Nachhaltigkeit betrifft das gesamte Leben
Geht es Ihnen auch so? Ich bin schon ziemlich nahe am Sättigungspunkt, wenn ich jemanden über „Nachhaltigkeit“ sprechen höre und fange langsam an zynisch zu werden, sobald ein Vorstand irgendeines global agierenden Unternehmens wieder mal betont, wie wichtig Nachhaltigkeit und nachhaltiges Wirtschaften für das Unternehmen ist. Ja wie wichtig es auch ist, die in Nachhaltigkeit liegende Verantwortung zu übernehmen und konkret zu Handeln um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Ich gebe zu, mich nervt das. Mich nervt das vor allem deshalb, da der Begriff „Nachhaltigkeit“ m. E. zu sehr strapaziert wird, ohne dass konkret definiert wird, was mit „der“ Nachhaltigkeit gemeint ist, um Bewertungskriterien und Erfolgsindikatoren ableiten zu können. Nachhaltigkeit, so scheint es mir, ist inzwischen so verwässert, dass alles nachhaltig sein kann: Plastikvermeidung, Fleischverzicht, Landgrabbing, Krieg. In der Tat ist es auch so, je nachdem auf welche Idee die eigene Definition der „Nachhaltigkeit“ zurückgeht – auf „Nachhalt“ oder „Nachhall“. Und genau dieser kleine Unterschied lässt mich immer wieder ins Grübeln kommen. Aber erstmal von vorn…
Die Sicherung der Wachstumsgrundlagen
Obwohl wir dem Begriff „Nachhaltigkeit“ zwischenzeitlich überall begegnen und jede*r genau zu wissen meint, was unter dem Begriff zu verstehen ist, stelle ich in Diskussionen immer wieder fest, dass es sehr viele sehr unterschiedliche Ansätze der (individuellen) Definition gibt. Ich persönlich erschließe mir den Begriff über seinen Ursprung, welcher auf die Formulierung von Hans Carl von Carlowitz zurückgeht.
Carlowitz, Oberberghauptmann in Sachsen, war vor mehr als 300 Jahren zwar nicht der erste, der sich mit Nachhaltigkeit beschäftigt hat, aber er war der erste, der in seinem Buch „Sylvicultura Oekonomica“ Grundsätze einer zukunftsgerichteten Forstwirtschaft formulierte. 1713 beschrieb er darin das „Prinzip der Nachhaltigkeit“, das verkürzt gesagt im wesentlichen darauf beruht, dass nur so viele Bäume gerodet werden sollen, wie zur gleichen Zeit wieder aufgeforstet werden können. Dies war seiner Ansicht nach die Grundlage, um das beginnende ökonomische Wachstum zwar sicherzustellen, aber nicht beruhend auf dauerhafter (Zer-)Störung der Natur.
Insofern, und das kann man durchaus kritisieren, geht es im „Prinzip Nachhaltigkeit“ nicht vorrangig um Naturschutz, sondern um die dauerhafte Sicherung der Wachstumsgrundlagen in der aufkommenden Industrialisierung des Frühkapitalismus. Allerdings, so denke ich, hatte Carlowitz nicht die Beförderung des Kapitalismus im Sinn, sondern Natur- und Heimatschutz. Was hieran jedoch sichtbar wird, ist dass Nachhaltigkeit durchaus ambivalent gedeutet werden kann. Ein Beispiel:
Eine Seite zweier Medaillen
Meine liebe Freundin und Lehrerin, die Künstlerin und Meisterschülerin von Joseph Beuys Shelley Sacks, war mit den von ihr entwickelten Methoden zum nachhaltigen Handeln u. a. Vermittlerin im Auftrag der United Nations. Sie erzählte mir eines Tages von einem Fall, der die angesprochene Ambivalenz illustriert. Ich habe leider vergessen wo sich der Fall abgespielt hat, aber es ging um einen Konflikt zwischen einer indigenen Lebensgemeinschaft und einem der vier größten Mineralölkonzerne, welcher sich in der Nähe des Reservats von der Regierung Bohr- und Transportrechte gesichert hatte: Die Pipeline sollte direkt durch das Gebiet des Reservats gehen und dort v. a. den Ahnenhain und die Fläche, auf der die Indigenen ihre Lebensmittel und Kräuter anbauten bzw. fanden, durchqueren. Durch die Querung mit der Pipeline würden somit sowohl das Erbe, die Gedenkorte für die Ahnen, als auch die gegenwärtig lebensnotwendige Nahrungsgrundlage sowie die „Apotheke“ des Volkes, also die zukünftige Sicherung von Gesundheit und Vitalität zerstört werden, wogegen sich die Indigenen wehrten. Es gab starke Auseinandersetzungen, die letztlich ein Vermittlungsverfahren zur Folge hatten.
