Wo finde ich neue Sängerinnen und Sänger?
Eine zentrale Aufgabe jeder Chorleiterin, jedes Chorleiters ist die Werbung fürs Mitsingen. Ein Chor ist heute keine festgefügte Gruppe mehr, der Zusammenhalt muss stets gepflegt und gefördert werden und sollte für neue Mitglieder attraktiv sein. Ein Ensemble schrumpft schnell und verliert durch Wegzug, Ausscheiden aus Altersgründen oder die in der langen Corona-Pause liebgewonnene Berieselung durch Netflix auf dem gemütlichen Sofa seine Sängerinnen und Sänger.
Im Folgenden einige Anregungen aus der Praxis, wie man Menschen fürs Singen im Chor begeistern kann.
Wen können wir einladen?
Natürlich träumen wir Chorleiter alle von einer jungen, im Singen und Hören geschulten, hoch flexiblen und höchst motivierten Chorgruppe, ausgewogen in den Stimmgruppen, mit einem transparenten Chorklang. Oft stehen wir aber vor einer Gruppe, eher Silbersee – von der Haarpracht her, ausgedünnt in den Stimmgruppen Tenor und Sopran, unausgewogen in der Besetzung, müde nach langen Arbeitstagen. Sie alle sind dem Chor seit vielen Jahren treu verbunden, das gemeinschaftliche Singen bedeutet ihnen viel. Diese Gruppe soll wieder wachsen, größer und leistungsfähiger werden. Hier müssen wir realistisch bleiben und uns überlegen, wer passt dazu, wer könnte zur Bereicherung beitragen?
Wir müssen unser Wohnumfeld innerlich abtasten, in welcher Lebensphase sind Menschen offen, etwas Neues zu starten? Versetzen wir uns einmal in andere hinein, wer könnte sich für unseren Verein interessieren? Hier ein paar Gedanken:
Nach einem Umzug in eine neue Umgebung: ein Chor bietet die Chance, am neuen Wohnort Kontakte zu knüpfen, über die Generationen hinweg, zu Alteingesessenen, zu anderen Neubürgern. Warum nicht im Neubaugebiet gezielt für einen Chor werben, sei es mit einer Einladungskarte im Briefkasten, mit einer Werbeaktion bei einem Straßenfest oder so, wie es ein älterer Landwirt gemacht hat, der angeboten hat, mit Traktor und Anhänger Erdfuhren zu übernehmen, falls man im Gegenzug einmal zum Schnuppern in den Chor kommt.
Sobald wir im Berufsleben gefestigt sind: die KollegInnen kennt man zur Genüge, aber irgendwie fehlt der Kontakt zu anderen Menschen im Wohnumfeld. Jetzt hat man Lust und Zeit etwas Neues zu wagen. Warum nicht gezielt für diese Gruppe werben, der Versuch ist es wert.
Sobald die Kinder aus dem „Gröbsten“ raus oder gar schon am Ausziehen sind: Jetzt ist Zeit, wieder etwas Gutes, Neues für sich selbst zu tun. Idealerweise mit einer Freundin oder der Partnerin, dem Partner zusammen.
Mit dem Eintritt in den Ruhestand: Ja, man ist dann schon reifer, aber hat Zeit und Lust auf Neues, auf interessante Menschen und kann den lang gehegten Traum, Musik zu machen, endlich ausleben. Diese Gruppe hat die Zeit und teilweise die finanziellen Möglichkeiten, sich umfassend zu schulen, z.B. durch Gesangsunterricht. Menschen, die neu im Ruhestand sind, bringen neben der musikalisch-geselligen Bereicherung oft enorme Kenntnisse und Fähigkeiten mit, die für die Leitung und Verwaltung eines Vereins von unschätzbarem Wert sind.
