Brauchen wir das? Eine ernstgemeinte Frage!
Wer kennt ihn nicht, den immer wieder entfachten Konflikt zwischen Vätern und Söhnen, Erwachsenen und „Halbstarken“, Lehrern und Schülern, den „Jungen Wilden und den „Alten“, den immerwährende Kampf zwischen dem „Althergebrachten“ und neuen Ideen: Beatles versus Beethoven oder schlägt Felix Jaehn etwa Felix Mendelssohn Bartholdy?
Braucht ein Chorverband etwa Jazz/Pop/Gospel, sollte er dort einen Schwerpunkt setzten? Oder ist das etwa vollständig unnötig? Wenn wir einen Blick auf die Entstehung der Chorverbände werfen, dann können wir eines feststellen: Die Sängerbewegung entstand aus den Ideen der französischen Revolution, sie setzte sich ein für Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit. Sie war unfassbar politisch, jung, dynamisch, hatte Ideen, Werte, Ziele, ja sie war Teil unruhiger Zeiten, sogar einer Revolution.
Es gab junge, frische Vertonungen der Texte eines wahren Revolutionärs, Friedrich Schiller. Modernes Gedankengut der Zeit 1848/1849 verbunden mit damals moderner Musik, ihren eigenen Texten und Gedanken. Dabei mag man sich nur an das Lied „Die Gedanken sind frei“ erinnern. Das Singen war eine echte Volksbewegung! War sie zunächst nur Männern oder Männern und Frauen getrennt vorbehalten, öffnete sich die Szene dann, als ihr nichts mehr anderes übrig blieb und der Touch des „Revolutionären, Hippen“ verloren gegangen war, den Frauen.
Gefühlt kämpfen wir seit Jahren wieder an so einem Punkt: Vielleicht stehen wir Chöre kurz davor in irgendeiner Weise bedeutungslos zu werden. Überall schwinden Mitglieder, haben wir kaum mehr Nachwuchsarbeit, Kinder- und Jugendchöre gibt es oft nur noch in sehr kleinen Besetzungen, Vereine werden aus Verzweiflung und Perspektivlosigkeit nur noch „zu Ende verwaltet“. Wir betonen die Bedeutung und die Wertigkeit des Singens an allen Orten, aber gehört werden wir kaum. Den Chorverbänden haftet ein unglaublich verstaubtes Image an. Und dann gibt es sie da aber auch: die Leuchttürme, die Hoffnungssterne, die schimmern am ach so dunklen Horizont: Vokalensembles klassischer und moderner Ausrichtung, junge Chöre mit großen Mitgliederzahlen und ganzen „Kinderabteilungen“, gut funktionierende Kooperationen zwischen Chören, Schulen, Kindergärten, Blasmusik- und Sportvereinen.
Da stellt sich die Frage nach dem Schlüssel zum Erfolg!
Und nein: die Antwort lautet nicht Jazz/Pop/Gospel. Die Antwort können wir in unserer Geschichte selbst finden! Chormusik sollte (wieder) die Menschen berühren und den Zeitgeist erfassen. Wir müssen uns wieder mehr an der Zielgruppe orientieren. Und wenn uns das gelingt, dann haben wir Menschen wieder für das Singen geöffnet. Und vielleicht kann deshalb Jazz/Pop/Gospel EIN Schlüssel zum Erfolg sein, denn diese Musik holt die Menschen bei ihren Hörgewohnheiten ab. Sie ist ihnen bekannt und lieb geworden, begleitet Sie in ihrem Leben und begegnet ihnen. Aber sie ist kein Allheilmittel. Auch diese Musikrichtung braucht Leidenschaft, Hochwertigkeit, Freude und Begeisterung.
