Carsten Gerlitz ist Chorleiter, Komponist und Arrangeur. In dieser Funktion beginnt für ihn Weihnachten auch gerne schon im Sommer.
Carsten Gerlitz gehört zu den bekanntesten Arrangeuren und Chorkomponisten in Deutschland. Weihnachtslieder sind auch bei ihm immer wieder ein großes Thema – und das ganzjährig.
Nena Wagner: Wie empfindest du selbst Weihnachten?
Carsten Gerlitz: Weihnachten ist so eine Mischung: Einerseits natürlich der ganze Stress, den man so hat und dann auch diese ganze Erwartungshaltung. Gleichzeitig finde ich Weihnachten auch immer schön, denn ich spiele seit einigen Jahren im alten Dorfkern von Lübars bei Berlin, meinem Wohnort, in einer alten steinernen Kirche am 24. Dezember im 16 Uhr Gottesdienst die Orgel. Ich spiele überhaupt nur einmal im Jahr Orgel. Das ist immer sehr lustig, weil ich zum Eingang immer etwas Spezielles spiele, wie zum Beispiel das „liars theme“, als Carrie Fisher gestorben war.
Nena Wagner: Wie kommt man dazu, Weihnachtslieder zu schreiben?
Carsten Gerlitz: Letztes Jahr habe ich ein Stück für meinen Chor gemacht, das heißt „Dieses Jahr gibt´s nur ein Lied“. Das fand ich ganz gut, denn die Frage ist ja immer: Was kriegt man geschenkt und was soll ich dem anderen schenken. Ein irrer Stress. Dazu habe ich einen Text gemacht: „Dieses Jahr gibt‘s nur ein Lied“. Es hat einen groovy Charakter. Wir haben es in einer Chorprobe extrem schnell eingeübt, da wir nur noch eine Woche bis zu unserem letzten Auftritt vor Weihnachten hatten. Wir wollten das unbedingt singen.
Nena Wagner: Wann entstehen die Weihnachtslieder?
Carsten Gerlitz: Na ja, das ist jedes Jahr gleich. Ich mache viele Arrangements für Klavier und auch für Orchester, wenn es verlangt wird. Ich habe jahrelang im Hochsommer Weihnachtslieder geschrieben und arrangiert. Es gab auch schon Aufnahmen, die sind auch immer im Sommer. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass ich einmal Aufnahmen mit Jennifer Côté von ONAir gemacht habe, da war es ganz heiß, mit Klimaanlage an und dann sang sie „Stille Nacht“. Da habe ich gesagt: Wir müssen das Fenster zumachen, die Nachbarn denken sonst, jetzt hat er nen Vollschuss.
Nena Wagner: Wie bringt man sich da in Weihanchtsstimmung bei Sommer, Sonne, Sonnenschein?
Carsten Gerlitz: Ach, was heißt Stimmung:
Ich glaube wenn man sich solche Sachen musikalisch anguckt – ich weiß nicht, ob man da eine bestimmte Stimmung braucht. Ist eine bestimmte Jahreszeit die Voraussetzung dafür? Es geht immer. Ich kann auch ein lustiges Lied spielen wenn ich traurig bin und ich kann auch ein trauriges Lied spielen, wenn ich lustig bin. Ich kann auch einfach Kirchenmusik singen. Das hat mein ehemaliger Chorleiter Ernst Senf ein-
mal sehr schön gesagt: Man muss nicht gläubig sein, um den Spirit oder die Heiligkeit von Kirchenmusik zu empfinden.
Nena Wagner: Müssen es an Weihnachten immer Weihnachtslieder sein?
Carsten Gerlitz: Man überlegt sich natürlich auch als Chorleiter immer wieder: Was kann man jetzt noch machen? Ich mache jedes Jahr mit meinem Chor ein Weihnachtskonzert. Da nimmt man vielleicht auch Sachen mit rein ins Programm, die nicht explizit Weihnachtslieder sind. Eines dieser Stücke habe ich mit meinem Chor beim letzten Weihnachtskonzert als letztes gesungen. Nach einem sehr anspruchsvollen und schönen Satz von „Stille Nacht“, wo man früher dachte, das ist der Moment, in dem die Leute nach dem Portemonnaie greifen und sagen: Heute geben wir ein bisschen mehr. Diesmal war das anders. Der Knüller des Abends war mit „Wunder geschehen“ kein Weihnachtslied. Ich finde auch „Imagine“ ist eine Nummer, die auch zu Weihnachten gesungen werden darf. Da heißt es sogar explizit: „Stell dir vor, es gäbe keinen Himmel und auch keine Religion.“ Eine Absage an die Kirche. Trotzdem kann man das zu Weihnachten super singen.