Was mich an den Ausführungen von Shelley Sacks berührte, war die Ambivalenz des Nachhaltigkeitsbegriffs der beiden Positionen. Ich habe lange darüber nachgedacht und kam zu dem Ergebnis, dass es nicht die sprichwörtlichen zwei Seiten einer Medaille sind, die sich hier zeigen, sondern schlicht zwei Medaillen. Denn wo die einen über die Erhaltung eines kulturellen Erbes sprechen, das direkt und lokal Identität, Nahrungsgrundlagen und Zukunft einer Kultur sichert, die im Einklang mit der bewohnten Natur lebt und aus dieser schöpft, sprechen die anderen über die temporäre Sicherung wirtschaftlicher Grundlagen, die indirekt und global Mobilität und Konsum unterstützt.
Vorhaltigkeit – Haltigkeit – Nachhaltigkeit
Wenn Sie sich den eben beschriebenen Fall ansehen, wo liegen Ihre Sympathien? Welches Anliegen können Sie stärker nachvollziehen, das der Indigenen oder das des Konzerns? Und für welches Anliegen machen Sie sich direkt oder indirekt stark?
Zugegeben, das ist eine hinterlistige, aber wichtige Frage, denn Nachhaltigkeit wird nicht einfach mit der nächsten Online-Bestellung mitgeliefert. Nachhaltigkeit mahnt uns, unser Verhalten zu prüfen, Wissen um die Konsequenzen unseres Verhaltens aufzubauen und Kriterien zum Erhalt von (endlichen) Ressourcen zu entwickeln. Kurz: Nachhaltigkeit erfordert Verantwortung, die durch nachhaltiges Handeln sichtbar wird, und mutiges, visionäres Denken, welches eine Zielvorstellung vorgibt. Aber dazu später.
Im Vergleich zwischen den Indigenen mit ihren Lebensbedingungen und uns mit den unseren scheint es mir, als hätten wir es mit unterschiedlichen Vorstellungen von Zeitlichkeiten zu tun – einem Leben in der Gegenwart gegenüber dem Leben aus der Zukunft heraus. Anders ausgedrückt ein weitgehend unbeschwertes Leben gegenüber einem verantwortlichen, welches auf Reflexion und Verzicht beruht.
Auf die oben gestellte Frage nach den Sympathien zurückkommend, würde dies bedeuten: sich für das Anliegen der Indigenen einzusetzen birgt in erster Linie eine große Verantwortung, die im Kern mit Verzicht zu tun hat – Verzicht auf Freizeit (da sich ja auch hier jemand dafür einsetzen muss, dass dieser Fall publik gemacht wird, dass es eine Gruppe geben muss, die versucht sich politisch und rechtlich für die Menschen und ihr Anliegen einzusetzen), Verzicht auf Komfort (da Mineralölkonzerne in viele Bereiche unseres täglichen Lebens hineinwirken: Mobilität, Produktion, Konsum, Bildung…) oder Verzicht auf Gewohnheiten, um nur einige Aspekte zu nennen. Sich für das Anliegen des Konzerns einzusetzen ist da schon viel einfacher: wir müssen lediglich innerlich einverstanden sein mit dem beschriebenen Wirtschaften dieser Akteure und können weitermachen wie bisher.
Corona Learnings
Kommt Ihnen diese Diskussion bekannt vor? Ich war erstaunt, wie sehr mich der beschriebene Inhalt an die aktuelle Diskussion um Corona und die Folgen und Auswirkungen erinnert hat. Wir diskutieren aktuell nichts weiter als die Folgen und Auswirkungen, worüber wir aber dringend sprechen müssten, wären Folgerungen: Welche Konsequenzen ziehen wir aus der Situation, wo ändern wir unser Verhalten und an welcher Stelle übernehmen wir Verantwortung? Gibt es sowas wie die nun viel beschriebenen „Corona-Learnings“?
Wenn ich ehrlich bin, habe ich da nicht so viel Hoffnung, da wir momentan eher indirekt von dieser Krise betroffen sind. Zumindest wir hier im globalen Norden, die das Glück haben in mehr oder weniger aber insgesamt stabilen und belastbaren Staatssystemen zu leben. Wenn ich aktuell um mich blicke, war die Corona-Zeit für viele sogar eher ein Segen, und das wird mir auch so berichtet: Gärten wurden kultiviert, Garageneinfahrten endlich neu gepflastert, Einkäufe von Kleidung bis Essen online erledigt, es gab eine Menge „Quality Time“ mit Kindern, Partnern und Freunden und jetzt, wir sind kurz vor Pfingsten, werden Autos und Caravane gepackt um endlich der Tristesse des häuslichen Alltags zu entfliehen. Ich habe das Gefühl, Gast auf der Insel der Glückseeligen zu sein.
