Durch Ausbildung und Qualifikation zu mündigen und engagierten Mitgliedern
Nachwuchsarbeit – es gibt wenige Worte, auf denen so viele Hoffnungen und Erwartungen in der Vereinsarbeit liegen. Doch so oft dieser Begriff auch bemüht wird, so wenig eindeutig ist meist die Erkenntnis, was sich dahinter verbirgt. Es geht um die Erhaltung der Singfähigkeit, die Erweiterung des Vereins oder Engagierte für das Ehrenamt zu finden. Nachwuchsarbeit – ein wichtiges und schwieriges Gebiet. Doch die Frage ist: muss man nicht schon in einem viel jüngeren Alter die Nachwuchsarbeit verankern? Nicht nur Anreize für Erwachsene bieten, sondern Kinder und Jugendliche durch Ausbildungen, Förderung und Bestärkung zu mündigen Erwachsenen zu bilden, für die ein Engagement im Verein eine Selbstverständlichkeit ist? Die Chorjugend im Schwäbischen Chorverband stellt mit den D-Lehrgängen für Jugendliche und zwei neuen Ausbildungsformaten für Kinderchorleiter:innen, dem Kinderchorleiter-Coaching und einer neuen Kinderchorleiterausbildung, den Rahmen für eine durchgängige Ausbildung auf. Andreas Schulz, Musikdirektor der Chorjugend und Jan Martin Chrost, stellv. Musikdirektor der Chorjugend beziehen zu diesem Thema Stellung:
Isabelle Arnold: Ist eine gute musikalische Ausbildung von Kindern und Jugendlichen im Chor effektive Nachwuchsarbeit?
Andreas Schulz: Das ist unbedingt mit „ja“ zu beantworten. Was einen in der Kindheit prägt, ein Hobby, eine Leidenschaft, die man in der Kindheit gerne und mit Spaß gemacht hat, die lässt einen nicht mehr los, oder wenn man erst einmal durch äußere Umstände davon abgehalten wird, kommt man irgendwann wieder darauf zurück. Und was ich als Kind oder Jugendliche:r gelernt habe, möchte ich auch als Erwachsener anwenden. Je besser wir also die Kinder und Jugendlichen in unseren Chören in allen Belangen des Chorsingens bilden, desto größer ist die Chance, dass sie weitersingen (gilt sowohl in der Jugend als auch im Erwachsenenalter). Außerdem entsteht durch gute musikalische Ausbildung im Kinder- und Jugendchor nicht nur Nachwuchs an Chorsänger:innen, sondern auch an Chorleiter:innen.
Isabelle Arnold: Gibt es Grundpfeiler in der Kinderchorarbeit, die jeder Verein erfüllen sollte?
Jan Martin Chrost: Vereine können vieles vor Ort unternehmen, um grundlegende Voraussetzungen für eine gewinnbringende und langfristig effizient aufgestellte Kinderchorarbeit zu schaffen. Schnell denkt man an finanzielle Rahmenbedingungen: angemessen bezahlte:n Leiter:in, Jahresetat, Notenanschaffung, Teilnahmegebühren für Veranstaltungen, Chor-Shirts, etc. Wichtiger sind die nicht materiellen Gegebenheiten:
- Wird der Kinderchor im Verein wahr- und ernstgenommen?
- Wird die Arbeit der Leiter:in als wichtiger Bestandteil im Verein gesehen und wertgeschätzt?
- Interessieren sich andere Gruppierungen des Vereins für die Arbeit mit und für die Kinder?
- Hat der Kinderchor reizvolle und fordernde Aufführungsgelegenheiten und -möglichkeiten? (… Oder singen ausschließlich die Erwachsenen zu „wichtigen“ Anlässen?)
- Ist der Probenraum ansprechend gestaltet und erfüllt die Anforderungen für die musikalische Arbeit mit Kindern?
All diese Punkte haben zunächst nichts mit einer Finanzierung zu tun, sondern mit Haltung. Diese trägt maßgeblich dazu bei, dass Kinderchorleiter:innen, junge Sänger:innen und ihre Eltern Freude am Singen und am Chor haben. So entsteht Gemeinschaft und die Freude an der Gemeinschaft ermöglicht langfristige Bindung.
