Warum Musikvermittlung einen ganzheitlichen Ansatz braucht und auch vor erwachsenen Zuhörern keinen Halt macht.
Hans-Christoph Rademann ist nicht einfach der Leiter der Bachakademie Stuttgart, sondern vor allem deren künstlerischer Wegweiser. Im Interview mit der Zeitschrift SINGEN berichtet er über seine Ziele im Bereich der Musikvermittlung, und wie sich die Bachakademie in Zukunft orientieren möchte.
Was hat die Bachakademie dazu gebracht das Programm „BachBewegt!“ in dieser Form aufzulegen?
Naja, das ist vielleicht auch ein bisschen personenbezogen. Als ich damals zur Bachakademie gekommen bin, habe ich mich damit auseinandersetzen müssen, dass die Bachakademie eine doch sehr elitäre Veranstaltung ist – salopp ausdrückt. Den Grund dafür sehe ich darin, dass man glaubte, wenn man da dazu gehört, hat man Ahnung von der Musik. Das war, als wenn man so eine kleine Treppe gedanklich hoch läuft und dann ist man dabei, im Zirkel der Zuhörer, die etwas von Bach verstehen. Ich habe mir dann lange darüber Gedanken gemacht und kam zu dem Schluss, dass es vielleicht nicht mehr ganz zeitgemäß ist, dass man da so einen Sockel aufstellt. Diesen Gedanken habe ich weiterentwickelt: das müsste doch barrierefreier sein, es müsste also einen Zugang zur Bachakademie geben, so viel leichter, dass man keine große Hörerfahrung oder irgendwelche praktische Vorkenntnisse braucht. Ich habe mir gedacht, das Image müssen wir ändern. Wir müssen viel, viel mehr investieren in die Arbeit mit Jugendlichen, Schülern und den jungen Erwachsenen, aber auch Grundschülern, damit sie die Schönheit dieser Musik innerlich erleben können und quasi – wie der Titel schon sagt „BachBewegt!“ – von der Musik bewegt werden. Dabei handelt sich es ja nicht nur um Bach allein, sondern um seine Musik, die wir so wichtig und schön, aber auch für die Gesellschaft relevant finden. Das Projekt an sich kam dann durch viele Zufälle zustande. Zum einen gab es vorher schon das Projekt „BachBewegt!“ und das Tanz Community Projekt, die es mir sehr angetan hatten.
Zum zweiten hatte es familiäre Gründe. Meine Frau ist Tänzerin und hat schon sehr viele Projekte betreut, auch in Minden in Westfalen. Die Schuldirektorin von dort hat uns sehr zugeredet, so ein Projekt auch in Stuttgart aufzubauen. Das war der eigentliche Auslöser. Ich habe es dann an der Bachakademie vorgeschlagen, und darauf gepocht, dass man neue Wege gehen muss. Und es hat sich als Glücksfall für die Bachakademie erwiesen, dass wir das getan haben. Ich habe mir dann die Projekte angesehen, die schon gelaufen waren – wir waren ja hier geprägt in der Tradition von Friedhilde Trüün. Sie hatte hier an der Bachakademie ursprünglich angefangen mit ihrem Projekt „Sing Bach!“ und hat das quasi mitgenommen und ist damit jetzt unterwegs. Daher suchte ich nach einem Projekt, das sich davon unterscheidet, in der Hinsicht darauf, dass es viel besser wäre wenn man den Kindern den Originalklang vorspielt, also nichts mit Band oder mit Schlagwerk, sondern direkt die ganz wunderbaren alten Musikklänge. So haben wir ein neues Format entwickelt, das gut funktioniert: „BachBewegt! Singen“.
Da gab es jetzt schon viele Projekte, angefangen haben wir damals mit Bachs Magnificat. Ich habe meinen Freund Karsten Gundermann, einen Komponisten aus Hamburg, den ich schon seit meiner Jugend kenne und der eben gedanklich dazu in der Lage ist, damit beauftragt, dieses Werk kindgerecht umzuschreiben und singbar zu machen, ohne die Musik zu zerstören. Er hat mir ein passendes Stück mit dem Bach-Orchester über das Magnificat geschrieben. Das haben wir dann aufgeführt. Darin kommen alle Motive des Werkes vor. Und auch der Inhalt ist in vollkommen in verträglicher Form enthalten, also nicht als Missionsunternehmen, sondern als Inhalt im Sinne von: „Was ist da gemeint? Was ziehen wir daraus für unser Leben?“ Und das ist hervorragend geglückt. Das Konzept des Programms ist dreiteilig gewesen und das haben wir auch so beibehalten.
