(m)eine Meinung.
In meiner Tätigkeit als Musikbeiratsmitglied und Kirchenmusiker kam es in den letzten Jahren oft zur selben Situation: ein Chorleiter geht, kein neuer kommt. Die Suche nach qualifizierten Chorleitern ist zunehmend ein Problem und eine Lösung nicht in Sicht. Warum? Weil wir seit Jahren nur den Mangel verwalten.
Überall herrscht Mangel
Mangel einerseits auf wirtschaftlicher Seite, wo Honorare für Freischaffende nicht einmal ansatzweise kongruent sind mit Tarifen und Honorarempfehlungen von TVöD, Verbänden und Gewerkschaften. Wenn ich als freischaffender Chorleiter sechs, sieben, acht Chöre leiten muss, um ein geregeltes Auskommen zu erwirtschaften (weit weg von „normalen“ Tariflöhnen), dann wird dieser Beruf (und ja, es ist ein Beruf) uninteressant und nebenbei gesagt auch gesundheitsgefährdend. Und selbst wenn der Hauptberuf ein anderer ist, müssen wir uns fragen: was ist unsere Freizeit wert, die wir als Chorleiter in Proben, Sitzungen und Fortbildungen verbringen? Die Corona-Pandemie hat auch hier einen katalytischen Effekt, weil viele Chöre von einem Tag auf den anderen die Honorarzahlungen eingestellt haben. Wertschätzung sieht anders aus.
Mangel andererseits auf Seiten der Erwartungshaltungen. Ein Chor ist ein Arbeitgeber und trägt damit auch Verantwortung dafür, dass sein Personal Möglichkeiten bekommt, Perspektiven zu entwickeln. Das bedeutet Fortbildung auf der einen Seite, Möglichkeiten zu gestalten auf der anderen. Ein Landschaftsgärtner ist jede Woche mit einem neuen Gelände konfrontiert, ein Jurist regelmäßig mit neuen Fallkonstellationen. Wir Chorleiter werden zu Akkordarbeitern, die den Ensembles Woche für Woche die selbe Art von Chorsätzen in die Schädel donnern und froh sind, wenn es nach ein paar Monaten wieder abrufbar ist.
Es geht nicht ohne Leistung
Auch hier ein Mangel. Nämlich der Mangel an Leistungsbereitschaft. Jeder von uns Chorleitern wünscht sich insgeheim, mal eine Bachkantate aufzuführen. Oder die Carmina Burana, oder einfach mal ein längeres, zusammengehöriges Stück mit Band, Orchester, Solisten oder Szene. Stattdessen hört man diesen einen Satz immer und immer wieder, bis man selbst dran glaubt: „Wir sind halt ein Laienchor“. Hinter diesen fünf Worten steckt ein ganzes Universum voll Selbstbetrug und Ausflüchten. Denn es gibt sie, die Chorsänger, die Amateure, die trotzdem leistungsbereit sind. Die kaufen sich eine CD und hören sie hoch und runter, die arbeiten mit Übehilfen oder nehmen sich regelmäßig Gesangsunterricht. Aber das Gros der Leute, behaupte ich, betrachtet Chorsingen nicht einmal als Hobby. Oder wissen Sie, wer der neue Chefdirigent des SWR Vokalensembles ist, oder wer gerade Gastdirigate beim RIAS Kammerchor macht? Jeder Fußballer weiß, wer wen trainiert und welcher Spieler wohin wechselt. Die trainieren zweimal die Woche, gehen zusätzlich joggen und ins Fitnessstudio, schauen sonntags Sportschau und gehen einmal im Monat ins Stadion. Was macht der Chorsänger? Er legt seine Noten nach der Probe säuberlich in die Tasche und holt sie in der kommenden Woche zu Beginn der Probe wieder raus.
Ein Mangel an Ehrgeiz
Ich will in keinster Weise sagen, dass Chorsingen keine große gesellschaftliche Komponente hat. Im Gegenteil. Dennoch: Wer sagt, „ich mach‘ das halt zum Spaß“, vernachlässigt dabei immer ein wenig, dass der Chorleiter viel Herzblut, Zeit und Aufwand in die Sache steckt. Und außer einem Honorar dafür etwas zurückbekommen möchte.
Ich will Sie sensibilisieren für das, was sich sicher viele Chorleiter für Ihren Alltag wünschen: abwechslungsreiche Projekte mit neuen Herausforderungen, und nicht zum fünfunddrölfzigsten Mal ein ABBA-Medley. Versetzen Sie sich doch mal in die andere Position und fragen Sie sich: Würde ich das machen wollen? Ich weiß nicht, wie unzählig oft ich gegen die Skepsis, das Desinteresse und den Widerwillen einiger Sänger angeredet habe. Geduldig und einigermaßen freundlich bleibend, auch wenn ganz klar war, dass das Gegenüber lediglich unfähig war, über den eigenen Schatten zu springen und gewohnte Bahnen zu verlassen.
Selbst die Umstellung einer Sitzordnung oder das Antragen von längeren, unbekannten Stücken gleichen ja zuweilen einem kriegerischen Akt. Würden Sie das machen wollen?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Chöre und Chorleiter auf lange Sicht dann erfolgreich sind, wenn interessante Projekte, Konzertreisen und Wettbewerbe zusammenschweißen. Und wenn sich ihre Programme zwischen Morley, Bach, Pärt und Grönemeyer bewegen. Wer als Chorleiter und Chor jahrelang nur die eine Schublade bedient, der ist entweder Idealist, nicht zurechnungsfähig oder extrem frustriert.
Nur wenn wir anfangen umzudenken, kann es gelingen, Menschen für diese Tätigkeit zu gewinnen. Auch Chorleiter brauchen (abgesehen von einer soliden Qualifikation und einem wertschätzenden, finanziellen Honorar) Herausforderungen und Perspektiven, und dafür sind Sie verantwortlich, jeder Einzelne. Sonst behält das gängige Sprichwort Recht, das sagt: „Es muss Honorar sein, was ich hier bekomme. Schmerzensgeld wäre mehr…“