Isabelle Arnold: Man hört im Zusammenhang mit dem Lernen im Kinderchor immer wieder den Begriff der „Softskills“, was hat es damit auf sich und warum ist es der Chorjugend ein so wichtiges An-
liegen, diese in den Fokus zu rücken?
Andreas Schulz: In einem Kinderchor kann man mehr lernen als Singen und den Umgang mit Musik. Ein Chor ist gleichzeitig eine soziale Gemeinschaft, in der Verhaltensweisen geprägt und erprobt werden können. Sie bietet in überschaubarem Rahmen die Möglichkeit sich zu engagieren und auszuprobieren. Das sind wichtige Fähigkeiten, die man im weiteren Leben immer wieder braucht, und die können Heranwachsende in unseren Chören in diesem geschütztem Umfeld lernen und erfahren.
Isabelle Arnold: Welche Maßnahmen trifft die Chorjugend im SCV, um Partizipation und Empowerment in Kinder- und Jugendchören zu fördern?
Andreas Schulz: Eine Schiene der Förderung sind die Aus- und Weiterbildungen, sowohl für die Chorleiter:innen von Kinder- und Jugendchören, für die Jugendleiter:innen, aber auch für die Sänger:innen selbst, mit z.B. den D-Lehrgängen oder Lotsen und Mentoren. Eine zweite Schiene sind finanzielle Förderungen, wie zum Beispiel die Anschubfinanzierung von neugegründeten Kinderchören, oder Zuschüsse für Überfachliche Arbeit, sowie Zuschüsse zu besonderen Projekten. Außerdem ist die Chorjugend im SCV beratend für ihre Mitglieder da, unter anderem auch mit „Best-Practice“-
Beispielen und ähnlichem.
Isabelle Arnold: Ist eine fundierte Ausbildung für Kinderchorleiter:innen ein Muss für gute Nachwuchsarbeit?
Jan Martin Chrost: Mit Pauschalisierungen soll man bekanntlich vorsichtig sein. So würde ich unter Umständen manchen nicht ausgebildeten Kinderchorleiter:innen Unrecht tun, wenn ich sage, es geht nur mit einer fundierten Ausbildung. „Ausnahmen bestätigen die Regel“, sagt man. Offen gestanden ist mir eine solche Ausnahme jedoch nicht bekannt. Eine fundierte Ausbildung ermöglicht der:dem Leitenden maximale Flexibilität – im besten Fall auf allen Ebenen: Stilistik, Literaturkenntnis, Liedbegleitung, fachlichen und fachliches (Hintergrund-)Wissen, Dirigat, Pädagogik, Methodik, Didaktik, Reaktionsfähigkeit, Arbeiten auf unterschiedlichen Niveaus, etc. Ernüchternd wird man feststellen, dass man nicht in allen Bereichen „perfekt“ sein kann, sodass das Streben nach dem Ideal zwangsläufig einen immerwährenden Prozess beschreibt: kontinuierliche Entwicklung durch Lernen, Hören, Sehen und Austauschen – hier sind es nicht selten die Kinder selbst, die einem die Augen öffnen. Eine fundierte Ausbildung ermöglicht einen Überblick des großen Kosmos’ „Kinderchor“, öffnet zum eigenständigen kontinuierlichen Lernprozess und schafft Grundfertigkeiten, grundlegendes Handwerkzeug, das Flexibilität erst möglich macht.
Isabelle Arnold: Die neuen Ausbildungs-Linien „Kinderchorleiter-Coaching“ und „Kinderchorleitung“: Wie fügen sich diese Bausteine in das Ausbildungskonzept ein?
