Ein Kommentar vom stellv. Musikdirektor Nikolai Ott
Was für ein Jahr! Ich weiß nicht, wie Sie das vergangene Jahr erlebt haben, neben vielen unbefriedigenden Erfahrungen gab es sicher auch schöne Momente und Gemeinschaftsleistungen, auf die Sie stolz sind. Viele Chöre haben sich online „getroffen“, Videos produziert und „geprobt“, andere wiederum haben sich im Freien verabredet und viel Interessantes auf die Beine gestellt. Das finde ich gut, und so ähnlich habe ich es auch versucht…
Um ehrlich zu sein, waren meine Bemühungen nicht von viel Erfolg gekrönt, und ich musste feststellen, dass ich um die eigentlichen Gründe der Sänger herumgearbeitet habe, aus denen sie bis 2019 in die Chorproben gekommen sind. Als dann noch die letzten beiden Konzerte im November und Dezember gestrichen worden sind, für die ich fast 10.000€ akquiriert hatte (die jetzt z. T. verfallen), da habe ich den „Bettel“ hingeschmissen.
Die Feststellung, dass ich im Prinzip sechs Monate auf Maßnahmen verwendet habe, die letztendlich nichts anderes als gescheiterte Versuche darstellten, analoges Chorleben in digitale Formate zu pressen oder Corona-konform durchzuführen, hat mich nicht gerade bestärkt. Ich (und ich spreche für mich ganz persönlich) bin sicher: Chorarbeit geht nicht Corona-konform. Unsere Leidenschaft lebt davon, dass man Schulter an Schulter steht, seinen sängerischen Output mit den Umstehenden abgleicht, dass man lacht, schwätzt, sich ärgert, umfassend zwischenmenschliche Kontakte pflegt und gemeinschaftlich etwas auf die Beine stellt. Sehr schnell habe ich gemerkt, wie wenig sich davon in Videoproben oder Proben mit zwei Metern Abstand vermittelt. Vielleicht müssen wir diesen Fakt einfach akzeptieren.
Allen Unkenrufen zum Trotz bin ich sicher: das ist nicht das vielbeschworene Ende der Amateurmusik, im Gegenteil. Viele werden bemerkt haben, was fehlt und warum eine Gemeinschaft wie Chor und Orchester, aber auch Sport und gemeinschaftliche Hobbys für uns als Herdentiere notwendig sind. Sicher, wir haben alle Verluste zu beklagen, an der Pandemie katalysieren sich Entwicklungen. Nicht umsonst besteht das chinesische Wort (weiji) für „Krise“ aus den Zeichen „Gefahr“ (wei) und „Chance“ (ji). Das mag zwar eine nette Anekdote sein, aber die Frage für uns Chorleiter muss in dieser Zeit sein: wie mache ich aus diesem (man ist schon geneigt, das Adjektiv ‚historisch‘ zu verwenden) Bruch eine Chance oder einen „Auf-Bruch“?
Gleich zu Anfang: ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wir werden im Lauf der Zeit wieder lernen müssen, Nähe zuzulassen und uns in Situationen stellen, die für mehr als ein ganzes Jahr gefährlich sein konnten. Medial ging die Amateurmusik durch die Schlagzeilen, selten hatten Singen und Musizieren so viel Presse wie 2020. Dieses Erbe müssen wir nun antreten und verwalten, und wahrscheinlich auch einige Scherben dessen aufkehren, was in den vergangenen und kommenden Monaten zerbrochen ist. Nicht zuletzt auch Vertrauensverluste, wo Chorleiter- und Solistenhonorare nicht gezahlt wurden oder gezahlt werden konnten.
Wie stellen wir uns dem, und was ist unser Platz? Ich will die nächsten Wochen und Monate nutzen, unsere Sänger wieder zusammen zu bekommen und vielleicht auch den ein oder anderen „Neuen“ für diese Sache zu begeistern. Die Stellschrauben dafür sind recht schnell benannt: gute Projekte, interessante Formate, und vor allem Freude an der Sache. Jedoch – und das wird die große Aufgabe – müssen wir neu lernen, dass Nähe geht und für unsere Sache unabdingbar ist.
Und so mache ich weiterhin die Dinge, zu denen ich im Alltag nicht komme: Ich richte Partituren ein für die Stücke, die ich in den nächsten Monaten und Jahren angehen will. Und ich lese endlich wieder Sach- und Fachbücher, Biographien und Komponisten-Briefe: sie sind mir immer wieder Quelle für Inspirationen und verrückte Vorhaben. Vielleicht ist es auch sinnvoll, unsere Chöre in diese Überlegungen miteinzubeziehen: Bei aller diktatorischen Chorleiterehre kann das ein partizipatives Element sein. Schreiben Sie doch mal einen Ideenwettbewerb für ein besonderes Konzertformat aus (Garagenkonzert, Feierabendkonzert, Konzert im Dunkeln etc…). Je mehr wir Sänger und Sängerinnen jetzt einbeziehen, umso größer sind Identifikation und Beteiligung, wenn es wieder losgehen darf.
Einstweilen bleibt uns nichts, als den Kontakt zu wahren. Ich habe das seit dem Sommer nicht mehr mit Proben gemacht, sondern mit kleinen Online-Vorträgen über Schlüsselwerke der Musikgeschichte oder Komponisten, die nicht im Fokus der Sänger gestanden sind. Zugegebenermaßen war die Resonanz nicht besonders groß. Aber ich muss mir nicht vorwerfen, dass meine kläglichen Versuche, ein Chorprobenfeeling zu erzeugen, nicht funktioniert haben.
Ob das gut oder schlecht ist, muss jeder für sich selbst klären. Jetzt richte ich den Blick wieder nach vorne und mir raucht der Kopf, denn es wird nicht ganz so einfach werden, wie ich mir das gedacht habe…