Chor neu denken – neue Chorformen für neue Zielgruppen
Noch bevor man neue Mitglieder in den Chor bringt, muss man sich überlegen, wie man sie integrieren kann. Oft ist es sinnvoll, neue SängerInnen zunächst in einer eigenen Gruppe Erfahrungen sammeln zu lassen. Diese sollte gezielt an die bestehende Chorarbeit gekoppelt werden und mit dieser im Austausch stehen. Die Schwierigkeit ist, dass beim Einstieg in eine erfahrene Chorgruppe, die Schwelle hoch ist, es fehlen die Erfahrung, die Notenkenntnisse, die eigene Stimme muss erst gefunden, entwickelt und das Hören geschult werden.
Man sollte sich beim Werben für einen Chor bewusst machen, dass wir Menschen dazu neigen, wenn wir uns auf etwas Neues einlassen, uns am liebsten in der gleichen Altersgruppe bewegen und die Interessen und der (musikalische) Geschmack ebenfalls übereinstimmen sollten. Hier ein paar Ideen für besondere Chorformen und Anregungen für Veränderungen:
Eltern-Chor: ein Chor, der vormittags probt, sobald die größeren Kinder im Kindergarten sind, mit gleichzeitiger Kinderbetreuung im Nebenraum für die kleinsten Geschwisterkinder. Diese kann durch Mitsängerinnen im Ruhestand aus den anderen Chören erfolgen.
Ein wunderbares Netzwerk für junge Eltern. Dort wird die gleiche Literatur wie in den anderen Chören erarbeitet und die SängerInnen kommen in der Endphase vor den Aufführungen zu den letzten Proben mit dazu.
Chor für Menschen im Ruhestand: es gibt viele Menschen, die in jungen Jahren in der Schule oder einem Kinderchor gute Erfahrungen mit dem Singen gemacht haben. Ein Berufsleben lang träumten sie davon, wieder einmal in einem Chor zu singen, der Beruf, die Familie haben es jedoch nicht zugelassen. Im Ruhestand haben sie jetzt Zeit, freuen sich über neue Kontakte, sind aber nicht in jedem Chor ihres Alters und der fehlenden Erfahrung wegen willkommen. Dieser Chor könnte auch tagsüber proben. (Dies wird sehr geschätzt im Chor der Musikakademie für Senioren BW e. V.)
Chor-Schule: Eine neue Chorgruppe, angeschlossen an einen bestehenden Chor, in der Probleme beim Notenlesen, Entwickeln und (Wieder-)entdecken der Gesangsstimme in Ruhe angepackt werden.
Kneipensingen: ein erster Einstieg ins Singen kann über ein offenes, zunächst einstimmiges Singerlebnis erfolgen. Einige ChorsängerInnen treffen sich in einer Kneipe und laden offen zum Mitsingen ein. Natürlich muss der Wirt im Vorfeld eingebunden werden, aber auch er freut sich über neue Gäste. Ein E-Piano oder ein altes Kneipenklavier, auf dem schwungvoll begleitet wird, unterstützt die Wirkung.
Offenes Weihnachtsliedersingen: Ein offenes Weihnachstliedersingen bietet die Möglichkeit, ganze Familien fürs Singen zu begeistern. An einem Adventsnachmittag in gemütlicher Runde gemeinsam Weihnachtslieder zu singen ist eine Möglichkeit für Viele, die eigene Stimme wiederzuentdecken. Dies kann auf lokaler Ebene ein schönes Gemeinschaftserlebnis sein, bei der fürs Chorsingen geworben werden kann. Schafft man es, den örtlichen Sportverein dafür zu begeistern, so kann man vielleicht ein ganzes Fußballstadion füllen, wie dies in Berlin gelingt.
Schnupperprobe: Jedes Chormitglied bringt zu einem bestimmten Termin mindestens eine Person mit, die die Chorarbeit auf diese Weise kennenlernen soll. Die persönliche Werbung durch die Chormitglieder ist immer die wichtigste und effektivste.