Doch irgendetwas irritiert mich an dem Bild. So sehr ich mich für die Menschen freue, denen es gut geht, die gesund geblieben sind, kann ich diejenigen, die Corona gerade hilf- und schutzlos ausgeliefert sind, nicht aus diesem Bild herauslöschen und ich frage mich, wie kann es nachhaltig gelingen, Verantwortung zu übernehmen?
Die Rolle von Kunst und Kultur
Ich denke, wir müssen uns daran gewöhnen, dass es keine einfachen Antworten gibt. Denn in vielen Bereichen unseres Lebens scheinen sich Veränderungsprozesse abzuspielen, über die wir keine Kontrolle mehr haben. Hinzu kommt die zunehmende Komplexität der Prozesse, die es immer schwieriger macht, Zusammenhänge zu durchschauen und individuelle Einsatzfelder zu identifizieren.
Denken Sie nur mal an den Bereich Klimawandel, für viele Menschen ist der Unterschied zwischen Klima und Wetter schon nicht klar. Das führt mitunter dazu, dass sich Mutlosigkeit und Desorientiertheit breitmacht anstatt Engagement und Freude an einer handelnden (Welt-)Gemeinschaft.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie es uns dennoch gelingen kann, eine aktive Rolle bei der Gestaltung der globalen Zukunft zu übernehmen. Hierfür gibt es mit Sicherheit keine einfachen Antworten. Aber ich möchte gerne einen möglichen Weg zeigen:
Die Agenten des Wandels
Nachhaltiges Denken wird oft verwechselt mit Denken an oder über die Zukunft. In Wahrheit ist nachhaltiges Denken aber Denken aus der Zukunft. Es geht dabei um die Frage: Wie wollen wir und wie sollen die nachfolgenden Generationen zukünftig leben (dürfen)? Dieses Denken folgt dann einer Vision oder gar einer Utopie der Zukunft, die wir uns mit aller kreativer Kraft in den buntesten Farben ausmalen dürfen: Wir dürfen uns eine gerechtere Welt vorstellen, eine Welt in der die sich derzeitig abzeichnenden Umweltprobleme durch andere Mobilitätskonzepte, bewussteren Konsum und ressourcenschonende Produktion nicht eintreten, eine Welt in der niemand flüchten oder um sein Leben fürchten muss, da niemand von Außen kommt und seine Interessen mit Gewalt durchsetzt. Auch für die Chorarbeit ist es nützlich, sich die schönsten Szenarien auszuformulieren und sich vorzustellen, wie der Chor, den man schätzt und liebt, in 10, 20 oder 50 Jahren aussehen soll, wer mitsingen wird, was und wo gesungen wird etc.
Im Kern ist diese Mechanik, die Gegenwart aus der Zukunft her zu denken, im viel und oftmals falsch zitierten Satz von Joseph Beuys „Jeder Mensch ist ein Künstler […]“ enthalten. Denn nach seiner Idee des erweiterten Kunstbegriffs ist alles, was Menschen tun, ein kreativer Akt und somit künstlich. Der Schlüssel zu diesem Verständnis steckt allerdings im zweiten, für gewöhnlich nicht zitierten Teil der Aussage Beuys’: „[…] Damit sage ich nichts über die Qualität. Ich sage nur etwas über die prinzipielle Möglichkeit, die in jedem Menschen vorliegt. […] Das Schöpferische erkläre ich als das Künstlerische, und das ist mein Kunstbegriff.“
Das bedeutet dies nun in Bezug zur Nachhaltigkeit und einem nachhaltigen Denken? Wie ich die Aussage verstehe, ist für Beuys jeder Mensch ein Künstler, da er fähig ist kreative Prozesse in Gang zu bringen und damit potentiell sich selbst, die Rahmenbedingungen, Situationen oder Umstände in denen er sich befindet zu verändern. Wenn Sie so wollen, künstlerisch, im Sinne von schöpferisch, an das Leben und die Aufgaben heranzugehen und die Dinge konkret und lokal zu verändern.
Aus diesem Grund gehören zu den vordergründigen Aufgaben des/der Einzelnen zunächst einmal die Schulung der eigenen Wahrnehmung und der gezielte Austausch über praktische Erfahrungen oder theoretische Ansätze. Dabei lassen sich womöglich Muster und Analogien erkennen, die es ermöglichen, gemeinsam oder auch alleine Möglichkeiten für die Lösung von Herausforderungen kennenzulernen und Ideen für die Umsetzung zu entwickeln. Ziel sollte es sein, eine große Vielfalt an kreativen Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln und die erfolgsversprechende oder diejenige, welche am lustvollsten erscheint, auszuprobieren. Jeder Mensch nimmt sich somit auf kreative Weise (s)einer Verantwortung an und wird automatisch zum Agenten bzw. zur Agentin des Wandels.
