Wie kann ich ein gutes Chorangebot für Jugendliche schaffen?
Ich erinnere mich an meine ersten Versuche mit der Querflöte. Ich muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Spielen in einer Gruppe, zuerst nach Gehör, dann nach Noten. Bei dieser Stufe stieg ich aus. Kein Interesse mehr, abgestempelt: nicht musikalisch, gar nicht zu reden von musikalisch förderungswürdig. Keine ambitionierte Lehrkraft, die fragte, warum ich plötzlich nicht mehr zum Unterricht käme.
Eine früh beendete Karriere?
Ich hätte eines von den Kindern werden können, für die das Thema „Musik machen“ und ein Instrument lernen ein Tabuthema hätte werden können. Wie eine Pflanze, die plötzlich nur noch in der Ecke steht, keine Zuneigung und Zuwendung mehr bekommt. Sich etwas zuneigen – das bedeutet, dass es eigentlich schon da ist. Es bedeutet auch, sich um etwas kümmern und sich annehmen.
Immer wieder finden Schüler:innen zu mir, meist die etwas Älteren, die berichten, dass sie in ihrer Kindheit oder Jugend von einer Lehrkraft oder einer Bezugsperson immer wieder den Stempel „Du kannst nicht singen, Du bist nicht musikalisch“ aufgedrückt bekommen haben. Ehe man sich versieht, steht die junge Pflanze in der Ecke, noch bevor sie eine Chance hatte, eine Zuneigung zu entwickeln. Manche stehen noch heute dort.
Die Grundlagen werden früh gelegt
Wer nicht in einer musik- oder singaffinen Familie aufwächst, hat heute noch einige Schritte mehr zu gehen, um sich zu dieser Liebe zum Singen oder zu einem Instrument bekennen zu können und diese Freude dann auch auszuleben. Das Projekt der Deutschen Chorjugend „Together! – Chor.Leben“ möchte diesen Weg für junge singbegeisterte Menschen einfacher machen. Im Jahr 2021 werden in jedem Bundesland Ensembles gegründet, die sich an Jugendliche richten, die noch nicht in Chören oder Vereinen singen, in deren Familien das Thema Musizieren und Singen noch keine große Bedeutung hat.
Zwei Ensembles in Baden-Württemberg
Eins davon gründe ich im Raum Ludwigsburg/Marbach. Bis die Teilnehmer:innen über einen Namen entschieden haben, nenne ich das Projekt „Bock auf Voc“. In Zeiten wie … – ach Sie wissen schon – … ist dieses Vorhaben, milde gesagt, eine sehr große und spannende Herausforderung. Die Gegensätze werden immer größer. Hier die Vereine, die mit Mitgliederschwund kämpfen, die Chöre, die aufgeben müssen und verschwinden; dort die Erfolgsgeschichten wie „Sing meinen Song“, „The Voice“ und zahlreiche junge Künstler:innen, die mit ihrer Musik im Netz und in den sozialen Medien groß heraus kommen. Das Glück und die Freiheit scheinbar zum Greifen nah.
Es gibt so viele so gute Gründe, sich einzusetzen und zu engagieren für die musikalische Förderung von Kindern und Jugendlichen. Das Bild des Mädchens im Haus gegenüber kommt mir dabei als erstes in den Sinn. Manchmal steht es auf dem Balkon, nimmt die Hände in die Luft, tanzt und singt. Einfach so. Ich könnte nun weit ausholen und sozial-politisch erläutern, warum die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gesellschaftlich so wichtig und richtig ist. Ich verzichte darauf und gehe zurück zu dem Bild, wenn das Mädchen tanzt. Ich sehe einen Menschen in großer Freude mit sich selbst!
Ein junger Mensch, der ganz lebendig ist und mit sich und seinen naheliegendsten Möglichkeiten etwas anzufangen weiß. Wenn ich tanze, singe, musiziere, dann komme ich in Kontakt mit mir selbst. Dass sich Kinder und Jugendliche an diesem Ort der Selbst-Zuneigung und Selbst-Zuwendung aufhalten, ist hoch unterstützenswert. Wer sich selbst fühlt, kann auch andere besser fühlen und sich besser aus-
drücken. Wer Freude mit sich selbst hat, kommt mit den vielen Facetten des Lebens besser klar.
Die Jugendlichen heute wachsen mit einem Überangebot an Möglichkeiten auf. Per Klick oder per Download kann man etwas oder jemand sein. Wo früher Lagerfeuer war, brennen heute virtuelle Wälder, die man retten und löschen kann, um ein Held zu sein.
Ein Überangebot, das überfordern kann
Es gibt viele laute Stimmen, die rufen „komm zu uns, das ist gut für Dich“. Die Zeit zerrinnt wie Sand zwischen den Fingern. Viel machen, überall sein, wenig erleben und spüren. Wo alles schneller, effektiver und auch lukrativer gehen soll, haben Zuneigungen vor lauter Updates und Downloads oft gar keine Chance mehr, herauszukommen. Die Antworten auf die Fragen, was die Menschen menschlich sein lässt, was sie innerlich reich macht, zufrieden, mitfühlend und reflektierend, sind aktueller und spannender denn je. Denn: es brennt. Nicht nur in der Welt, sondern auch in der Gesellschaft.