Im letzten Jahrzehnt hat das Singen einen echten Hype durch Castingshows im Fernsehen erfahren. Tausende von Menschen bewarben sich bei praktisch allen Fernsehsendern, um in irgendeiner Form zum Star zu werden. Anerkannte Vokalensembles, wie z. B. Onair, mischten in diesem Business mit. Und wie konnten wir Chöre und Verbände von diesem Hype profitieren? Kaum. Die Show „Der beste Chor im Westen“ zog Massen von Zuschauern vor die Bildschirme. Und das schon in mehreren Staffeln! Fast allesamt ausgerichtet mit „Unterhaltungsmusik“, dem Genre, dem Jazz/Pop/Gospel zugerechnet wird. Unser Verband ist aber immer noch sehr klassisch ausgerichtet. Und das obwohl Pop/Jazz/Gospel schon lange keine „Jungen Wilden“ mehr sind. Im Gegensatz zu uns entwickelt sich die Musik ständig vorwärts, verändert sich, setzt neue Schwerpunkte, kreative Menschen erfinden sich und die Musik, aufgrund immer neuer Techniken, immer schneller neu. Und das übrigens schon seit 1950, seit den revolutionären Beatles und Rolling Stones. Manchem „Klassiker“ mag jetzt ein schweres Seufzen über die Lippen gehen. Aber auch Leonard Bernstein erkannte die Zeichen der Zeit und komponierte die „West Side Story“, 1957!
Und wir denken über einen neuen Fokus im Jahre 2021 nach. Ein bisschen spät, aber bestimmt nicht zu spät! Diese Musikrichtung braucht wegen ihrer Zielgruppennähe einen unbedingten Schwerpunkt in unserer Arbeit! Birgt sie doch noch eine weitere Chance in sich: Wen man für das Singen begeistern kann, den kann man auch für andere Musikrichtungen gewinnen. Gerade im Kinder- und Jugendbereich sehe ich hier eine sehr großartige Möglichkeit auch Begeisterte für die „klassische“ Musik, zu entdecken. Aber wir müssen wieder einen Zugang zum gemeinsamen Singen schaffen.
Warum sich Menschen für Pop/Jazz/Gospel begeistern und was ihnen wichtig ist?
Darauf gibt es auch Antworten von Begeisterten dieses Genres: Elvis über Gospel: „Fünf Wochen lang bringen wir zwei Shows pro Abend. Viele Male gehen wir nach oben und singen, bis der neue Tag beginnt – Gospellieder. Wir sind damit aufgewachsen. Mehr oder weniger bringt es einen dazu, sich wohlzufühlen. Mir geht es so.“ Stevie Wonder: „Musik ist im Wesentlichen das, was uns Erinnerungen gibt. Und je länger ein Lied in unserem Leben existiert, desto mehr Erinnerungen haben wir daran.“
Als ich in meinen Chören nach der Begeisterung für diese Musikrichtung gefragt habe, gab es z. B. folgende Antworten: „Für mich ist es eine absolute Bereicherung, wenn tolle Songs, die ich aus dem Radio oder TV kenne, im Chor textlich und in stimmlicher Vielfalt erarbeitet werden. Und ich dann das stimmgewaltige Ergebnis erleben darf, das nur durch die Chorgemeinschaft entsteht.
