Der schwierige Balance-Akt zwischen Führen und Folgen
Rollenwechsel stehen im Chor häufig an. Immer wieder müssen Aufgaben aus der Chormitte heraus übernommen werden, die in einer professionellen Arbeitsumgebung der festen Führung obliegen würden. Grund dafür ist zum einen die Vereinsstruktur, aufgrund derer der Vorstand turnusmäßig neu mit Chormitgliedern besetzt wird. Zum anderen werden die meisten anfallenden Aufgaben, wie zum Beispiel die Pressearbeit oder Konzertorganisation unter den Sänger*innen verteilt, sodass auch ein „normales Chormitglied“ hin und wieder vor den Chor treten und sein Thema repräsentieren, entscheiden und verantworten muss.
Wenn ein Chormitglied eine Führungs-Aufgabe übernimmt, sprechen wir von Rollenwechsel. Bei der betreffenden Person geht damit auch ein Perspektivenwechsel einher, der nicht immer reibungslos gelingt. Dies führt dann unweigerlich zu Konflikten innerhalb der Gruppe. Ein Rollenwechsel kann natürlich auch in die andere Richtung erfolgen: Zum Beispiel, wenn ein Vorstandsmitglied seinen Posten aufgibt oder aufgeben muss und sich nun als einer unter vielen in der Chormitte wieder findet.
Ein typischer Rollenwechsel findet oft in Chören statt, die auch choreografisch arbeiten. Meist übernimmt jemand aus der Gruppe den Posten des Choreografen oder der Choreografin und muss fortan zwischen den beiden Rollen hin und her pendeln.
Es gibt zwei grundsätzliche Seiten im Chor:
Um die Schwierigkeit dieses Themas zu verstehen, schauen wir uns zunächst die beiden grundsätzlichen Seiten an, auf denen man im Chor stehen kann und mit denen ein Rollenwechsler konfrontiert ist: Entweder man gehört zur Gruppenleitung oder zur Gruppe selbst. Die Leitung ist normalerweise auf das Fortkommen der Gruppe, auf die Verbesserung der Leistung und die Sache an sich fokussiert. Die Chormitglieder werden aus dieser Perspektive heraus entweder als unterstützend oder bremsend wahrgenommen. Für gewöhnlich übt eine Führung auf bremsende Mitglieder einen gewissen Druck aus, um sie entweder zum Unterstützen oder zum Ausscheiden zu bewegen. Der (geheime) Wunsch jeder Leitung ist, dass alle Teilnehmer*innen an Bord das Schiff auf Kurs und in Fahrt halten und der Rest das Schiff verlassen möge. Persönliche Belange des Einzelnen spielen dabei eine untergeordnete Rolle und werden nur vorübergehend als Grund für mangelnden Einsatz akzeptiert. Die Gruppenziele stehen über den persönlichen Belangen des Einzelnen und Gemeinschaft.
Der restliche Chor empfindet sich als freundschaftliche Gemeinschaft mit einem gemeinsamen Hobby. Druck von oben wird oft als Machtausübung wahrgenommen, dem schon aus Prinzip ein gewisser Wider-
stand entgegengesetzt wird. Es besteht nämlich stets ein kleiner Zweifel daran, dass es der Führung um die Sache allein und nicht um die Machtausübung geht. Dies ist ein wichtiger Mechanismus, der Machtmissbrauch in Gruppen entgegenwirkt!
Jedes feste Chormitglied möchte gern in der Gruppe verbleiben und verteidigt sein Recht auf Mitgliedschaft – unabhängig vom persönlichen Einsatz für die Gruppenziele. Persönliche Belange spielen untereinander eine große Rolle. Es geht um gegenseitiges Verständnis, Zugehörigkeit und die Gemein-
schaft an sich. Ein Ausschluss aus der Gruppe wird möglichst vermieden, und zwar auch dann, wenn sich ein Mitglied nicht förderlich den äußeren Zielen gegenüber verhält. Der (geheime) Wunsch jedes Chormitglieds ist, akzeptiert zu werden und in der Gemeinschaft zu verbleiben – egal, wieviel Einsatz es für die Gruppenziele momentan bringen kann. Daher gewährt man dieses Recht auch anderen. Freundschaft und Zugehörigkeit stehen über den Gruppenzielen.
