eine lösungsorientierte Anregung zum Umgang mit Konflikten
Chorsingen bringt Freude, stärkt die Gemeinschaft, die Zugehörigkeit und die Gesundheit. Doch neben allen restlos positiven Aspekten bleiben wir auch im Chor – wie überall, wo Menschen miteinander wirken und arbeiten – nicht verschont vor herausfordernden zwischenmenschlichen Situationen wie Meinungsverschiedenheiten, Missverständnissen und Konflikten.
Doch warum ist das eigentlich so? Meinen wir es nicht eigentlich alle gut, wollen wir nicht alle unseren Spaß haben und eigentlich „nur“ unsere Leidenschaft für die Musik ausleben?
Ich möchte Ihnen im Folgenden vier Gründe erläutern, warum die Zusammenarbeit im Chor trotz guten Willens oft so herausfordernd ist.
- Wir sind als Menschen egozentrisch und gehen grundsätzlich von uns selbst aus:
Vielleicht stutzen Sie ein wenig, denn das Wort „egozentrisch“ hat immer ein wenig ein „Gschmäckle“ und ist im alltäglichen Sprachgebrauch mit eher negativer Bedeutung belegt. Was es aber im ursprünglichen Wortsinn eigentlich nur bedeutet, ist: jeder Mensch schaut aus seiner persönlichen Perspektive auf die Welt – und nimmt daher in erster Linie seine eigenen Erfahrungen, Überzeugungen und Vorstellungen als Maßstab. Das ist grundsätzlich sogar sinnvoll, denn müssten wir bei allem, was wir in unserem Leben wahrnehmen und dem wir so begegnen neu überlegen, wie wir dies einordnen und bewerten, dann wäre unser Gehirn den ganzen Tag über hemmungslos überfordert. Eine gewisse Richtschnur an Einstellungen und Werten, an denen wir die Geschehnisse spiegeln und abgleichen können, ist also grundsätzlich mal kein Fehler.
Herausfordernd wird es dann, wenn wir übersehen, dass die Menschen um uns herum auch jeweils aus ihrer eigenen Perspektive auf die Dinge blicken und möglicherweise ab und zu, aber sicherlich
nicht immer die gleichen Erfahrungen, Bedürfnisse und Vorstellungen haben wie wir selbst. In dem Moment, in dem wir das Verhalten eines anderen Menschen nicht verstehen, irritierend oder gar völlig unlogisch finden, haben wir höchstwahrscheinlich vergessen, dass dieser nicht durch unsere „Brille“ auf die Welt schaut, sondern seine ganz eigene Sicht hat, die ihn und sein Verhalten prägt.
Wenn wir uns also öfter in Erinnerung rufen, dass unser Gegenüber möglicherweise von etwas anderem angetrieben wird als wir selbst, dann können wir versuchen, zu ergründen und zu erfragen, was es mit der anderen Perspektive auf sich hat und wie das Verhalten des anderen aus seiner Sicht plötzlich sinnvoll erscheint. Dabei hilft die Grundannahme: unterschiedliche Betrachtungsweisen sind nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel. Entscheidend ist, wie wir damit umgehen und versuchen, diese miteinander in Einklang zu bringen.
- Wir streben nach Bestätigung und Anerkennung:
Als Menschen sind wir soziale Wesen und identifizieren uns zu einem nicht unerheblichen Teil durch die sozialen Bindungen, die wir haben – in unseren Familien, im Arbeitskontext und in Freundeskreisen und anderen Gruppen, die unsere Freizeitgestaltung prägen. Ein wesentlicher Teil eines Zugehörigkeitsgefühls ist die Bestätigung und Anerkennung durch andere Menschen. Wir alle möchten Wertschätzung erhalten, ganz allgemein als Person, für das, wer und was wir sind, aber auch für das, was wir machen.
Verbunden mit dem zuvor erläuterten Grund der „Egozentrik“ kann dies bedeuten, dass wir uns verunsichern lassen, wenn jemand andere Meinungen und Perspektiven hat, weil es dazu führen kann,
dass wir unsere eigenen Vorstellungen als bedroht wahrnehmen.
Hilfreich ist hier, wenn wir uns bewusstmachen, dass unsere eigenen Einstellungen und Betrachtungsweisen nicht weniger wert werden, nur weil jemand anderes einen ganz anderen Blick auf die Sache hat. Wir alle sind geprägt von unseren Erfahrungen und Gewohnheiten, nicht zuletzt auch durch unsere Erziehung und Sozialisierung und dem, was wir von frühester Kindheit an möglichen Glaubensätzen und Regeln mitbekommen haben.