Die Kinder studieren das monatelang ein, werden gecoacht, bekommen Lehrmaterialien an den Schulen und die Lehrer helfen uns. Wir helfen wiederum den Lehrern und bringen richtige Stimmbildner in die Schulklassen. Zum Schluss wird alles zusammengebracht. Das hat bisher immer Sabine Layer mit großem Erfolg gemacht. Sie hat diese Projekte mit mehreren hundert Kindern zusammengeführt und wir haben das dann mit unserem Orchester, unserem Chor und Solisten gemeinsam aufgeführt. Das war der Teil eins des Programms, also eine nachhaltige Beschäftigung mit einem großen Werk, das man eben auch selbst mitmachen kann.
Dann kam der zweite Teil des Programms, bei dem man die Originalkomposition hören konnte. Das Tolle ist, dass die Kinder dann sehr viel aufmerksamer zuhörten als ihre Eltern, die zum Teil wenig in Konzerten sind. Die Kinder kannten dann die Musik und waren geschulte Hörer, während die Eltern mitunter Schwierigkeiten hatten. Danach haben wir mit dem gesamten Saal ein Sing-along gemacht, mit den Inhalten dieses Werks, für das ich eben auch Stücke für Orchester und großen Chor habe schreiben lassen, in denen dann auch unisono gesungen wird. Das hat ausgezeichnet funktioniert.
So haben wir das Magnificat, das Weihnachtsoratorium und die Jahreszeiten bearbeitet, den Messias und auch etwas von Händel. Mit dem Tanzprojekt haben wir die Weihnachtsoratorien 1 bis 3, die Weihnachtsoratorien 4 bis 6, die Jahreszeiten von Vivaldi mit einer Bachsuite und die Matthäus-Passion aufgeführt. Dieses Jahr haben wir das überarbeitete Weihnachtsoratorium nochmal aufs Programm gesetzt.
Die Kinder kommen in diesen Projekten langfristig mit Musik zusammen. Ein Jahr dauert das Tanzprojekt an den Schulen. Es ist dennoch manchmal sehr mühsam. Es ist nicht so, dass alle gleich vom Nutzen des Projekts zu überzeugen sind. Aber am Schluss ist es wie ein Sturm der Begeisterung, der dann einsetzt, wo dann jeder Zweifler unter den Kindern plötzlich merkt, bei was für einem tollen Projekt er dabei ist. Mir war es halt immer wichtig, dass wir unsere besten Kräfte zusammen ziehen: die besten Musiker, die wir haben und keine Kompromisse machen, sodass es einen wirklichen Brückenschlag zwischen dem Besten bei uns und dem Besten, was die Kinder bieten können, gibt. Und da entsteht dann meistens ein unwahrscheinliches Kunstereignis, das wir selbst nicht erwartet haben und das auch von unserem Publikum in einem Maße gefeiert wurde, wie wir es nicht besser haben könnten. Das ist dann für die Kinder schön, das ist für uns schön und es findet auch Akzeptanz bei Förderern, die uns finanziell tatkräftig unter die Arme greifen und sehen: Das ist ein gutes Projekt, da lohnt es sich, etwas zu investieren.
Das sind die beiden großen Bausteine dieses Projektes und dann gibt es noch ein drittes: „Hand in Hand“, eine Schulchorpatenschaft, bei der wir ebenfalls an Schulen gehen. Ich habe dafür auch mit Schulchören schon Proben abgehalten und sie mit auf die Bühne genommen, zum Teil lasse ich sie auch mitsingen – im Bernstein-Psalm oder nächstes Jahr bei Vivaldi. Hier singt ein Schulchor mit der Gächinger Kantorei, um den Kindern auch dieses Gefühl zu geben, dass wir mit ihnen auf Augenhöhe agieren und sie mit uns auf Augenhöhe agieren, und damit sie da vielleicht Impulse mitnehmen, die sie begeistern. Ich denke, der eine oder andere kommt dann noch einmal zurück.
Jetzt läuft das Projekt schon seit 2013. Soll es auch in Zukunft so weitergeführt werden oder gibt es Pläne, es zu verändern oder anzupassen?