Bei einem Rollenwechsel wechselt man die Seite
Dass das schwierig werden kann, liegt auf der Hand! Konzentrieren wir uns im Folgenden auf den häufigsten Fall: Ein Chormitglied tritt aus den Reihen der Gemeinschaft heraus, um etwas vor der Gruppe anzuleiten. Diese Person verlässt das Nest der kuscheligen Gemeinschaft und wird zu einem Teil von „die da oben“. Sie spürt die Skepsis und sofort auch den inhärenten prinzipiellen Widerstand gegen ihre Ideen, da sie nun als Teil der Führung betrachtet wird. Sie selbst muss den Perspektivenwechsel von „beziehungsorientiert“ zu „sachorientiert“ vollziehen und geht dabei das Risiko ein, dafür aus der Chorgemeinschaft zumindest emotional ausgeschlossen zu werden. Um es auf den Punkt zu bringen: der eigentliche Wechsel ist ein Werte-Wechsel.
Wie kann dieser Rollenwechsel nun so vollzogen werden, dass er für alle Beteiligten einen Gewinn darstellt? Zunächst mal das Wichtigste: Rollenwechsler sind auch Mittler zwischen den Welten. Wer beide Seiten kennt, nimmt meist in Diskussionen eine vermittelnde Position ein. Je mehr (gelegentliche) Rollenwechsler es im Chor gibt, desto besser ist es für das Gruppenklima und desto weniger können sich Fronten verhärten.
Nichtsdestotrotz ist diese Position schwierig und wer das erste Mal dort hinkommt, braucht sicher etwas Unterstützung:
- Im Team arbeiten
Es ist einfacher, sich nicht allein der Situation auszuliefern, sondern stattdessen im Team zu arbeiten. Ein Choreo-Team, ein Presse-Team oder ein Outfit-Team ist auch aus inhaltlichen Gründen hilfreich, da man Arbeit teilen kann.
- Sich fortbilden
Ein wichtiger Faktor, damit der Rollenwechsel gelingt, ist die Sachkompetenz. Wer sich als kompetent erweist, sowohl in Sachfragen als auch in der pädagogischen Methode, fühlt sich besser und hat es deutlich leichter. Die Gruppe baut nach und nach Vertrauen auf, was die wichtigste Voraussetzung für einen gelungenen Rollenwechsel darstellt.
- Die formelle Zustimmung der Gruppe und des Vorstandes einholen
Oft entstehen Schwierigkeiten, weil dieser Schritt nicht ordentlich vollzogen wurde. Es ist aber nie zu spät dafür! Wann immer der Eindruck entsteht, dass die neue Rolle von einer Seite angezweifelt, nicht ernst genommen oder übergangen wird, kann und sollte diese Zustimmung nochmals eingeholt werden.
- Sich selbst eine Probezeit einräumen
Wenn die neue Rolle zunächst für einen abgegrenzten Zeitraum übernommen wird, gibt das der betreffenden Person die Möglichkeit, zu einem späteren Zeitpunkt die erneute Entscheidung zu treffen: Läuft das so, wie ich mir das vorgestellt habe? Halten sich die Schwierigkeiten in Grenzen? Errei-
che ich meine Ziele? Fühle ich mich gewertschätzt in der neuen Position? Wenn die Antwort ja lautet, ist dies auch ein ausgezeichneter Zeitpunkt für ein erneutes Einholen der Zustimmung von Gruppe und Vorstand.
Je mehr gelungene Rollenwechsel in einer Gruppe stattfinden, desto besser verschmelzen die Sichtweisen von Leitung und Chor miteinander. Die Leitung erkennt, dass ein vertrauensvolles Miteinander eine gesunde Basis und Voraussetzung für zielorientierte Arbeit ist, und die Gruppe realisiert, dass man ohne Ziel und zielorientiertes Handeln stehen bleibt und die Entwicklung stockt.
Die Verteilung der Verantwortlichkeiten im Chor ist daher ein wichtiger Baustein gelungener Chorarbeit.