- Die meisten Menschen sind (vor allem im Freizeitkontext) harmoniebedürftig:
Auch wenn Sie vielleicht denken, dass dies doch gerade ein Grund sein müsste, der gegen Konflikte und zwischenmenschliche Herausforderungen spricht, ist oft leider genau das Gegenteil der Fall. Als harmoniebedürftige Menschen mögen wir es am liebsten, wenn wir einer Meinung sind, uns gegenseitig bestätigen und bestärken (siehe oben), wenn wir uns gut verstehen und gemeinsame Ziele verfolgen können. Soweit, so gut. Dieses Harmoniebedürfnis kann aber auch dazu führen, dass wir Meinungsverschiedenheiten und aufkommende Konflikte nicht rechtzeitig wahr- und ernstnehmen und uns oft nicht trauen, Dinge anzusprechen, um „die Stimmung nicht zu gefährden“, keinen Konflikt „heraufzubeschwören“ oder oft auch einfach nur, weil wir nicht so genau wissen, wie genau wir etwas ansprechen könnten. Das Problem ist aber: wenn wir Differenzen nicht ansprechen, dann verschwinden diese nicht von alleine, sondern werden im Gegenteil oft noch größer. Wenn es dann zu einer Situation kommt, in der ein Konflikt ganz offensichtlich wird, dann ist dieser Situation meistens bereits im Verborgenen viel Ärger, Unsicherheit und Sorge, im schlimmeren Fall sogar Verletzung und Kummer vorausgegangen und es wird immer schwieriger, Lösungen zu finden und Gräben zu schließen.
Wenn wir also die Perspektive einnehmen, dass „Harmonie“ nicht gleichbedeutend ist mit „wir dürfen nicht unterschiedlicher Meinung sein / uns nicht streiten / keine Konflikte haben“, sondern im Gegenteil gerade einen offenen und konstruktiven Umgang miteinander schaffen soll, in dem auch Meinungsverschiedenheiten und Konflikte ganz bewusst Raum haben dürfen, dann trauen wir uns vielleicht, frühzeitig Dinge in einem konstruktiven Umgang anzusprechen, bevor es zu größeren Eskalationen kommt.
- Bei Freizeitaktivitäten und im Ehrenamt sind wir mit besonders viel Herzblut dabei:
Während die drei zuvor genannten Gründe sicherlich recht allgemeingültig sind und auf Menschen in ganz unterschiedlichen Kontexten angewendet werden können, ist dieser Grund einer, der in unserem Kontext von Chorgesang und Vereinen eine besondere Rolle spielt. Singen im Chor ist allgemein eine Tätigkeit, die Leidenschaft und Interesse voraussetzt. Entscheiden wir uns dann noch bewusst dazu, einem Verein beizutreten, uns dort verbindlich und für einen längeren Zeitraum zu engagieren, übernehmen wir vielleicht sogar noch ein Ehrenamt, dann sind wir in der Regel mit einigem Herzblut dabei und identifizieren uns in hohem Maße mit dem, was innerhalb des Chors und des Vereins passiert. Dies kann aber auch dazu führen, dass wir empfindlicher sind für Dinge, die uns stören, die vielleicht nicht nach unseren Vorstellungen ablaufen oder die vielleicht sogar manches Mal unsere eigenen Bemühungen zu durchkreuzen scheinen.
Hier hilft es also, wenn wir uns über diese möglicherweise erhöhte „Verletzlichkeit“ im Klaren sind und auch im Hinterkopf behalten, dass es den meisten anderen Beteiligten höchstwahrscheinlich ebenso geht – deren Verhalten ist vermutlich ebenso von ihrem persönlichen Herzblut für die Sache geprägt.
Was machen wir jetzt damit?
Jetzt haben Sie einen kleinen Einblick gewonnen, welche Faktoren dabei eine Rolle spielen, dass es höchstwahrscheinlich auch in Ihrem Chor immer mal wieder zu Meinungsverschiedenheiten und Konflikten kommt – und zwar nicht deswegen, weil irgendetwas falsch läuft, sondern im Gegenteil, weil es völlig normal ist.
Aufbauend auf dem Bewusstsein über die genannten Punkte können nun zwei Dinge sehr hilfreich sein:
- Machen Sie sich immer und immer wieder die Tatsache bewusst, dass unser Denken und Handeln von dem geprägt ist, was wir erfahren haben, was uns wichtig ist, und ja, auch von dem, was wir sehen und wahrnehmen wollen. Unser Blick auf die Welt ist immer nur unser ganz persönlicher Ausschnitt. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine andere Person genau den gleichen Ausschnitt sieht, ist relativ gering. Bestimmt gibt es Überschneidungen, erst recht dort, wo gemeinsame Interessen da sind und gemeinsame Ziele verfolgt werden. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass früher oder später unterschiedliche Wahrnehmungen Bewertungen und Vorstellungen zu Tage kommen und vielleicht zu Meinungsverschiedenheiten, Missverständnissen oder Konflikten führen, ist sehr hoch und völlig normal.
