Heute singen sie meist zur Adventszeit, früher dagegen waren ihre Auftritte auf keine Jahreszeit beschränkt: die Chöre der Kurrenden.
Der Begriff Kurrende kommt vom Lateinischen currere, laufen. Als Kurrende bezeichnet man gewöhnlich einen Chor aus Jugendlichen, der von Haus zu Haus zieht und für das Präsentieren eines Liedchens mit einer kleinen Geld- oder Naturaliengabe belohnt wird.
Die Clausthaler Kurrende, die wir hier unten
auf einer alten Ansichtskarte abgebildet sehen, machte sich – so die handschriftliche Notiz vom 25. Juli 1904 – jeden Sonntagmorgen schon um vier Uhr auf die Beine, um sich mit frommen Liedern auf den Lippen ein paar Groschen dazuzuverdienen. (Die Teenager des Erzgebirgsorts schufteten sonst im Bergbau, und das bis zu 14 Stunden am Tag; da war für sie das sonntägliche Auftreten als Chor selbst zu so einer unchristlich frühen Uhrzeit immer noch das reinste Vergnügen.)
Der Clausthaler Knabenchor war von seiner Zusammensetzung her übrigens keine ganz typische Kurrende. Gewöhnlich bestanden deren Sänger nämlich aus Schülern. Solche Laufchöre gab es bereits an den katholischen Lateinschulen des Mittelalters (daher ihr lateinischer Name). Ihr Zweck war es, armen Schulbuben zu einem Lebensunterhalt zu verhelfen.
Eine Tradition mit zum teil prominenter Besetzung
Auch Martin Luther hat sich in seiner Schulzeit in Eisenach (1498-1501) in einer Kurrende seinen Lebensunterhalt ersungen. Man hat ihn deshalb später zum Vorbild der protestantischen Schulsänger stilisiert und diese Episode aus seinem Leben gern auf Bildern illustriert, so z. B. auf einem Eisenacher Notgeldschein von 1921.
Ein anderer Reformator, der sich als Schüler auf die gleiche Weise über Wasser halten musste, war Matthäus Alber aus Reutlingen. Früh verwaist und verarmt, wirkte er um 1500 für einige Jahre in den Laufchören der Lateinschulen von Straßburg, Rothenburg ob der Tauber und Schwäbisch Hall mit.
In nachmittelalterlicher Zeit gab es Kurrenden besonders häufig an den evangelischen Bildungseinrichtungen. Dort hat man dem Gesang ja bekanntlich viel Aufmerksamkeit geschenkt. Aus der Tradition der protestantischen Schulen stammt auch die Tracht der Sänger, der schwarze Radmantel und der Krempenhut (letzterer im 19. Jh. gelegentlich durch einem modischen Zylinder ersetzt).
Eine Tradition, die sich regional
bis heute hält
In den protestantischen Gebieten ist die Kurrende auch besonders lange lebendig geblieben. Im Erzgebirge gehören diese Chöre bis heute mit zum Gottesdienst in der Kirche. Die in Schwarz gehüllten Sängerknaben sind hier außerdem zu einem regionalen Markenzeichen und zu einem beliebten Motiv in der Volkskunst geworden. Als geschnitzte und gedrechselte Holzfigürchen wandern sie jährlich zu hunderten über die Ladentische der Souvenirshops.
Die Kurrenden zogen – wie oben berichtet – ursprünglich für freiwillige Gaben von Haus zu Haus, gelegentlich haben sie ihre Kunst aber auch auf Bestellung zum Besten gegeben, etwa bei Hochzeiten und Beisetzungen. Die erhaltene Belohnung sollte dabei immer allein den Sängern zu Gute kommen, ihre Bedürftigkeit war ja die Voraussetzung für die Aufnahme in den Bettelchor gewesen! Als wohltätige Spendensammler zu Gunsten anderer Bedürftiger treten die Kurrenden erst in neuerer Zeit auf.
Die Kurrende kehrte vieler Orts wieder
Vielerorts ist die Tradition der Kurrende während des 18. Jahrhunderts auch verloren gegangen. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert hat man sie dann aus pädagogischen Absichten heraus und in zeitgemäß veränderter Form wieder ins Leben gerufen. Dahinter steckte vor allem ein neuer Bildungsgedanke, verbunden mit dem Wunsch, kulturelle und speziell christliche Werte mehr zu pflegen.
Eine moderne Entwicklung ist die Konzentration dieser Singgruppen, die eigentlich eher Jugendchöre als Kurrende genannt werden sollten, auf die Advents- und Weihnachtszeit und auf das (unentgeltliche) Singen in sozialen Einrichtungen wie Spitälern und Altenheimen; der Gesang dient hier nicht mehr dem Spendensammeln, er ist vielmehr selbst zur Spende geworden.
Kurrenden mit großem Programm
Neu ist auch, wenn sogenannte Kurrenden ganze Singspiele und Musicals auf Bühnen präsentieren. Nicht historisch sind außerdem das Zusammenspiel mit Instrumentalisten – und das Mitsingen des weiblichen Geschlechts! Mit Bettelsängern durch die Straßen zu ziehen, das ziemte sich früher nicht für Mädchen. Heute sind die öffentlichen Auftritte von Kurrenden fast nur noch als folkloristische Inszenierungen zu sehen, bei denen da das Geschlecht dann auch keine Rolle mehr spielt.
Trifft für viele der oben genannten jüngeren Erscheinungen der historische Begriff „Kurrende“ kaum noch zu, so wird er gänzlich zur unpassenden Worthülse bei Veranstaltungen wie der folgenden, die vor einigen Jahren an einer oberschwäbischen Schule (wohl ohne Lateinunterricht) als „Kurrende“ angekündigt war: Nicht die Schüler, sondern ihre Eltern und Lehrer waren eingeladen, sich an einem Wintertag in einem warmen Klassenzimmer zu versammeln, um dort gemütlich an Tischen sitzend (!) zu singen. Die richtige Bezeichnung für einen solchen sitzenden Laufchor aus fußlahmen Ex-Jugendlichen ist nicht „Kurrende“, sondern „Kaffeekränzchen“, zu fortgeschrittener Stunde eventuell auch „Stammtisch“.
Rudolf Veit