Kooperationen anstreben – Partnerchöre suchen: Es ist faszinierend, dass wir so eine reiche Chorlandschaft haben. Versuchen wir einmal, andere Chöre nicht als Konkurrenz zu sehen, sondern als Kooperationspartner. Dies bietet enorme Chancen. Die Gruppe wird größer und leistungsfähiger und dadurch auch für Neuzugänge attraktiver. Man kann so auch größere Werke aufführen, die sonst nicht leistbar wären. Die wochenlangen Proben werden belohnt mit einer zweiten Aufführung am Konzertort des Partnerchores. Man kann sich mit dem/der ChorleiterIn des anderen Chors in den Proben abwechseln und diese effektiver gestalten, indem man im Partnerchor korrepetiert oder Proben mit einzelnen Stimmgruppen übernimmt und natürlich auch umgekehrt. Die SängerInnen haben zwei Probentermine und Orte zur Auswahl und könnten sogar zweimal in der Woche proben. Dies ist eventuell für Neusänger interessant, die sich richtig „reinknien“ und schnell Erfahrung sammeln möchten.
Nachbarschaftschor: Für viele Menschen ist es spannend, Leute aus der direkten Nachbarschaft kennenzulernen. Vielleicht entsteht daraus nur eine kleine Gruppe, aber für ein zeitlich begrenztes Projekt kann sich dieser Aufwand lohnen, wenn man es versteht, diese Gruppe an einen bestehenden Chor anzugliedern.
Literatur, die anspricht: Die Literaturauswahl, die für ein Konzertprojekt getroffen wird, ist entscheidend für die Attraktivität für neue SängerInnen. Diese muss auch von der Stammbesetzung gemeistert werden und sollte zu ihr passen.
Probenbeginn – andere Uhrzeit, andere Tageszeit, anderer Wochentag: Gerade in Chören, deren überwiegende Mehrheit aus Mitgliedern im Ruhestand besteht, sollte diskutiert werden, ob man die Probe nicht auf den Vormittag oder Nachmittag verlegt. Dann sind alle noch „frisch“ und voller Energie, man muss nicht abends und bei Dunkelheit aus dem Haus und kann eine gemütliche Kaffeepause einlegen für den wichtigen Klatsch und Tratsch. Mit der Entscheidung, gezielt bei Menschen im Alter 60+ zu werben, hat man am Ende eine homogenere Gruppe und eventuell schneller mehr neue Mitglieder.
Ein Jugendchor, der am Samstagnachmittag probt, bietet die Chance, eine Anfahrt aus einem großen Einzugsgebiet zu bewältigen und ermöglicht es Studierenden oder Azubis die auswärts leben, zur Probe zu kommen. Dies funktioniert nur, falls diese schon als Kinder und Jugendliche in diesem Chor gesungen haben und er ihnen zur musikalischen Heimat geworden ist.
Projekte erleichtern den Einstieg
Idealerweise erfolgt eine Werbeaktion in Verbindung mit einem Chorprojekt. Offen für Neues, zeitlich begrenzt und überschaubar mit einer attraktiven Aufführung am Ende. Zunächst muss diese Aufführung gut geplant und dann rückwärts berechnet werden, wie viele Proben, Ganztagsproben oder gar ein Probenwochenende in einem Tagungshaus dafür notwendig sind. Allerspätestens sechs Wochen vor diesem errechneten Probenstart sollte die Werbung dafür erfolgen.
Ein weiterer Vorteil beim Einladen für ein Projekt ist, dass sich auch die „alten Hasen“ in die neue Literatur einarbeiten müssen, das schafft eher ein Gefühl der Gleichheit.
Werbung, aber wie?
Alle Chormitglieder sind hierbei gefordert, im Kollegen- und Freundeskreis von diesem Chorprojekt zu schwärmen, dafür brauchen sie einen Flyer mit allen Daten, den sie verteilen können. Auf der Chor-Homepage muss dieses Chorprojekt detailliert beschrieben und mit ansprechenden Bildern beworben werden. Die Presse sollte informiert und eingebunden werden, damit über das neue Projekt berichtet wird. Neue Medienkanäle wie Instagram, WhatsApp, evtl. Snapchat oder das mittlerweile hauptsächlich von der Altersgruppe 60+ noch genutzte Facebook müssen bedient werden, im besten Falle von Menschen, die dort viel „unterwegs“ und wirklich zu Hause sind.
