Berufsbild Kirchenmusik im 21. Jahrhundert
Die beiden großen Kirchen in Deutschland müssen bis ins Jahr 2060 mit einem drastischen Mitgliederschwund rechnen. Eine Untersuchung der Universität Freiburg im Breisgau, die im letzten Frühjahr veröffentlich wurde zeigt, dass sich immer mehr Menschen abwenden. Die Zahl der Mitglieder sinkt bis zum Jahr 2060 um 49 Prozent auf 22,7 Millionen. Die Hauptgründe sind Austritte, weniger Taufen sowie die alternde Bevölkerung. Der Abwärtstrend könnte auch zu dramatischen Finanzierungslücken bei den Kirchen führen, auch und gerade im Bereich der Musik. „Alles im Fluss – Berufsbild Kirchenmusik im 21. Jahrhundert“ lautete denn auch das Motto eines Symposions, das am 4. und 5. März 2020 in der Evangelischen Akademie in Frankfurt am Main stattgefunden hat.
Kirchenmusik – Kulturfaktor im Wandel
Die aktuelle Situation der Kirchenmusik in Deutschland analysierte der Theologe und Soziologe Peter Scherle, Professor am theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn im Hauptreferat des Frankfurter Symposions. Seine Beobachtung: „Wir erleben eine „Verflüssigung“ der Gesellschaft, die viele Institutionen unterspült. Was mal fest war, wird verflüssigt, die Drinnen-Draußen-Grenzen verschwimmen. Das betrifft die Kirche wie andere Einrichtungen der Gesellschaft auch. Das lässt sich aber nicht aufhalten.“
Kirchenmusik muss mitschwimmen – Offenheit ist nötig
So, betonte Peter Scherle, muss Kirche sozusagen „im Fluss mitschwimmen“. Und er stellt fest, „dass viele Menschen bei der Kirchenmusik ihren Andockpunkt finden. Die singen mit in Kantoreien, obwohl sie vielleicht nicht getauft sind, keine Mitglieder der Kirche. Es gibt Leute, die gehen vielleicht in Kantatengottesdienste und gehören keiner Religion an.“ „Kirchenmusik bietet auch ganz viele Möglichkeiten, sich mit einem Thema zu beschäftigen, ohne jetzt gleich ein Bekenntnis ablegen zu müssen“, sagt auch Christa Kirschbaum, Landeskirchenmusikdirektorin der evangelischen Landeskirche in Hessen und Nassau und Organisatorin der Tagung.
„Leuchttürme“ oder flächendeckende Versorgung erhalten?
Doch wie lässt sich die kirchenmusikalische Infrastruktur in Deutschland zukünftig finanzieren, wenn – glaubt man den Ergebnissen der Freiburger Studie – die Kirchensteuermittel bis 2060 stetig abnehmen? „Wenn die Kirche versucht, flächendeckend ein Angebot aufrechtzuerhalten, in dem alles abgedeckt werden soll, dann laufen wir in die Irre, erschöpfen unsere Ressourcen“, meint Peter Scherle und plädiert daher für eine Konzentration kirchenmusikalischer Aktivitäten abseits ländlicher Regionen, in denen häufig nur noch wenige Menschen die Angebote wahrnehmen – „Leuchttürme schaffen“ ist das Stichwort. „In städtischen, großstädtischen und selbst kleinstädtischen Räumen spielt die Kirchenmusik eine öffentliche kulturelle Rolle, und die muß stark gepflegt werden, wenn die Kirche nicht ihren öffentlichen Raum verlieren will!“
Das Bild der kirchenmusikalischen „Leuchttürme“ gefällt Hans-Jürgen Wulf, obwohl er Landeskirchenmusikdirektor in der Nordkirche ist, überhaupt nicht. „Die Konzentration auf städtische Räume würde nämlich langfristig gesehen das ehrenamtliche Engagement in Sachen Kirchenmusik zerstören, denn das findet meistens auf dem Land statt.“, sagt er. „Wenn wir eine bestimmte Qualität im Nebenamt wollen, dann brauchen wir ein bestimmtes Netz an Hauptamtlichkeit, die das sichert.“ Und dieses Netz muss, so Hans-Jürgen Wulf in den ländlichen Raum hineinreichen.
