Wie geht es mit den Vereinschören weiter?
Ja, viele der offensichtlichen Schwierigkeiten im aktuellen Chorleben sind bekannt: Es gibt zu wenige gute Chorleitungen, viele Chöre haben Mitglieder verloren, die lange Zeit des „Durchhaltens“ hat ihre Spuren hinterlassen. Es gibt aber eine eher subtile Komponente des Chorlebens, die für mich gerade sehr spürbar wird, ohne wirklich greifbar zu sein: Chorsingen basiert auf gegenseitigem Vertrauen – und dieses scheint durch Corona stark angegriffen. Wie wichtig dieses Vertrauen ist, wird mir erst jetzt so richtig klar, wo wir eigentlich wieder „richtig“ zusammen singen können.
Sind wir unverändert zurück?
Seit ein paar Wochen proben meine Chöre wieder in Präsenz, aber in vielen Chören fehlt etwas. Anfangs habe ich es mit „Stimmung“ bezeichnet. Normalerweise sind meine Chorproben zwar konzentriert, aber sehr fröhlich. Und diese fröhliche Stimmung ist weg. Auf spaßige Kommentare wird verhalten-freundlich reagiert, nicht mit dem üblichen frechen Gegenfeuer. Auch die Stimmen sind verhalten. Zunächst dachte ich, es läge an der mangelnden Übung der letzten zwei Jahre. Jetzt habe ich den Verdacht, dass beides zusammenhängt.
Zurück mit Abstand
Wir haben jetzt zwei Jahre lang gelernt, Abstand zu halten, Menschen zu meiden. Jede und jeder kann eine Gefahr sein, für mich und für meine Liebsten. Über die lange Zeit hinweg ist dies sicher sehr, sehr tief in die dunkelsten Windungen jedes Gehirns gesickert. Schon in Alltagssituationen ist es zu merken: wo sich früher herzlich angelacht wurde, gibt es jetzt einen schnelleren Blick zur Seite – als könnte schon das Lachen gefährlich sein.
Die verhaltene Stimmung in meinen Chören scheint sich parallel zur Anzahl der Genesenen zu entwickeln. In dem Chor, in dem schon fast alle infiziert waren (glücklicherweise nicht durch Chorproben), ist die Stimmung gelöst und fast schon wieder wie früher. Es wird Schulter an Schulter gesungen, zusammen gelacht und gegessen. Bei den Chören, in denen es kaum Genesene gibt, ist die Stimmung sehr verhalten. Kaum herzliche Begrüßungen, viel Abstand zwischen den Plätzen, wenig Blickkontakt. Es sind die gleichen Menschen wie früher, Menschen, die früher sehr fröhlich miteinander waren. Die Blickkontakte sind jetzt nicht mehr so oft aufmunternd, sondern manchmal skeptisch. Niemand will den anderen zu nahe kommen, oft weil etwas Wichtiges nicht gefährdet werden soll: die Hochzeit der Tochter oder die lang ersehnte Fernreise. Alles im Einzelnen vollkommen nachvollziehbar – und im Ganzen vollkommen lähmend.
Zu einem Klang verschmelzen
Der Teil des Gehirns, der uns sagt, dass andere Menschen gefährlich sein können, darf in der Chorprobe nicht die Hauptrolle spielen. In der Chorprobe muss ich mich auf die anderen einlassen können, bestenfalls mit den anderen verschmelzen, um diesen schönen gemeinsamen Klang zu erhalten, nach dem wir uns so lange gesehnt haben.
Gerade in Chören, in denen viele eher mit-singen als selbst-singen, also in den gewöhnlichen Amateur-Chören, bei denen viele sich gesanglich am Gesamtklang oder an den Nachbarn anlehnen, ist der Effekt des mangelnden Vertrauens am größten. In einem Chor mit vielen selbständigen und selbstbewussten Singenden ist ein größerer Abstand oder ein Singen ohne Blickkontakt nicht so gravierend. Jede und jeder einzelne fühlt den Rhythmus und weiß, wo die Töne hingehören. Aber in einem Chor, der offen ist für alle, auch für ungeübte Sängerinnen und Sänger, ist es unerlässlich, dass sich alle gut hören, dass alle einen großen Gesamtklang in den Ohren haben, in den man sich einfügen kann. Viele ungeübte Chor-Singende haben mir bei den Zoom-Proben gesagt, dass es ihnen unangenehm ist, sich selbst zu hören. Sie mögen ihre Stimme nicht, es gefällt ihnen nicht, zu hören, dass die Intonation nicht perfekt ist. Mit-Singen im großen Gesamtklang ist es kein Problem, zu Hause im Wohnzimmer oder mit viel Abstand in einem großen Probenraum mit wenig Akustik ist dann einfach unschön.