Wir justieren das eigentlich permanent nach. Wir haben gerade die konzeptionelle Erarbeitung eines neuen Projekts abgeschlossen. Ich kann heute noch keine detaillierten Aussagen dazu machen, aber wir planen ein sehr, sehr großes Projekt im Jahr 2021 mit „BachBewegt! Singen!“, in dem es um die Schöpfung von Joseph Haydn geht. Ich denke, es wird ein Projekt sein, das wirklich sehr stark auffällt. In Stuttgart und der Region sollen die Kinder begeistert werden, an einem solchen Projekt teilzunehmen.
Haben Sie die Erfahrung gemacht, dass die Teilnehmer des Projektes „BachBewegt!“ später ihre Konzerte besuchen?
Das ist schwer zu ermitteln. Ich merke jetzt – aber das ist mehr aus dem Augenwinkel – dassmehr Leute im Konzert sitzen, die jünger sind. Es ist deutlich zu sehen, dass das Publikum sich verändert, aber es ist ein mühsamer Prozess und ich glaube, er dauert lange. Wenn man Menschen direkt anspricht und ihnen vielleicht auch einen guten Preis anbietet, dann kommen sie schon ins Konzert. Leider ist das nicht immer der einfachste Weg. Aber ich denke, langfristig wird es sich für die Bachakademie positiv auswirken. Man muss erstmal sehen, wie sich das durchsetzt. Es ist ja auch so, Sie haben am Anfang Schwierigkeiten, die Schulen davon zu überzeugen, mitzumachen, weil an den Schulen schon so viel stattfindet. Man muss sie von der Einzigartigkeit des Projektes überzeugen und das ist beim Tanzprojekt genauso. Da zittert man manchmal: Melden sich genug Schüler? Jetzt ist das Mozart-Requiem geplant für den nächsten Herbst. Da gab es bei den Anmeldungen eine kurze Krisenphase, aber jetzt haben sich 98 Schülerinnen und Schüler angemeldet – mehr dürften es auch nicht sein. Jetzt müssen wir halt hin und wieder absagen und damit vertrösten, dass sie für das nächste Mal vorgemerkt werden. Aber es gibt eben auch viele Lehrer, die sagen, das können wir einmal machen, aber wir können es nicht jedes Jahr leisten. Sie müssen samstags kommen, das läuft dann ja auch als zusätzliches Angebot, das sind große, anspruchsvolle, zeitraubende Projekte.
„BachBewegt!“ und „Musikalischer Salon“: zwei Konzepte, zwei vollkommen unterschiedliche Zielgruppen, beides bietet Musikvermittlung. Wo liegen die Unterschiede im Programm, bzw. woran haben Sie gemerkt, dass ein Angebot für Erwachsene fehlt?
Die Bachakademie hat sich ja schon immer Mühe gegeben, gute Begleitinformationen zu Konzerten zu geben, die vielleicht ein bisschen überdurchschnittlich sind. Wir haben einen neuen Service eingeführt, mit dem wir unseren Abonnenten jetzt die Programme vorab nach Hause schicken. So können sie sich immer schon bevor sie ins Konzert gehen das Programm in Ruhe durchlesen und sich damit befassen.
Die „Musikalischen Salons“ sind natürlich schon echte Blicke hinter die Kulissen, die weit über das hinausgehen, was man in einer Einführung unterbringen kann. Da geht es dann den ganzen Abend um das Thema des Konzertes, es gibt aber auch sehr viele Hintergrundinformationen und interessante Gesprächspartner. Geleitet wird es von Henning Dr. Bey. Die Werkseinführungen, die Dr. Bey hier veranstaltet, sind auch für sich schon eine Klasse, er hat da wirklich Ahnung, wie man in einer halben Stunde oder weniger das ganze Informationsmaterial unterbringt, damit der Hörer dann auch wirklich weiß, was er hört. Das ist sehr bemerkenswert.
Ich mache aber auch Probenbesuche, bei denen ich den Freundeskreis einlade und über die Werke spreche. Wir eröffnen sicherlich nächstes Jahr hier in Stuttgart ein neues Format, in dem über Musik reflektiert wird und gleichzeitig die Musik zu hören ist – aber in ungezwungener Atmosphäre und auch an Orten, wo man vielleicht nicht unbedingt erwartet, dort mal Bach zu hören. So hoffen wir, einfach total offen und nah an das Publikum heranzukommen. Das haben wir vor, das werden wir machen. Das Ziel ist, das Erlebnis von der Musik nicht nur auf einmal Hingehen und wieder nach Hause Gehen zu beschränken.