Wenn Sie anerkennen, dass jeder Mensch seinen eigenen Ausschnitt der „Wirklichkeit“ sieht und wahrnimmt und dieser Ausschnitt für ihn oder sie auch einen Sinn ergibt, dann dürfen Sie sich von dem Gedanken verabschieden, dass es eine „objektive“ Wirklichkeit und Wahrheit gibt. So oft jagen wir dem Gefühl nach, eine objektive Einschätzung zu bekommen, was „richtig“ ist, oder wollen jemanden
davon überzeugen, dass er oder sie „falsch“ liegt. Wenn wir zulassen, diese Kategorien aus unseren Köpfen zu streichen, dann müssen wir uns nicht mehr daran abarbeiten, wer „recht“ hat, sondern können in den Austausch über unsere unterschiedlichen Ausschnitte der Wirklichkeit gehen und somit Raum für zahlreiche Lösungsansätze schaffen.
Zwei Geschichten zur Verdeutlichung
Um das Thema „individuelle Wirklichkeit“ zu veranschaulichen und warum wir Dinge stets auf Basis unserer persönlichen Erfahrungen bewerten, möchte ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Sie entstammt dem Kinderbuch „Fisch ist Fisch“ von Leo Lionni: Ein Frosch kommt nach einem Ausflug zum Teich zurück und erzählt dem Fisch von seinen Erlebnissen. Unter anderem hatte er eine Kuh gesehen. Er berichtet: „Da war ein großes Tier mit vier Beinen und dunklen Flecken, es hatte Hörner, pinke Säcke, aus denen Milch kommt, und aß Gras!“ Wie stellt sich der Fisch aus Fischperspektive wohl die Kuh vor? Als Fisch, der vier Beine, dunkle Flecken, Hörner, pinke Säcke und ein Büschel Gras im Maul hat.
- Der oben angesprochene Austausch von persönlichen Wirklichkeiten für besseres gegenseitiges Verständnis und für die Lösung von Konflikten gelingt nur, wenn wir unsere Bedürfnisse kommunizieren. Dass Kommunikation grundsätzlich wichtig ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Entscheidend für Konfliktlösungen ist aber, was wir kommunizieren. Oft bleiben wir bei der Beschreibung unserer Meinungen und Vorstellungen stehen. Wenn unsere Gegenüber dies auch tun, dann sind wir in der Regel bestens informiert über die Standpunkte des jeweils Anderen, kommen aber keinen Schritt weiter, weil wir nicht wissen, wie wir diese unterschiedlichen Standpunkte zu einer Lösung verbinden können.
Was nun hilft, ist, dahinter zu schauen: Warum ist mir etwas so wichtig? Welche Bedürfnisse prägen meine Vorstellungen? Welche Wertvorstellungen haben Einfluss auf meine Meinungen? Wenn wir es schaffen, unseren Mitmenschen nicht nur unsere Standpunkte zu kommunizieren, sondern auch die Bedürfnisse, die dahinterstehen, dann wird das gegenseitige Verständnis um ein Vielfaches erhöht, wir verstehen, warum unser Gegenüber so denkt und handelt, wie er oder sie es tut – und es fallen uns möglicherweise plötzlich Lösungsideen ein, auf die wir gar nicht gekommen wären, wenn wir die Bedürfnisse nicht gekannt hätten.
Dazu ebenfalls eine anschauliche Geschichte, die ich gerne in Seminaren verwende, in denen es um die Bewältigung von Konflikten geht: Zwei Menschen streiten sich um eine Orange. Beide überlegen, wie sie zu einer guten Lösung kommen könnten. Naheliegend ist, die Orange zu zerteilen und jedem eine Hälfte zu geben – das stellt aber beide nicht so recht zufrieden und sie empfinden es als faulen Kompromiss. Sämtliche Argumentation, warum nur einer die Orangebekommen und der andere leer ausgehen sollte, führen ebenfalls ins Leere und zu Frustration. Plötzlich fangen sie an, sich darüber auszutauschen, was sie mit der Orange eigentlich machen wollen. Es stellt sich heraus, dass der eine einen Kuchen backen möchte und dafür Orangenschale braucht, der andere will Orangensaft pressen. Mit diesen Informationen fällt ihnen plötzlich auf, dass sie die Orange einfach in Schale und Fruchtfleisch trennen können und beide zufrieden und glücklich damit sind – eine Lösung, die sie nie in Erwägung gezogen hätten, wenn sie nicht nach den Bedürfnissen hinter den Standpunkten gefragt hätten.
In diesem Sinne: haben Sie Mut, zum einen die Haltung anzunehmen, dass es keine objektive Wahrheit gibt und dass das Verhalten Ihres Gegenübers in seiner Perspektive immer Sinn ergibt und zum anderen, Ihre Bedürfnisse hinter Ihren Standpunkten zu kommunizieren und die Ihres Gesprächspartners aktiv zu erfragen – Sie werden bei manchem Missverständnis oder Konflikt merken, dass dadurch ein großer Raum an gegenseitigem Verständnis und Lösungen entsteht.