Was kann ein Kinder- oder Jugendchor in diesen Zeiten abfangen?
Was kann dort geweckt und gefördert werden? Wie kommt man überhaupt an Kinder und Jugendliche heran, um die Begeisterung fürs Singen entfachen zu können? Was muss die Chorleitung „leisten“,
um eine Gruppe erfolgreich zu leiten? Und was bedeutet denn „erfolgreich“ eigentlich in diesem Zusammenhang?
Diese Fragen habe ich mir gestellt, als ich mich als Gründerin und Chorleiterin des Modellprojekts „Together! – Chor.Leben.“ beworben hatte. Nachdem ich eine Weile über die Fragen nachgedacht hatte, ist mir aufgefallen, dass ich, um Antworten zu finden, nichts anderes tue, als zielstrebig nach einer Lösung, dem Downloadbutton dafür zu suchen. Ich dachte, wenn nur alles schön bunt ist und richtig knallt, dann werden die „Kinder“ schon kommen. Falsch gedacht? Falsch gedacht!
Okay, Reset, zweiter Versuch
Ich gehe zurück in meine eigene Jugend: Was interessiert, was bewegt einen jungen Menschen, der womöglich zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht? Die erste große Liebe, Freundschaften, die Familie, hin- und hergerissen sein zwischen allem und nichts, sich gleichzeitig hier abzunabeln und dort tiefere Verbindungen einzugehen – und ganz nebenbei auch noch die eigene Persönlichkeit formen. Nicht nur erwachsen werden – Mensch werden. Dazu braucht es Zeit – und Raum. Das Bild mit dem tanzenden Mädchen kommt mir wieder in den Sinn und die Idee: es braucht einen Ort, wo ich einfach sein kann, wie ich möchte, ein Ort, wo niemand fragt, warum, wieso und warum nicht. Ein Ort der Akzeptanz. Ein Ort, an dem alles okay ist, so wie es ist. Bei Jugendlichen ein Raum zum Reden, über das Leben, über Sorgen, Ängste, Träume. Ein Rahmen für das Miteinander und das sich zeigen können in der Musik. Ich mache einen Fragebogen für die Sänger:innen des Bock auf Voc-Ensembles. Eine Frage ist, was sie für wichtig halten in einer Gemeinschaft, wie ein Chor es eine ist? Die Antworten klingen einfach: Freude beim gemeinsamen Tun, Ehrlichkeit und Offenheit, Vertrauen, Loyalität, auf Augenhöhe sein. Mein Reset im Denken und mein zweiter Versuch haben sich also gelohnt. Ich bin auf der richtigen Spur. Es ist einfach.
Als Chorleiterin habe ich manchmal das Gefühl, dass man sehr bestrebt ist, musikalisch vielfältig, durchdacht und tough dazustehen, voller Energie. Schließlich will man etwas vermitteln, es gibt Konzert-, Aufnahmetermine und anderes zu erfüllen. Im Projekt mit „meinen“ Jugendlichen erlebe ich, dass der Boden für erfolgreiche Arbeit zuallererst ein zartes Pflänzchen der Zuneigung ist, bei der Zeit, Authentizität und Akzeptanz eine weit größere Rolle spielen, als all mein musikalisches Wissen und Können. Es geht zuerst darum, sich als Mensch zeigen zu können. Die hohe Gewichtung von sozialen und gemeinschaftlichen Werten als Antwort auf die Frage, was in einem Chor wichtig ist, zeigt mir, dass das Chorleiten im Wandel ist: Mensch sein und einen Moment mal beiseitelegen, was man alles schon gelernt hat und weiß über etwas. Perspektivenwechsel. Einfach nur da sein. Menschen begleiten.
Begegnung auf Augenhöhe
Meine Gesangsdozentin an der Hochschule sagte: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, rufe nicht Menschen zusammen und sag Ihnen, was zu tun ist, sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten, offenen Meer“ (Anmerkung: Ein Satz aus dem Buch „Der kleine Prinz“). Etwas Gemeinsames wachsen zu lassen, einen Raum zu schaffen für Ideen und Stimmen, um dann, wenn es soweit ist, auf der Bühne zu stehen mit der Musik, die direkt aus den Jugendlichen herauskommt, sie zum Leuchten bringt und stark und menschlich macht – darauf freue ich mich.
Das Projekt Together! Chor.Leben. ist ein Modellprojekt der Deutschen Chorjugend. Das Projekt wird gefördert von der Stiftung Deutsche Jugendmarke und Aktion Mensch (ebenso und in meinem Fall vom SCV). Wer Interesse hat, Teil des Ensembles zu werden, kann sich gerne melden unter:
info@sarahneumann.de