Sängerfasnet in früherer Zeit
Am Dreikönigstag hat für die Narren im Südwesten offiziell die „Fünfte Jahreszeit“ begonnen. Allerdings wird heuer wegen der Pandemie nichts aus den diversen Fastnachtsaktivitäten, bei denen auch die Sängerschaft sonst gerne mitmacht.
Die Fastnacht bzw. der Karneval ist ursprünglich ein Kind des christlichen Mittelalters. Am Tag vor Aschermittwoch, dem Beginn der 40-tägigen Fastenzeit, wurden früher die Lebensmittel, die unter das Fastengebot fielen und nicht bis Ostern haltbar waren, aufgebraucht („carne vale“ heißt „Fleisch lebe wohl“). Bei diesem letzten Festschmaus hat man sich außerdem noch einmal so richtig ausgelassen vergnügt, denn in der Fastenzeit waren generell alle Lustbarkeiten verboten.
Die katholische Kirche hat diesen „Übergangsbrauch“ nicht nur geduldet, sie hat ihn sogar pädagogisch instrumentalisiert. Als Grundlage dafür diente ihr die augustinische „Zweistaatenlehre“. Laut dem Kirchenlehrer Augustinus steht dem irdischen Staat (civitas terrena), in dem Torheit, Wollust und Sünde herrschen, ein wohlgeordneter „Gottesstaat“ (civitas dei) gegenüber. Die Fastenzeit versinnbildlicht diesen Gottesstaat, den man durch ein Leben in Buße anstreben soll, die Fastnacht dagegen verkörpert das irdische Reich. Wer aber könnte besser begreifen, was Umkehr und Buße bedeutet, als der, der zuvor über die Stränge geschlagen hat!
Keine Fastenzeit – keine Fastnacht
Der Protestantismus stand der Fastenzeit ablehnend gegenüber. Mit ihrer Abschaffung verlor aber auch die Fastnacht ihren Sinn. So ist sie in den reformierten Gebieten, auch im evangelischen Alt-Württemberg, bald erloschen. Erst im 19. Jahrhundert hat man sie dort allmählich wieder eingeführt, nun aber als reine Vergnügung ohne einen religiösen Bezug. An der Wiege dieses neuen Faschings standen meist bürgerliche Organisationen, die sich als Aufgabe die „Pflege der Kultur und Geselligkeit“ in die Statuten geschrieben hatten, also auch viele Sängervereine.
Bei der Neugestaltung der „Fünften Jahreszeit“ hat man nicht nur die Traditionslinien der schwäbisch-alemannischen Fasnet aufgegriffen, sondern auch Formen des rheinischen Karnevals. Weitere Vorbilder fand man in den „Redouten“ (Maskenbällen), die während des Absolutismus an den Fürstenhöfen nach italienischem Vorbild inszeniert worden sind.
Redouten und Elektrisches Licht
Bei den neuen städtischen Liederkränzen standen vor allem Masken- und Kostümbälle hoch im Kurs. Häufig waren sie nach einem Motto ausgerichtet und mit heiteren Wort-, Musik- und Tanzeinlagen abwechslungsreich gestaltet. Die aufgeführten Sketche nahmen oft auf aktuelle Vorgänge Bezug. Der Stuttgarter Liederkranz griff z. B. 1884 auf seiner „Fasnachtsredoute“ das damals brennend interessante Thema „Einführung des elektrischen Lichts“ auf.
In einer kleinen Szene mit dem Titel „Kampf zwischen Gas und Electrizität“ trat – wie die Schwäbische Chronik später berichtet – eine „frische Frauengestalt“ als Personifikation der Elektrizität auf die Bühne. Dort jagte sie (natürlich nur spielerisch) die Gasbeleuchtung durch eine Explosion in die Luft und entschied so den Kampf für sich. (Mit den neuartigen Elektro-Leuchten, deren Strahlkraft als sensationell empfunden wurde, hat der Liederkranz später auch die Liederhalle ausgestattet. Eine Ansichtskarte zur Fastnachtsredoute von 1898 zeigt den ehemaligen Festsaal mit seinen elektrischen
Kronleuchtern, darunter das fröhliche Treiben der närrischen Gesellschaft.)
Alm und Olymp
Ein anderer historischer Kartengruß informiert uns über das Motto, unter dem 1903 der Liederkranz Geislingen seine „Fastnachtsfeier“ veranstaltet hat: „Auf der Alm da gibt’s koa Sünd“. Volkstümliches war in jenen Jahren generell groß in Mode, man liebte Trachten, Volksmusik und das Leben auf dem Land. Vermutlich sind die Gäste zu diesem Fest auch alle in Volkstrachten erschienen.
Während man 1903 in Geislingen sein Fastnetsvergnügen in einer Phantasiewelt mit feschen Burschen und züchtigen Sennerinnen auf bayerischen Almen suchte, strebte man im selben Jahr in Tübingen nach höheren Gefilden. Der Gesangverein der Universitätsstadt richtete sein Fest stark auf das akademisch gebildete Bürgertum aus. Das Fest-Motto hieß: „Der Sängerkranz zu Besuch bei den Göttern des Olymp“.
Ein Komitee des Sängerkranzes hatte im Januar mit einem Plakat alle Mitglieder dazu aufgerufen, am 14. Februar an einem Maskenball im Gesellschaftshaus „Museum“ mitzuwirken. Für die Teilnehmer hatte man sich eine passende Verkleidung ausgedacht: „Die altgriechischen Costumes sind sowohl für Damen als für Herren sehr kleidsam und dabei leicht herzustellen.“ (Den Teilnehmern von Kostümbällen hat man überhaupt gern mit phantasievollen Entwürfen von Künstlerhand und Herstellungsanleitungen zur Seite gestanden.)
Phantastische Reisen, geplatzte Reisen
Das Reisen, ob zur Alm, zum Olymp oder in exotische Gefilde, war generell ein beliebtes Thema von Fastnachtsbällen. Das Motto des Sängerkranz-Karnevals 1914 war: „Eine Reise nach Italien“. Als Kostümvorgabe wurde gemacht: „Kleidung aller Nationen des 20. Jahrhunderts, Volks- und typische Figuren Italiens und der Mittelmeerländer.“ Kostüm hin oder her – 1914 ist es bei einer reinen Phantasiereise geblieben: Im Sommer brach der Krieg aus und ab August 1916 befand sich Deutschland im Kriegszustand mit Italien. Es gab keine Italienfahrten mehr, und bis Kriegsende auch keinen Karneval.
Wenn wir schon beim Reisen sind, sei daran erinnert: Mit den Auswanderern kam das Sängervereinswesen und die Tradition der großen Faschingsfeiern in alle Welt. Die Sängergesellschaft Arion New York (gegr. 1854) und der Liederkranz New York (gegr. 1847) haben zu Karneval prächtige Redouten veranstaltet, über die die dortige Presse gern mit Bild und Wort berichtet hat. Im Februar 1871 wurde es dabei sogar richtig politisch: Bei ihrer ersten Redoute nach der Gründung des Kaiserreichs ließen die New Yorker Liederkränzler eine Germania auftreten, die unter den Augen Kaiser Barbarossas dem neuen Kaiser Wilhelm die Krone aufsetze.
„Die Zahl der Narren ist unendlich“, hat schon vor 3.000 Jahren König Salomon festgestellt.