dichter 1851 extra für das Liederfest des Schwäbischen Chorverbands in der Neckarstadt verfasst hat.
Reim ist Pflicht
Eine Fete ohne Grußworte in Versform? Im 19. Jahrhundert undenkbar! Von der kleinen Vereinsfeier auf dem Land bis zum großen Sängerfest in der Metropole – als Lyrik verpackte Grüße und Lobreden gehörten einfach mit zum guten Ton. Schon auf dem ersten Sängerfest 1827 in Plochingen hat Sängervater Pfaff das, was ihn bewegte, in eigenen Versen vorgetragen, und so hat er es dreißig Jahre lang gehalten, auch noch als Präsident des Schwäbischen Chorverbands.
Mit eigens angefertigten Sprüchlein wurde der ankommende Gast bereits am Ortseingang empfangen, und so mancher hat sich später während des Festmahls beim Gastgeber mit Selbstgereimten revanchiert. Vom allgemeinen Lobpreis auf die hehre Kunst bis hin zum lobenden Dank an die Festordner und die Handwerker des Festhallenbaus – was vorgetragen wurde, sollte durch Versmaß und Reim veredelt sein!
Auf größeren Sängerfesten, z. B. 1845 in Würzburg, kamen da schnell mehrere Dutzend poetischer Ergüsse zusammen. In der Presse, wo sie veröffentlicht wurden, hieß es in Bezug auf ihre Qualität, sie seien doch immerhin „teilweise bemüht“ gewesen.
Jeder dichtet wie er kann
Viele Freunde der Kunst haben sich damals ungeniert auf den Pegasus geschwungen und „das teutsche Dichterross in allen Gangarten vorgeritten“. Oder sie haben die „alte Musenmähre“ – wie Schiller in einem Gedicht es ausdrückte – vor den Pflug gespannt, um mit ihr das steinige Feld der Poesie zu beackern.
Und wer selbst gar keine Verse schmieden konnte? Auf den wartete immer irgendwo ein für jeden Auftrag dankbarer Spitzweg-Poet. Der Germanist nennt diese Art der Dichtung „Casualpoesie“, der Kritiker schon mal „Lumpenzeug“.
Doch nicht alle Schöpfer von Sängergrüßen waren Dilettanten, wir finden auch namhafte Schriftsteller wie Gottfried Keller oder Gustav Schwab unter ihnen. Und einige dieser Poesien haben durchaus literarische Qualitäten, so z. B. das eingangs erwähnte Werk aus der Feder des Justinus Kerner.
Der damals schon weitgehend erblindete Dichter-Arzt war 1851 in Begleitung von Graf Alexander von Württemberg und Nikolaus Lenau von Weinsberg herüber nach Heilbronn gekommen, um beim Liederfest zuzuhören. Und zu hören bekam er viel! Wo immer er auftauchte, brachte man ihm ein Ständchen, oft mit seinen eigenen Werken.
Da erklang dann nicht nur sein „Reichster Fürst“ („Preisend mit viel schönen Reden“), Schwabens heimliche Landeshymne. Die Akademische Liedertafel z. B., die mit Silcher als Dirigent aus Tübingen angereist war, hat dem Dichter gleich mehrfach sein (von Silcher vertontes) „Klosterfräulein“ vorgetragen.
„Singt und eint durch Töne Herzen,
Welche Unnatur entzweit,
Singt und heilt durch Töne Schmerzen
Einer sorgenvollen Zeit.“
Kerner hat den Festgruß in der Heilbronner Lithographischen Anstalt des August Rostert zusammen mit einer hübschen Rahmenillustration von W. Menges auf grünes Papier drucken und vor Ort an die Sänger verteilen lassen. Die Illustration steckt – wie das Gedicht selbst – voller Naturmotive.
Junge Paare gondeln auf einem Schiff den Neckar entlang oder lagern musizierend am blühenden Ufer. Im wogenden Schilf singt eine Nixe zu Leierklängen ihr verführerisches Lied. Zwei Bäume, an denen sich Weinreben und blühende Windengewächse emporziehen und in denen sich musizierende Putten niedergelassen haben, flankieren die Strophen. Im oberen Bildfeld des Rahmens beschließen Engel (oder Genien) mit eine Lyra die Szene, umschwirrt von summenden Insekten und zwitschernden Vögeln.
Und die „Unnatur“, die Zivilisation? Sie ist in Gestalt der Heilbronner Stadtkulisse ans ferne andere Ufer gerückt.