Sie sind beliebte Ausflugsziele und zugleich Inspirationsquellen für Dichter und Musiker:
Am 25. April ist wieder der internationale „Tag des Baumes“. Vergangenes Jahr hat die SINGEN an dieser Stelle über Bäume berichtet, die von Liederkränzen gestiftet und nach Chorkomponisten benannt wurden. Hier nun eine kleine Fortsetzung über eine eher kuriose Gruppe „musikalischer“ Gehölze:
Leierfichten und Leierforchen, Lyralinden und Harfentannen – Bäume, die so heißen, verdanken ihren Namen meist ihren speziellen Wuchsformen. Diese Formen erinnern an zwei populäre Musikinstrumente: die Lyra und die Harfe.
Ihr Erscheinungsbild haben diese Bäume in der Regel nicht durch künstlichen Zuschnitt erhalten, sondern durch ein zufälliges Ereignis. Bei der Leierform hat sich der Hauptstamm ab einer gewissen Höhe atypisch in zwei Arme aufgespalten, die dann wie die beiden Arme einer Lyra parallel in die Höhe wuchsen. Bei der asymmetrischen Harfenform ist der Baum – meist ein Nadelgehölz – in seiner Jugend durch Wind oder andere Einwirkung buchstäblich in eine Schieflage gebracht worden. Da er aber nicht vollständig entwurzelt war, ist er weiter gewachsen, mit der Spitze erneut nach oben orientiert. Das gleiche machten die neuen Austriebe des Hauptstamms: Sie reckten sich als Stämme senkrecht in die Höhe – wie die Saiten einer Harfe.
Leier und Harfe – romantischer geht’s nicht
Bäume mit außergewöhnlichen Formen haben das Interesse der Menschen schon immer erregt, Leier- und Harfenbäume aber ganz besonders. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Harfe und Lyra seit der Antike als Symbole für Musik und Dichtung stehen. Bäume mit diesem Erscheinungsbild verknüpfen so die Themen Natur und Kultur in einer ausgesprochen romantischen Weise.
Kein Wunder also, dass „musikalische“ Gewächse dieser Art beliebte Ausflugsziele waren und noch immer sind. Unter ihren Ästen wurden Ruhebänke für Wanderer aufgestellt, Gewanne wurden nach ihnen benannt, und man hat in Journalen wie der „Gartenlaube“ auf sie aufmerksam gemacht; zwei Exemplare, die „Harfe von Sommerau“ (1873) und die „Harfe von Ehrenfriedersdorf“ (1901) seien dafür beispielhaft genannt.
Leierbäume und Kletterbäume für Sänger
Auch auf vielen Ansichtskarten finden wir Leier- und Harfenbäume wieder. Zwei dieser Karten, die auf privaten Fotoaufnahmen basieren, seien hier hervorgehoben. Auf der einen sieht man eine Gruppe von zwanzig Männern vor und auf einem mächtigen Lyra-Baum posieren. Den Ort kennen wir leider nicht, wohl aber die abgebildeten Herrschaften: Es sind die Sänger des „MGV Scheifling“ (Steiermark). Der imposante Baumriese ist vielleicht eine Kiefer, zumindest erinnert er stark an eine ähnliche geformte „Lyrakiefer“ im Stadtwald von Wiesbaden.
Die andere Karte zeigt uns den Göttinger Männergesangverein beim Besuch eines alten Lyrabaums im Mai 1920. Auch hier hat das Gehölz in einigen der Herren den Lausbuben geweckt, so dass der Leier- zum Kletterbaum wurde. Heute sind solche Bäume oft als Naturdenkmale deklariert, das heißt dann: Beschnitzen und Besteigen verboten!
Natur als Inspirationsquelle
Andere Besucher wiederum lassen sich von den musikalischen Bäumen zu künstlerischen Kreationen inspirieren. So schrieb Hubertus Waldteufel über die markante (leider verschwundene) Harfentanne bei Bad Herrenalb einst folgendes Gedicht:
Es plätschert leis´ durch Fels und Stein
Die junge Alb! Im Abendschein
Grüßt uns die „Hohe Wanne“!
Horch! Horch! Wie tönt es mild und lind:
„Es harft sein Lied der Abendwind
Durch diese alte Tanne!“
Und die Schriftstellerin Rita Rosen verfasste zu ihrer Kurzgeschichte „Die Harfentanne“ (2016) das folgende japanische Haibun:
still sein
zuhören
die Welt ist voller Klang
Wahrnehmungsschulung und Improvisation
Weitere Künstler und Pädagogen wählen Harfen- und Leierbäume als Bezugspunkte für Musikpädagogische Aktionen. So hat z.B. der „Cellist und Wildnispädagoge“ Cornelius Hummel im Juni 2020 bei der oben erwähnten Wiesbadener Lyrakiefer einen „Workshop Waldmusik“ veranstaltet. Wie der Wiesbadener Kurier berichtet, ging es dabei u.a. um die Schulung der Wahrnehmung anhand der vor Ort vorhandenen Geräusche und um das musikalische Improvisieren mit der eigenen Stimme und natürlichen Fundstücken wie Laub, Ästen und Steinen.
Man sieht: In der Natur sind der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt! Vielleicht macht sich bei dieser Perspektive ja auch hierzulande der eine oder andere Sänger, die Sängerin oder ein ganzer Chor demnächst auf die Wanderschaft zu einem der musikalischen Bäume. Kleiner Geheimtipp? Die Harfentanne am Kesselbach!