Andreas Schulz: Im Kinder- und Jugendalter werden wichtige Weichen für das spätere Leben gestellt und deshalb ist es umso wichtiger, dass die Helfer:innen bei dieser Weichenstellung äußerst kompetent und sehr gut ausgebildet sind. Und die „Helfer:innen“ sind im Kinderchor in erster Linie die Chorleiter:innen. Es gibt zwar Ausbildungen zum:r Chorleiter:in, aber die sind unserer Meinung nach zu unspezifisch für die Arbeit im Kinderchor. Deswegen haben wir die Kinderchorleiterausbildung entwickelt, der ganz spezifisch und fokussiert auf Arbeit mit Kinderchören vorbereitet. Diese Ausbildung geht ein ganzes Jahr und erfordert einiges an zeitlichem Engagement der Auszubildenden. Um aber möglichst viel und viele zu erreichen, haben wir gleichzeitig noch das Kinderchorleiter-Coaching konzipiert, um auch eine niederschwel+ligere Fortbildung für Kinderchorleiter:innen zu bieten, die schon im Tun sind. Sie bekommen mit dieser Fortbildung ein Coaching, welches sie bei ihrer üblichen Arbeit im Kinderchor begleitet. Das bedeutet nur einen geringen zusätzlichen Zeitaufwand bei gleichzeitiger hoher Effizienz durch die direkte Eins-zu-Eins Betreuung.
Isabelle Arnold: Welche Rolle spielt die D-Ausbildung im Gesamtkonzept dieser Ausbildungen?
Jan Martin Chrost: In den D-Ausbildungen soll schrittweise eine Eigenverantwortlichkeit im Musizieren ermöglicht werden. Die Freude am Singen und Musizieren haben Interessent:innen in ihren Chören gesammelt und werden ermutigt, ihre Fähigkeiten in den D-Ausbildungen zu festigen, auszubauen und mit musikalischem Grundwissen zu untermauern. Auf diese Weise können die jungen Teilnehmer:-
innen Freiheit in ihrer Kreativität sowie musikalische Reife erlangen. Dass beispielsweise die Deutsche Chorjugend jüngst einen einheitlichen Standard formuliert und veröffentlicht hat, zeigt und unterstreicht die Notwendigkeit, das Interesse und die Wichtigkeit einer D-Ausbildung für unsere Chöre und deren Sänger:innen, für unsere Vereine und Verbände sowie für den Bildungsauftrag im Kulturbereich unseres Landes. Dadurch und in ihnen weiten sich die Handlungsmöglichkeiten unserer Sänger:innen aus und Ihre Handlungsmöglichkeiten weiten sich aus und natürlich wächst die Freude stetig mit. Entscheidend ist bei diesem Prozess vor allem auch die (individuelle) Persönlichkeitsentwicklung: Selbstsicherheit, Selbstbewusstsein, (innere) Haltung und Meinungsbildung.
Isabelle Arnold: Was wäre eine Gesellschaft ohne Musik: Muss kulturelle Nachwuchsarbeit gefördert werden? (Nicht nur nach Corona, sondern auch generell?)
Jan Martin Chrost: Unzählige Forschungen und Studien haben sich schon lange mit dem Wirken und den Einfluss der Musik auf den Menschen beschäftigt. Die Liste der durch das Singen positiven, über die musikalischen Fertigkeiten hinausgehenden Kompetenzen ist lang. Man über lege einmal, wie eng die menschliche Stimme mit der Psyche des Menschen und seiner Physiologie zusammenhängt. Mit der Stimme können Prozesse in Gang gesetzt werden, sie reagiert aber auch überaus sensibel z.B. auf äußere Einflüsse – ein Wechselspiel ungeahnten Ausmaßes. Zudem ist mir kein Medium bekannt, das derart viele Themen und Fachgebiete verbindet und sich nahezu in alle Bereiche vernetzen lässt.
Der Einfluss von Klängen, Musik und der Stimme beginnt bereits vor der Geburt, weshalb der Kontakt zwischen Musik und Mensch gar nicht früh genug angestrebt werden kann. Eine Gesellschaft ohne Musik ist für mich daher unvorstellbar. Ja, die musikalische Bildung und vor allem das Singen muss zwingend im gesellschaftlichen Interesse sein. Sie sollte ein Grundrecht für jeden Menschen sein und dafür muss rechtlich und politisch Sorge getragen werden! Daher ist es mir unerklärlich, dass der Musikunterricht in Schulen zum politischen Spielball missbraucht werden kann und zu oft finanziellen Hürden gegenübersteht. Mehr noch: kulturelle Nachwuchsarbeit muss in allen Bereichen unserer Gesellschaft gefördert und gestärkt werden.