Nena Wagner: Warum entsteht Weihnachtsmusik in der warmen Jahreszeit?
Carsten Gerlitz: Ich glaube es hat einen praktischen Grund, warum es meistens im Sommer passiert. Zu Weihnachten hat man einfach so viel zu tun mit den ganzen anderen Sachen, mit dem Vorbereiten der Konzerte und so. Vielleicht hat man da nicht so die Muse.
Der Ablauf ist ja schnell. Die Verlage haben schon im April Mails mit Aufträgen geschrie-
ben, dass sie gerne etwas haben wollen, denn die Werke müssen dann noch lektoriert,
gesetzt und gedruckt werden. Das muss beworben werden und die Chöre fangen ja bereits nach den Sommerferien an zu proben.
Das finde ich allerdings schrecklich, muss ich sagen. Da danke ich meinem Chor (The Happy Disharmonists ) auch jedes Mal dafür, dass wir Weihnachtslieder tatsächlich erst Anfang oder Ende November ein-
mal durchproben. Dabei kommt dann noch einmal die Magie der Weihnachtslieder zum Vorschein: Die brennen sich irgendwie besonders ins Gehirn, habe ich das Gefühl. Die bleiben so drin, dass ich mich auch blind darauf verlassen kann, dass wenn wir mit diesem Programm einen Auftritt haben, es auch mit nur anderthalb Proben vorher es schaffen, weil es in den Köpfen noch drin ist. Einfach super. Mit anderen Stücken ist das nicht so. Weihnachtslieder haben eine bestimmte Magie, die in den letzten Gehirnlappen vordringt.
Nena Wagner: Wie ist hier der Ablauf, auch bei den Verlagen?
Carsten Gerlitz: Es ist unterschiedlich: Oft ist es so, dass man als Autor an den Verlag herantritt und sagt: Ich habe eine Idee. Wollen wir das und das machen? Ich glaube, das ist der normale Weg. Es geht aber auch mal umgekehrt, dass der Verlag kommt und sagt: Wollen wir das nicht machen? Danach kommt noch eine Phase des Brainstormings, das braucht auch ein bisschen Zeit, bis man für alles eine Lösung findet.
Vor allem wenn man ein Heft oder Buch machen will, müssen oft noch Fremdrechte geklärt werden – ein elendes Thema und auch nicht lustig. Deshalb wollen auch viele Verlage neue Weihnachtslieder haben. Ich glaube aber, dass es auch was Schönes ist, wenn man zu Weihnachten die traditionellen Sachen hört. Ohne diese Lieder kann ich mir Weihnachten absolut nicht vorstellen.
Nena Wagner: Stehen derzeit weihnachtliche Projekte bei Dir an?
Es gibt die Idee zu einem Musical, das kann ich jetzt aber noch nicht vorstellen. Aber man kann es ja schon mal erwähnen: „Dieses Jahr schenken wir uns nix“ – jetzt ist der Titel schon mal raus.
Nena Wagner: Welche Eigenschaften muss ein Weihnachtslied haben, damit es sich wie Weihnachten anfühlt und klingt?
Carsten Gerlitz: Das ist wirklich eine gute Frage. Ich denke es gibt da verschiedene Richtungen: Einmal gibt es diesen feierlichen Aspekt von der Art der Melodie. Mit der Instrumentierung kann man natürlich immer viel retten. Du kannst ja aus jeder Nummer eine feierlich instrumentierte Version machen. Aber da hat ja schon der Grundcharakter der Melodie etwas von einem Marsch, etwas feierliches – wie zum Beispiel bei „Oh du fröhliche“.