Kunst und künstlerisches (im Sinne von schöpferisches) Handeln, kann auf diese Weise an Bedeutung für die sozio-kulturelle Entwicklung der Gesellschaft gewinnen und somit der Zündstoff für kollektive Veränderungen sein. Und hier spielt es keine Rolle, welcher Kunst man sich persönlich widmet: Ob bildende, darstellende oder performative Kunst wie z. B. das Singen im Chor. In dem Moment, in dem aus Gesellschaft Gemeinschaft wird, entsteht etwas Magisches: Man fühlt sich als Teil von Etwas, für das jeder Teil verantwortlich ist. Und um dieses Gefühl geht es, denn hier beginnt Verantwortlichkeit.
Nutzen wir unsere Möglichkeiten!?
„Verändere dich selbst, und dann wirke auf andere durch das, was du bist.“ Dieses abgewandelte Zitat Wilhelm von Humboldts möchte ich gerne an den Schluss dieses Artikels setzen. Denn ich bin überzeugt davon, solange wir mehr reden und nicht handeln, verspielen wir die Chance nachfolgender Generationen, eine ähnlich schöne Welt wie wir sie kannten, ein ähnlich gutes Leben wie wir es hatten, ähnlich viele Möglichkeiten und Chancen die wir nutzen konnten auch zu erfahren und darauf bauen zu können. Ohne Handeln, direktes, fokussiertes und konkretes Handeln, werden wir die Letzten gewesen sein, deren Ausgangspunkt Frieden, Wohlfahrt und demokratische Entwicklungsspielräume gewesen sind.
Fürwahr ist das, je nach politischer Färbung, eine sehr westliche oder nördliche Sichtweise, und genau hierin würde ich im Sinne einer globalen Nachhaltigkeit unsere Verantwortung sehen. Ich stelle Ihnen die Frage, ob es nicht genau an uns liegt dieses Privileg zu nutzen, um unsere Werte und Erfahrungen in die Welt zu bringen? Sollten wir die Ungerechtigkeiten der Welt, in deren Kenntnis wir gelangen, anstatt sie einfach nur zur Kenntnis zu nehmen, nicht eher aussprechen und uns aufmachen, uns für einen globalen „New Deal“ auf Basis einer neuen Kultur des Teilens, des gerechten und fairen Handelns, einer Wirtschaft die den Menschen dient nicht der Ökonomie, einsetzen? Ja, wer wenn nicht wir!?
Hier kann der andere Humboldt, Alexander, als leuchtendes Beispiel gelten. Ihm war die persönliche Erfahrung der wichtigste Indikator zur Veränderung des individuellen Handelns. Er war es auch, der sagte, dass auf globaler Ebene alles mit allem in Zusammenhang steht, wir uns also niemals aus der Verantwortung für andere (und seien sie noch so weit entfernt) stehlen können. Alexander von Humboldt merkte allerdings auch an, dass jede*r nur das als schützenswert erachten kann, was er/sie versteht und schätzt. Insofern geht es immer um eine direkte, persönliche und unmittelbare Erfahrung. Und für eine Erfahrung brauche ich eine Begegnung, eine Begegnung mit der Welt, mit Menschen, mit Geschichten. Diese Begegnungen helfen mir mich zu bilden, mich zu entwickeln, eine Haltung und Position aufzubauen, mich in andere hineinversetzen zu können.
Als Programm für eine solche Haltung biete ich den „Empathischen Realismus“ an, jedoch nicht als allumfassende und ausdefinierte Ideologie, sondern als praktisches, selbstdefiniertes, alltagskonkretes individuelles Handeln in einem Feld, welches jede*n von uns selbst am meisten berührt. Und hier denke ich gibt es innerhalb der Chorbewegung Einiges, von dem wir alle lernen können: Projekt- und Integrationschöre mit Geflüchteten oder Menschen mit Einschränkungen oder Behinderungen, Gemeinschaftsprojekte wie „#zusammenSINGENwirSTÄRKER“, die Demokratiebestrebungen, welche z. B. durch das cantament des SCV oder den Think Tank der Deutschen Chorjugend Gestalt annehmen, Chöre die eine Vorbildfunktion in Sachen Müllvermeidung einnehmen etc. In dieser Ausgabe erfahren Sie, werte Leserin, werter Leser noch einiges darüber. Deshalb lassen Sie sich inspirieren und uns gemeinsam das Gute in die Welt bringen. Es gibt so viel, das jede*r von uns direkt beginnen kann. Packen wir es an. Heute! Jetzt!