Argumente fürs Singen im Chor
Gerade jetzt, in der Pandemiezeit, in der das Singen – für uns alle bisher unvorstellbar – mit Gefahr assoziiert wird, ist es wichtig, die guten Argumente fürs Singen im Chor und den Nutzen für die Gesundheit und unsere Gesellschaft wieder in das allgemeine Bewusstsein zu rücken. Wir haben inzwischen gelernt, wie wir proben können, ohne eine ganze Chorgruppe durch einen Super-spreader zu infizieren. Hier stichwortartig einige Argumente, die wir in unsere Werbung fürs Singen im Chor einbringen müssen, damit Singen wieder positiv gesehen wird:
Gesundheitliche Aspekte:
Das Singen …
- baut Stresshormone (Adrenalin) ab und schüttet Glückshormone aus
- stärkt das Immunsystem durch eine vermehrte Produktion von Immunglobulin A
- wirkt harmonisierend und regulierend auf die Psyche
- dämpft negative Gefühle, macht selbstbewusster
- schult unsere (Sprech)-Stimme, unseren Verstand und unser Gedächtnis
- vernetzt die rechte und linke Gehirnhälfte
- schult die Sprache, hilft beim Erlernen einer Fremdsprache
Kulturelle und soziale Aspekte:
- wir machen Musik mit unserem (ur)eigensten Instrument, unserer Stimme
- wir gestalten Kultur, wir werden Teil eines Kunstwerkes
- man entwickelt Teamfähigkeit und soziales Verhalten
- Singen macht uns und anderen Freude, schafft Gemeinschaft, ermöglicht Begegnung
- Singen erleichtert den Spracherwerb (wichtig für Kinder)
- Singen hilft bei der Integration und fördert die Empathie Fähigkeit
Willkommenskultur im Chor
In meinen Chören gibt es einen Tabu-Satz: „Do sitzt emmer d´Erika“. Anfangs musste ich beobachten, wie neue Chormitglieder, die zum Schnuppern kommen, von Platz zu Platz gehen mussten und immer weitergereicht wurden und sich aufs Herzlichste unwillkommen fühlen mussten. Dies geht überhaupt nicht. Willkommenskultur muss in so einem Fall thematisiert und geübt werden. Neue Gesichter müssen freudig begrüßt, angesprochen und herzlich willkommen geheißen werden. Am besten setzt man sie neben jemand sehr Erfahrenen mit sicherer Stimme. Dies schafft etwas Unmut bei denen, die sich sonst gerne neben diese sicheren SängerInnen setzen, und jetzt verunsichert sind. Wie ist dies dann bei der nächsten Probe, bleibt es bei dieser neuen Sitzordnung?
Dieses Problem lässt sich bei gezielter Werbung für ein Projekt lösen, denn dann kommen hoffentlich viele Neue gleichzeitig, die man dann zusammensetzen kann. Überhaupt ist für den ganzen Chor eine gezielte Rotation und häufige Änderung der Sitzordnung gut, denn dadurch schulen wir das Hören, was sich positiv auf den Chorklang auswirkt.
Mit diesen Zeilen möchte ich ein paar Ideen weitergeben, wie alternde, schrumpfende Chöre zukunftsfähig werden können. Nach unserer Corona-Pause sind viele Chöre kleiner geworden, müssen sich wieder neu finden. Noch können wir nicht mit attraktiven Konzertzielen werben, sollten uns aber Gedanken machen, wie wir losstarten möchten, sobald Chorsingen wieder unbeschwert möglich ist. Dafür wünsche ich Ihnen alles Gute!