Und dann gibt‘s vielleicht die andere Variante, diese besinnliche Melodie zum Beispiel „Stille Nacht“. Dann glaube ich, ist die Frage nach der Melodieführung ganz wichtig. Viele Sachen sind ja im Quintraum gesetzt, zum Beispiel „Stille Nacht“. Wir sagen, das sind Melodien, die sofort leicht ins Ohr gehen. Weil sie erstmal nur im Quintraum sind und dann kommt meistens noch gerne ein Oktavsprung. Harmonisch ist es wahrscheinlich auch wichtig, dass es sich in der Kadenz-Harmonik bewegt und eigentlich simpel ist.
„Oh du fröhliche“ zum Beispiel ist ein Stück, das harmonisch ganz tricky ist. Das unterschätzt man gerne, wenn man es mal spielt. Mit den drei Akkorden, mit denen man sonst die Punk-Band gründet, ist man da verloren. Das sind Gründe für eine gute Musik, die nach Weihnachten klingt.
Weihnachten kann auch eine Fundgrube sein für lustige Sachen. Wir haben zum Beispiel „Winter Wonderland“ mit einem Text von Peter Alexander gesungen. „Wir wandern durch den weißen Winterwald“, heißt es da. Wir haben das dann ein bisschen verändert vom Text her bezogen auf die Völlerei zu Weihnachten. Bei uns heißt es dann „versinken tief im weißen Winterwald“. Und das Reh ist ganz erschrokken und sagt: „So saht ihr doch neulich noch nicht aus.“ Dass man das ein bisschen humorvoll nimmt, finde ich gut.
Nena Wagner: Wie gehe ich damit um, wenn Menschen im Chor keine Weihnachtslieder singen wollen?
Carsten Gerlitz: Ganz ehrlich? Ich glaube das wichtigste Wort ist Toleranz generell überall. Und das ist eine Form von Intoleranz, wenn ich sage: „Ich singe keine christlichen Lieder.“ Da kann ich nicht drüber lachen. Dafür habe ich keine Toleranz. Jede dieser Religionen hat ihre eigenen Feste. Und natürlich kann es sehr spannend sein, dass ich als christlich sozialisierte Person auch mal deren Lieder zu deren Zeiten mitsinge, warum denn nicht?
Es ist doch völliger Quatsch zu sagen, das mache ich nicht. Das ist ja die Vorform von Konfrontation und Auseinandersetzung und sich dann irgendwann die Köpfe einzuschlagen. Nein, da erwarte ich von jedem Andersgläubigen auch eine gewisse Toleranz, dass er sagt, er macht das mal aus Interesse mit. Weihnachten ist ja ein Moment der Ruhe.
Gerade weil das alles noch mal so eine Fahrt aufnimmt mit vorher noch einkaufen gehen und Weihnachtsmärkten und dann platzt der Ballon am 24. und am 25. Dezember und dann ist Ruhe. Das ist auch so ein sehr schöner besinnlicher Moment, wo man sagt, wir machen jetzt mal ein bisschen leiser. Das kann doch jeder nachempfinden, wenn es einen Moment im Jahr gibt, wo man sagt, man macht mal so einen kleinen Moment Ruhe, das ist doch sehr schön.
Das hat mit Religion gar nichts zu tun. Natürlich ist die Grundidee der christlichen Botschaft etwas ganz Tolles, etwas ganz Edles und jeder Mensch müsste dem zustimmen. „Friede auf Erden“, das ist doch ein hehrer Wunsch, egal welcher Religion oder politischer Richtung man angehört.
Nena Wagner: An welches Weihnachten erinnerst du dich am liebsten?
Carsten Gerlitz: Mein schönstes Weihnachten war tatsächlich mal vor einigen Jahren in Amerika. Und zwar, weil meine mittlere Tochter ein Auslandsjahr gemacht hat. Man darf eigentlich die Kinder nicht besuchen. Wir haben einfach beschlossen, sie heimlich am 23. Dezember zu überraschen. Das war sehr lustig und da wir schon unseren CO2-Abdruck so extrem belasteten, waren wir vorher noch in New York. Diese Stadt in der Zeit vor Weihnachten, das ist schon spannend und ziemlich gaga. Wir hatten eine sehr schöne Zeit und ein sehr schönes Weihnachten. Das war mal anders.
Das Interview führte Nena Wagner,
Redaktion des Textes: Isabelle Arnold