Subsidiaritätsprinzip und rein liturgischer Dienst –
Das Problem auf katholischer Seite
Das Schaffen sogenannter Leuchttürme angesichts schwindender Finanzen ist in der katholischen Kirche, anders als im protestantischen Bereich nicht nötig, denn durch die Bischofskirchen, also die Kathedralen, findet von vornherein eine Konzentration der kirchenmusikalischen Aktivitäten statt. Aber, sagt der Katholik und Professor für Kirchenmusik an der Kölner Musikhochschule Reiner Schuhenn, es gibt ein anderes gravierendes Problem. „Katholischerseits haben wir die Kirchenmusiker immer noch gebündelt im „subsidiaren Dienst“, das heißt: Sie sind nicht eigenständig, sie sind rein auf den liturgischen Dienst festgenagelt. Da Liturgien aber immer weniger werden und auch Gottesdienste, wird das eigentlich Potenzial, das Kirchenmusik leisten kann, überhaupt nicht genutzt.“
Vielfalt ist gefordert – bereits in der Ausbildung
Dieses Potenzial ist für Reiner Schuhenn die Vielfalt an musikalischen Aufgaben – von Gregorianik über Bach und Mendelssohn bis hin zu Pop, Jazz und Gospel. Diese Vielfalt müsse – und das sei für die Neudefinition des Berufsbildes Kirchenmusiker unerlässlich – gerade in der Ausbildung viel stärker zum Tragen kommen. Hier sei geboten, die Vorbereitung auf den Beruf neu zu justieren. „Weil die deutschen Musikhochschulen in der Regel Studieninhalte und auch Studienordnungen anbieten, die erstellt wurden, als man Bachelor und Master eingeführt hatte, d.h. die reagieren auf ein Bild von Kirche, das man vor zehn Jahren hatte. Für Köln können wir sagen, dass ich jetzt sehr froh bin, das so etwas wie Popchorleitung verbindlich jetzt im Stundenplan steht und nicht mehr nur fakultativ, weil man sich einfach mit der Wirklichkeit von Menschen, wie sie ihrem Glauben Ton geben wollen, auseinandersetzen muss als Kirchenmusiker.“ Damit, so Reiner Schuhenn, sei der Kirchenmusiker in der Lage, im gesellschaftlichen Fluss, den der Theologe und Soziologe Peter Scherle in seinem Hauptreferat beschrieben hat, Ankermöglichkeiten zu bieten – egal, ob in einer Großstadt oder in ländlichen Regionen.
Trotz ungewisser Zukunft – Hervorragende Berufsaussichten
Wer sich für die Ausbildung entscheidet und das Examen besteht, hat derzeit in beiden großen Kirchen eine fast 100-prozentige Jobgarantie, betont die Landeskirchenmusikdirektorin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau Christa Kirschbaum. Sie appelliert daher: „Liebe Leute, studiert das, das ist ein toller Beruf! Also die Babyboomer-Generation geht jetzt gerade in Rente und wir haben wirklich Schwierigkeiten, hauptberuflich Stellen derzeit zu besetzen.“ Fazit: Das Berufsbild „Kirchenmusik“ ist also – trotz aller Probleme – ein sehr attraktives.
Seit 1997 arbeitet Claus Fischer als freier Journalist, Musikredakteur und Moderator vorwiegend für die Kulturwellen des ARD-Hörfunks. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Kirchenmusik und Alte Musik, aber auch Opern- und CD-Rezensionen, Künstlerporträts und Festivalberichterstattung. Regelmäßig gestaltet er im Programm von MDR Kultur die Sendungen „Orgelmagazin“ und „Chormagazin“, sowie „Musikland Brandenburg“ im Kulturradio vom rbb.