Das Programm der Bachakademie richtet sich im Großen an ein bekanntes Publikum. Wie möchten Sie neue Zielgruppen, wie zum Beispiel die Eltern der Kinder von „Bach Bewegt!“ erreichen? Wie wollen Sie diejenigen erreichen, die das Format „Konzert“ noch abschreckt?
Veränderte Formate sind eine Möglichkeit, die wir in den nächsten Jahren auf unseren Plan setzen wollen. Im neuen Konzept soll das Publikum – zum Beispiel in den Wagenhallen – in ungezwungener Atmosphäre so postiert werden, wie es das normalerweise nicht ist, vielleicht auch auf Tuchfühlung zum Ensemble. Dann möchte ich dort auch meine Gedanken über meine Musik äußern. Dann kann man das Werk vielleicht auch zweimal hören, einmal ohne Kommentierung, dann wird es auseinander genommen und besprochen, wie ich es deute – da gehe ich auch rein spekulativ rein – und dann kann man das noch mal hören. Anschließend kann man mit Mitgliedern von Orchester und Chor in lockerer Atmosphäre ins Gespräch kommen. Solche Konzepte möchte ich jetzt auf jeden Fall anfangen.
Eine weitere Methode ist, dass ich ab und zu Gäste in das Orchester hinein, vor den Chor oder zwischen Orchester und Chor setze. Diese Gäste kriegen dann auch die Information, die man sich aus einem Werk herausgefiltert hat, um sozusagen ein bisschen wie Kriminalkommissare im Werk danach zu suchen: Was ist hier los? Um die Spur des Komponisten zu verfolgen, den Gedankengang nachzuvollziehen: Wie kommt er auf die Idee, ein Werk so oder so zu schreiben? Und wenn man das dann für sich erkannt hat, kann man es, glaube ich, auch als Interpret sehr gut weitergeben. Manchmal besser als ein Musikwissenschaftler, weil man diese Angst nicht hat, dass es vielleicht nicht ganz hundertprozentig zu belegen ist. Da bin ich doch häufig der Meinung, dass das, was dann als Hypothese im Raum steht, tatsächlich wahr ist. Ich scheue mich auch überhaupt nicht davor, den Leuten das zu sagen. So auch meine extrahierte Idee vom Weihnachtsoratorium, die ich direkt vor dem Projekt erzählt habe: Was ist da eigentlich los, was ist da eigentlich passiert? Warum gehen die Hirten im Weihnachtsoratorium einfach nicht los in der zweiten Kantate, und schauen sich die Krippe an? Die werden ja die ganze Zeit aufgerufen, es wird immer gesagt: geht, so geht doch mal! Dann machen sie sich auf ihren Weg, aber eigentlich eine Kantate zu spät. Diese Stelle habe ich als Beispiel für unsere menschliche Existenz gedeutet und gesagt: So geht‘s ihnen und mir geht es ja auch so. Sie verschieben irgendwelche Dinge und dann, im allerletzten Moment bevor es zu spät ist, machen Sie es doch. Aber man könnte es auch anders machen.
Schafft man durch das Aufbrechen des klassischen bürgerlichen Konzerts aus dem 19. Jahrhundert ein bisschen mehr Musikvermittlung?
Die Inhalte der Werke müssen dem Hörer aufgebrochen oder eben aufgeschlossen werden. Den Inhalt eines Werks von Bach müssen sie natürlich theologisch verstehen. Nun ist aber die Frage: Was nehme ich mir da raus? Was ziehe ich mir aus den theologischen Botschaften für mein Leben heraus? Zu diesem Thema habe ich mich neulich mit einem Zeitungskorrespondenten unterhalten und er fragte mich: Wie kann man solche Inhalte von Himmel und Hölle überhaupt noch spielen? Da habe ich ihm gesagt: Ich finde es eigentlich gar nicht so falsch. Wenn ein Mensch ehrlich in sich selbst hineinsieht, dann sieht er auch, dass er zerrissen ist. Jeder Mensch hat eine dunkle Seite und eine gute Seite und die sind im ständigen Widerpart begriffen. Wenn man sich das einmal durch den Kopf gehen lässt, werden die Texte auf einmal interessant. Dann ist es auch egal, ob ich religiös bin und an Gott glaube, oder ob ich einfach an die Dinge glaube, die das Leben ausmachen und daran, wie ich mein Leben ins Positive lenken kann. Dazu ist ja die Musik quasi wie eine Handreichung, dass man davon bewegt wird und einem das Gefühl vielleicht auch weiterhilft, dass man durch Sensibilität den Mitmenschen gegenüber aufgeschlossener ist, oder sich Dinge zweimal überlegt, die man sonst einfach so durchzieht.
