Jetzt wird wieder fleißig gesungen und gebacken
Kaum etwas prägt die Erinnerung an die Vorweihnachtszeit stärker als jene Mischung aus Backdüften und Liedern, die im Dezember durch viele Wohnungen zieht.
Ohren- und Gaumenschmaus können in mancherlei Hinsicht nah beieinander liegen. Am kürzesten ist die Distanz dabei sicher bei den Synästhetikern vom Typ der „lexikalisch-gustatorischen Synästhesie“: Sie hören Lieder nicht nur, sie schmecken sie auch! Das Lauschen von Tönen und gesungenen Worten erzeugt bei ihnen Geschmackserlebnisse a la „Ingwerplätzchen“ oder „Blaubeerkuchen“. James Wan-
nerton von der britischen Synästhesie-Vereinigung z. B. berichtet über eine solche Erfahrung beim Hören eines Songs der Gruppe Dave & J. Hus:
„Was ich vom Gesang bekam, war ein ziemlich starker Geschmack von Garibaldi-Keksen. Ich konnte auch ein wenig Madeira Cake schmecken.“
Nicht weniger genussvoll aber deutlich arbeitsaufwändiger sind musikalisch-gustatorische Erlebnisse bei jenen, die mit einem ganz gewöhnlichen Wahrnehmungsapparat ausgestattet sind. Sie müssen backen und dabei Musik hören oder besser selbst singen und nebenher noch vom Teig naschen, kurz: Sie verwandeln ihre Küche am besten in eine Weihnachtsbäckerei.
Gesungene Rezepte
Mit den Rezeptzetteln für Plätzchen und Printen, Spekulatius und Springerle, Lebkuchen und Makronen werden jetzt wieder die Liederbüchlein und Textzettel, aber auch die diversen Tonträger mit Winter- und Weihnachtsmusik hervorgekramt. Und natürlich alles Musikalische zum Thema „Backe backe Kuchen“. Dieses rund zweihundert Jahre alte Kinderlied mit einem Backrezept als Text hat inzwischen ja reichlich Nachwuchs bekommen. Erinnert sei nur an Detlev Jöckers „Wenn wir heute Plätzchen backen“ oder an die schon zum Klassiker gewordene „Weihnachtsbäckerei“ von Rolf Zuckowski:
„In der Weihnachtsbäckerei
Gibt es manche Leckerei.
Zwischen Mehl und Milch
Macht so mancher Knilch
Eine riesengroße Kleckerei.
In der Weihnachtsbäckerei.“
Sänger auf Lebkuchen, Noten zum Essen
Aller guten Dinge sind drei, deshalb: Nicht nur Ohren und Gaumen, auch das Auge soll seine Freude haben – durch Bildschmuck! Bereits in der Antike hat man Gebäck für kultische Zwecke mithilfe von Bildmodeln verziert. Im Mittelalter führten die Klöster diesen Brauch weiter. Sie schmückten z. B. Lebkuchen mit Motiven aus der Heiligen Schrift, eine Art „Bilderbibel zum Essen“.
Seit der Renaissance pflegt auch das städtische Bürgertum das Bildgebäck für seine eigenen weltlichen Festivitäten. Die Motive stammen nun aus der Alltagskultur, natürlich auch aus der Welt der Musik. Ob zum Abformen mit fein geschnitzten Holzblöcken oder zum Ausstechen mit Metallsilhouetten, die Motivauswahl ist inzwischen sehr groß. Sie reicht vom singenden Biedermeier-Engel bis zum zeitgenössischen Rockgitarristen, vom Pult des Dirigenten über eine große Zahl an Musikinstrumenten bis hin zu Noten und Notenschlüsseln.
Nicht nur „Weihnachtsgutsle“, auch jahreszeitlich unabhängige Leckereien wie z. B. Geburtstagstorten tragen inzwischen oft musikbezogene Dekorationen. Vor einigen Jahrzehnten hat man Gebäck noch mit bunten Glanzlithographien beklebt, heute nimmt man stattdessen zum Verzehr geeignetes, mit Lebensmittelfarben bedrucktes „Esspapier“. Als Bildvorlage für den Druck kann man selbst angefertigte Fotos nehmen, z. B. Aufnahmen des eigenen Chors oder von der Partitur eines Liedes. Und auch in diesem Bereich bietet der Markt – wie oben bei den Gebäckmodeln – diverse vorgefertigte Motive zum Kauf an.
Singende Bäcker – Erntedank und Mählwurmsitzung
Zum Schluss noch ein kurzer Blick auf die Sängerschaft unserer Profi-Bäcker. Dieses Handwerk hat ja schon früh viele eigene Chöre hervorgebracht. 1925 schlossen sie sich zum Deutschen Bäckersängerbund zusammen und organisierten zahlreiche eigene Sängerfeste. Der 1880 ins Leben gerufene „Phila Chor der Stuttgarter Bäcker“ z. B. veranstaltet immer noch jährlich ein großes Frühlingsfest in der Stuttgarter Liederhalle.
Über ihre eigenen Feste hinaus nehmen die Bäckerchöre auch sonst gern an vielen Feiern teil, z. B. an Erntedank. In Großstädten wie Hamburg und Berlin, aber auch in kleineren Städten wie hierzulande in Ulm, werden Erntedank-Gottesdienste noch heute gern mit den örtlichen Bäckerchören zelebriert.
Der „Männerchor Kölner Bäcker von 1912“ wiederum ist aus dem rheinischen Karneval nicht mehr wegzudenken. Man kennt ihn nicht nur als stimmgewaltige Unterstützung großer Prunksitzungen, er ist selbst eine kleine Karnevalsgesellschaft. Ihr alljährlicher Höhepunkt: Die heitere „Mählwurmsitzung“ mit über tausend Bäcker-Gästen aus der ganzen Republik. Doch das ist eine andere Geschichte für eine andere Jahreszeit. Jetzt gilt erst einmal: Fröhliche Weihnacht überall!