„Weil es super viel Spaß macht selber das zu singen, was auch im Radio läuft. Und oftmals ist ein Chor mit 50 Menschen noch gefühlvoller als ein einzelner Sänger im Radio. „Durch die Vielfalt der Songs erlebt man einmalige Gefühle. Wenn man die unterschiedlichsten Titel in der Chorgemeinschaft erlebt, sorgt das of für Gänsehaut pur.“ „Weil diese Musik voll in mich reingeht und alle Fasern erfasst – um dann wieder als Melodie beim Singen aus mir rauszuwollen.“ Moderne Musik ist ein Schrank mit vielen Schubladen, vielfältig, voller Groove und Emotionalität.“ „Moderne Musik als Melodie des modernen Lebensgefühls.“ „Musik, die man selbst gerne hört, erzeugt Emotionen und wenn man die Musik beim Singen teilt, werden die Emotionen immer größer.“ „Ich bin oft sehr überrascht, wie toll sich ein aktueller Song im Chor anhört und anfühlt, denn für mich ist es tatsächlich eher ein Fühlen der Musik. Neben dem Hineinhören in die Töne und dem Singen ist es für mich immer von Bedeutung, den Song in erster Linie zu fühlen, um dann mit der Stimme und dem gemeinsamen Chorklang dieses Gefühl umzusetzen. Und wenn das gelingt, dann ist das wie ein inneres Feuerwerk! Bähm!“ „Ich habe den Chor zum ersten Mal mit einem Lied gehört, mit dem ich persönlich viel verbinde. Das hat mich sofort berührt und dann habe ich mich auch entschieden, mitzusingen. Wir singen viele Lieder, die mich in meinem Leben begleitet haben und bei denen ich auch ganz persönliche Emotionen habe und auch einbringen kann. Das ist toll. Und so geht es vielen von unseren Zuhören ja auch. Das passiert eben eher bei moderneren Stücken.“
Und dann frage ich noch eine richtige „Chor“iphäe aus diesem Bereich. Indra Tedjasukmana, der sogar zurzeit zum Thema „Die Entwicklung populärere A-Capella-Musik seit den 1990er Jahren“ promoviert und kurz vor der Veröffentlichung steht: „Ich identifiziere mich mit populärer A-Capella-Musik in Sitlistiken wie Pop/Rock/Jazz/Gospel etc., weil sie Fähigkeiten aus dem traditionellen Chorgesang (Intonations- und Gehörschulung, mehrstimmiges Singen) mit Elementen aus Bandproben (Groove, Bewegungsenergie) verbindet. Das alles wird angereichert mit innovativen Ausdrucksformen wie Beatboxing, Vocal Percussion, Improvisation und bildet die Lebenswelt vieler junger Menschen ab, die mit populären Stilen aufwachsen.“
Muss man Musik kategorisieren?
Aber vielleicht gibt Smudo von den Fantastischen Vier einen der wichtigsten Hinweise überhaupt: „Ich mag es nicht, wenn man Musik in Genres einteilt, wo doch das Gehör ganz nach Gutdünken an den ausgefallensten und gewöhnlichsten Sachen gleichermaßen Gefallen finden kann.“ Am Singen wieder Gefallen finden und dadurch Begeisterung für unsere Musik zu wecken, egal mit welchem Genre das Gelingen kann, es wäre eine großer Erfolg und Beitrag für unsere Gesellschaft. Und Jazz/Pop/Gospel scheint einer der Wege zu sein, um dieses Ziel erreichbarer zu machen! Also: Packen wir’s an!
Und da gibt es auch schon erste Anregungen und Ideen aus dem Stammtisch. Fragen zur GEMA sind immer wieder ein Schwerpunkt. Aber auch die Suche nach ansprechender und umsetzbarer Literatur. Es besteht ein großer Wunsch nach Vernetzung und Austausch, z. B. im Bereich von Warm ups und Stimmbildung. Fühlen Sie sich herzlich eingeladen, Teil dieses neuen Schwerpunktes zu werden!
Am Ende möchte ich nochmal zu Leonard Bernstein gehen: „Ich liebe zwei Dinge: Musik und Menschen. Ich weiß nicht, was ich mehr mag. Aber ich mache Musik, weil ich die Menschen liebe, und ich liebe es, mit ihnen zu arbeiten und für sie zu spielen.“ Musik und Menschen zusammenzubringen kann meiner Ansicht nach dann gelingen, wenn wir einen guten Zugang über Musik zur Emotionalität finden. Das kann sehr gut mit Jazz/Pop/Gospel gelingen. Deshalb freue ich mich über einen neuen Schwerpunkt im SCV zu diesem Thema und auf viele gute Begegnungen und ein neues Netzwerk, das hier entstehen darf.