Das sind ja Gedanken, die weit über das normale musikalische Werk hinausgehen. Hat für Sie ein Chor auch einen Bildungsauftrag, einen gesellschaftlichen Aspekt, den er wahrnehmen soll und muss?
Man kann es mal ganz platt beantworten. Zunächst bin ich der Überzeugung, dass wer zusammen musiziert, im Chor singt oder im Orchester spielt, sich normalerweise bestimmt nicht auf der Straße prügelt. Zweitens ist ganz eindeutig geklärt, dass die Musik Auswirkungen auf unseren Körper hat. Dass Musik eine stimulierende Wirkung hat, ist auch bewiesen. Sie hat eine positive Auswirkung auf unseren Organismus und auf unser Denkvermögen. Das ist aber jetzt bloß eine Nebenerscheinung. Die große Chance beim Chor, finde ich, ist das Wort.
Weil wir das Wort haben, können wir hier Worte, also Inhalte, transportieren. Mit dem Wort, das in der Musik Gestalt annimmt, wird Musik zum klingenden, inhaltlichen Wortgebilde, das vielleicht leichtfüßiger den Menschen erreicht, als wenn man nur redet. Es wird ja auch oft gesagt, dass ein Pfarrer in der Kirche manchmal die Botschaft schlechter vermitteln kann, als wenn man sie als Musikstück hört. Ich glaube schon, dass man hier etwas bewegt.
Thema Neuinszenierungen. Wie weit kann man mit einem historischen Werk gehen? Sehen Sie da Grenzen in der Interpretation? Oder muss man einfach neu interpretieren?
Prinzipiell ist ja – Gott sei dank – da die Freiheit der Kunst sehr groß und das finde ich richtig, sonst wären da Denkverbote und ein Denkverbot wäre katastrophal. Aber es ist so: Ich kann aus der Interpretensicht sagen, dass ein Werk wie zum Beispiel Bachs h-Moll-Messe sich mir immer wieder neu inszeniert. Also kann ich es gar nicht zweimal gleich dirigieren, weil es jedes Mal ein anderes Stück ist. Sie können solch eine Veränderung in einem Jahr selbst gar nicht verhindern. Und wenn ich das in Moskau spiele, dann steigen natürlich Gedanken auf, parallel zu dem Zeitgeschehen. Wo befinde ich mich? Was ist hier wichtig? Was ist für mich wichtig? Und dann ist klar, dass die Aussage „Dona nobis pacem“ plötzlich in der Prioritätenliste so weit hochgeht, dass sie mich motiviert, sie besonders interessant zu gestalten. Es ist völlig klar, dann ist es wieder ein neues Werk für mich. Es könnte in einem anderen Konzert auch wieder andere Aspekte geben, an denen man arbeitet. Ansonsten denke ich, man kann dem Ganzen eine neue Gestalt geben, aber man darf das Kunstwerk dabei nicht entstellen. Wir sehen das hier als sehr wichtig an und achten in unseren Bearbeitungen der alten Werke oder auch im Tanzprojekt sehr darauf, dass der Inhalt nicht aufgesetzt wird, sondern dass er dem Werk dient. Ein Werk, das wir auch verkörpern mit unseren Tänzern, als Macher die Botschaft des Werkes vielleicht etwas ausleuchten, aber nicht in eine andere Richtung lenken.
Was bedeutet für Sie gute Musikvermittlung?
Der Hörer, der etwas über die Musik erfährt, sich darunter etwas vorstellen kann, den es nicht kalt lässt, wenn er etwas mitnimmt, das ihn eine Weile beschäftigt. Musikvermittlung im Sinne an Kinder: Ich halte nicht so viel davon, wenn man in die Schule geht und einen Tag ein großes Projekt startet, oder vielleicht auch mal drei Tage Wind und Staub aufwirbelt und ein riesiges orkanhaftes Gebilde loslässt, was dann ganz schnell wieder verraucht ist. Ich finde es besser, längerfristige Abläufe, Nachhaltigkeit hineinzubekommen, dass die Kinder tatsächlich etwas davon mitnehmen im Sinne des Einpflanzens einer Begeisterung in einen Menschen. Das finde ich sehr, sehr wichtig. Und bei Erwachsenen ist es wichtig, dass es eine Motivation gibt, immer mehr erfahren zu wollen über die Sache, mit der man sich gerne beschäftigen möchte, dass die Musik ein echter Mehrwert ist durch eine gewisse Hörerfahrung.