Wegbleiben oder Zurückhalten
Die Folge ist nicht nur, dass Sängerinnen und Sänger einfach wegbleiben, weil sie sich nicht mehr wohlfühlen. Die Folge ist auch, dass diejenigen, die noch da sind, verhalten singen. Sie wollen sich nicht raushören und singen deswegen leiser. Es ist eine Abwärtsspirale. Leider singe ich auch noch unglaublich gerne a cappella. Ich liebe den reinen Chorklang und habe glücklicherweise Chöre, die das auch zu schätzen wissen. Aber … gerade jetzt zweifle ich an diesem Vorsatz. Wäre es nicht einfacher, mit Gitarre oder Klavier den Klang zu ersetzen, der gerade eben nicht vom Chor kommt? Aber wie lange dann? Wie lange dauert dieses Überbrücken noch? Ist es dann nicht wieder eine neue akrobatische Lösung – nach den Online-, Garten-, Auto- und Turnhallenproben, die wir uns schon ausdenken mussten? Und wenn ich dann – irgendwann – die Gitarre oder das Klavier wieder weglasse – wo ist dann die Intonation? Wie klingt es dann, plötzlich so leer und nackig?
Die Frage, die sich schon vor Corona gestellt hatte, wird jetzt umso drängender: Wird es in zehn Jahren noch „normale“ Chöre auf dem Land geben? Chöre, die offen sind für alle, auch unerfahrene Sängerinnen und Sänger? Bei denen das klangliche Ergebnis eben weit weg vom gewohnten Klang im Radio ist, mit dem üblichen halben Ton Differenz zwischen Anfang und Ende vom Lied, unverstärkt und a cappella in der Gemeindehalle. Gibt es in zehn Jahren noch 30-Jährige, die sich Woche für Woche nach einem neun-Stunden-Tag in die Chorprobe setzten und geduldig warten, bis die anderen Stimmen ihre Töne gelernt haben? Und gibt es dafür ein Publikum? Oder gibt es dann nur noch Chöre mit Aufnahmeprüfung, bei denen Menschen mitsingen, die ganz selbstverständlich Gesangsunterricht nehmen und zuhause üben? Chöre mit technischer Verstärkung und Beatbox oder Band, die den satten Klang aus dem Kopfhörer erreichen können?
Reicht es, wenn wir das Vertrauen und damit den Klang wieder stärken? Reicht es, wenn wir wieder in den kleinen Probenraum von vor zwei Jahren wechseln und wieder Schulter an Schulter stehen? Nach der Chorprobe was trinken gehen? Wenn die noch bestehenden Chöre ein paar neue Sängerinnen und Sänger aus den sich auflösenden Chören dazugewinnen? Schaffen wir es, wieder Gemeinschaften zu bilden? Oder akzeptieren wir, dass die Ära der Vereine und beständigen Gemeinschaften ohnehin auszulaufen scheint? Dann müssen wir neu denken, in Projekten, die ein gutes Management brauchen. Ein Konzert als Ziel, eine gute Finanzierung, Werbung, Auswahl der Sängerinnen und Sänger, Übematerialien, technische Umsetzung. Das ist möglich, es gibt viele erfolgreiche Beispiele im Land. Aber es ist auch aufwändig und bedarf einer ganz anderen Herangehensweise als im Verein. Dann stehen nicht mehr das Vertrauen und die beständige Gemeinschaft im Vordergrund, sondern ein gutes Projektmanagement und eine hohe musikalische Qualität.
Wohin können sich ungeübte wenden?
Dennoch bleibt eine offene Frage: welche Angebote gibt es für ungeübte Sängerinnen und Sänger? Sollte es da nicht etwas geben? Egal ob Volkslied, Pop oder Kirchliches: wäre es nicht schön, wenn es Formate gäbe, bei denen man einfach mitsingen kann? Bei aller Professionalisierung von Organisation und Klang im Chorgesang sollte dieser Aspekt nicht aus den Augen geraten. Und deswegen auch wieder zurück zu den aktuell immerhin noch bestehenden Vereins-Chören und deren Überleben, zurück zum Vertrauen im Chor: wenn wir wieder einen guten Klang in der bestehenden Gemeinschaft haben wollen, brauchen wir wieder mehr Nähe. Zusammenstehen scheint die wirksamste Lösung für mehr Klang zu sein (wenn Technik, Instrumente oder Eingangsvoraussetzungen keine Optionen sind). Vielleicht braucht es eine offene Aussprache zwischen den Singenden, wie sie sich mit der Nähe zu den anderen jetzt fühlen. Vielleicht hilft es schon, miteinander darüber zu sprechen. Vielleicht lässt sich dann auch eine bewusste gemeinsame Entscheidung darüber finden, wie Vorsicht und Vertrauen in Einklang gebracht werden können – ohne den schönen Klang zu verlieren.