Eine Frage, die die Bachakademie im Speziellen betrifft: Das Werk von Johann Sebastian Bach ist seit 2008 wissenschaftlich schon recht vollständig erschlossen. Fast alle Werke sind ediert und erforscht. Welche Aufgaben hat die Akademie jetzt vor sich und welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf die Programme und die Ausrichtung?
Vergleichsweise ist bei uns Bach quasi die Sonne eines Sonnensystems. Er strahlt aus auf die gesamte Musikgeschichte. Natürlich strahlen auch andere Komponisten aus, aber ich habe für die Bachakademie ja eine wichtige Funktion einzunehmen und zwar die, dass wir ein ganz wichtiger Player sind im weltweiten Maßstab der deutschen Bachrezeption. Ich bin ja gebürtig in Dresden und aufgewachsen im Erzgebirge in Mitteldeutschland. Man könnte meine Bemühungen beschreiben: die Suche nach dem mitteldeutschen Bachklang.
Das ist irgendwie die Fußnote der Geschichte, dass das jetzt in Stuttgart passiert, der Stuttgarter Sound ist sehr stark vom mitteldeutschen Rademann beeinflusst. Es ist einfach so. Und ich versuche da tatsächlich auch belegbare Dinge zu infiltrieren. Wir haben zum Beispiel das große Glück gehabt, die Silbermannorgel bei Riesa auf einer Orgelempore gefunden zu haben. Kein Mensch wusste, dass es die gibt und dass sie von Gottfried Silbermann, dem großen sächsischen Orgelbauer und Zeitgenossen Bachs, ist. Wir wissen nur, das klingende Exponat der Bach-Zeit sind schlussendlich seine Instrumente. Da gehört die Silbermannorgel definitiv dazu und viele andere Silbermannorgeln und Hildebrandtorgeln im sächsischen Bereich auch. Ich habe beispielsweise in Naumburg jetzt eine CD produziert, um einfach ein Zeichen zu setzen, was könnte denn eigentlich der Bachstil gewesen sein, oder wie denn der mitteldeutsche Bachstil sein könnte oder dieser neue, den ich mir vorstelle. Der kräftige Bachstil, der nicht säuselt, der nicht französisch leicht ist, sondern so, wie man sich Martin Luther vorstellt. Wie er mit der Faust auf den Altar, auf der Kanzel schlägt und in cholerischer Weise etwas poltrig wird. So ähnlich stelle ich mir vor, ein kraftvolles Bachbild zu entwerfen. Ich war beispielsweise im Instrumentenmuseum in Berlin, nach langen Recherchen, und habe mir dort ein Silbermann-Cembalo angesehen. Ich habe gleich alles in die Wege geleitet und eine Mäzenin will den Nachbau eines solchen Cembalos finanzieren. Ich habe den Auftrag vergeben und in einigen Monaten wird die Bachakademie neben der Orgel auch noch das entsprechende Cembalo, das klangfarblich wunderbar zu den anderen Instrumenten passt, die wir im Continuo haben. Damit kriegt man schon einen eigenen Klang.
Dieser neue, alte Klang der Instrumente bewirkt dann auch etwas im Orchester: Es klingt einfach anders. Wir haben auch dank einer Spenderin ganz wunderbare Barockpauken anschaffen können, so dass der instrumentale Part des Orchesters in Richtung Optimum tendiert. Um die Klänge möglichst Bach-ähnlich darzubieten, ist es wichtig, seine Idee, seine Philosophie von Klang aufzuführen. Den Klang interpretieren, können wir natürlich wie wir wollen. Ich würde das nie museal musizieren, aber ich habe zumindest die richtige sprachliche und klangliche Substanz. Ich halte esfür meine Aufgabe, hier das Optimum herauszuholen und denke dass ist auch eine wichtige Grundlage für den zukünftigen Erfolg der Bachakademie.
Was würden Sie gerne mal wie aufführen, wenn Sie keinerlei Einschränkungen hätten?
Ich würde da nochmal eine Gesamtaufnahme aller Bachkantaten machen. Mit meinem ganzen neuen Instrumentarium und meinen Musikern, weil ich mit meinen Musikern und vor allem auch dem Vokalensemble auf einem so guten Weg bin, dass sich das tatsächlich nochmal lohnen würde.