Wie versucht wurde, den Komponisten in der NS-Zeit politisch zu instrumentalisieren
In der NS-Zeit wurden alle Musikgenres schnell zum Instrument politischer Einflussnahme und Propaganda. Bestimmte Komponisten wurden dabei im Sinne der NS-Propaganda als Ausdruck einer kulturellen Vormachtstellung deutscher Musik inszeniert und ideologisch nutzbar gemacht. Drei Beispiele sollen zeigen, wie dies im Falle Friedrich Silchers durch verfälschende Darstellung, Manipulation und Auslassungen geschah; denn für die NS-Propaganda war er vor allem wegen seines Wirkens rund um das deutsche Volkslied interessant.
Das wirkungsmächtigste Beispiel für eine politische Instrumentalisierung von Silchers Liedern ist Der gute Kamerad nach einem Gedicht Ludwig Uhlands. Dabei ist die ursprüngliche Textaussage des Gedichtes keineswegs chauvinistisch zu verstehen, und auch Dichter und Komponist sind in ihrer politischen Haltung im Kontext eines Nationalismus zu verorten, der sich im 19. Jahrhundert mit liberalen und demokratischen Ideen vermengte. Da es in diesem Lied aber um soldatische Themen und einen mutmaßlichen „Heldentod“1 geht, konnte es in die NS-Propaganda übergeführt werden.2 Hier werden, so Victor Doerksen, Mechanismen politischen Missbrauchs von Musik deutlich: Der gute Kamerad, „has become […] a victim of abuse and […] a sad song made sadder by German history.“3 Auf der Neckarinsel in Tübingen ist die verfälschende NS-Sichtweise auf Silcher bis heute in Form des Silcher-Denkmals (Entwurf Wilhelm Julius Frick, 1939–41) zu besichtigen. Der Komponist wird überlebensgroß gemäß einer brachialen NS-Monumentalästhetik dargestellt, inklusive einer in Stein gehauenen verfälschenden Deutung des Liedes Der gute Kamerad, durch die Silcher „als Repräsentant des nationalsozialistischen Geistes dargestellt und für die Kriegsvorbereitungen und -verharmlosungen der NSDAP-Führung benutzt“4 wird. „Kriegsgeschrei“ geht von diesem Denkmal aus, was nicht mit „Silchers zartem Volksliedton“5 zusammenpasst. Bis heute dauert die Debatte über den richtigen Umgang mit dem Silcher-Denkmal an.
Verfälschung durch Auslassung
Die Rolle der Chöre und ihrer Verbände in der NS-Zeit wird seit der Jahrtausendwende von Chorforschern wie Friedhelm Brusniak, Helmke Jan Keden und Dietmar Klenke wissenschaftlich bearbeitet.6 Im Falle Silchers ist ein Beispiel für eine subtile propagandabezogene musikwissenschaftliche Darstellung in der Deutschen Sängerbundeszeitschrift (DSBZ) aus dem Jahr 1941 zu finden. Dieses Jahr war vom Bundesführer des Deutschen Sängerbundes und NS-Politiker Albert Meister (1895–1942) zum „Jahr des Deutschen Volksliedes“ ausgerufen worden, so dass die DSBZ einige Beiträge zu Silcher veröffentlichte. Hierzu gehörte die Edition bisher unberücksichtigter Briefe Silchers an Heinrich August Hoffmann von Fallersleben.7 Ein Brief Silchers vom 16. Januar 1853 wird in der vom DSBZ-Schriftleiter Franz Josef Ewens8 erstellten Edition nur unvollständig zitiert. Auf diese Weise lässt sich auch der Komponist Friedrich Silcher in die politisch erwünschte Wagner-Verehrung des NS-Regimes einreihen. Dies gelingt dem Herausgeber Ewens aber nur mittels einer verfälschenden Auslassung. Silcher schreibt nämlich weiter: „Ihre [gemeint ist Hoffmann, B.S.] Dichtungen sprechen die Komponisten sehr an. Es freute mich ungemein, daß mein Liebling, Mendelssohn, auch manches von Ihnen komponiert hat. Seine Lieder sind unsterblich.“9
Dass Silcher gerade den aus einer jüdischen Familie stammenden Felix Mendelssohn Bartholdy als „Lieblingskomponisten“ nennt, muss aus Sicht der NS-Propagandisten verschwiegen werden: Dessen Werke wurden in der NS-Zeit als ‚entartet’ abgestempelt und aus den Konzertprogrammen getilgt; er selbst wurde nach altbekannten Mustern – verwiesen sei auf Richard Wagners antisemitische Schrift Das Judenthum in der Musik (1850/1869)10 – diffamiert, etwa im berüchtigten Lexikon der Juden in der Musik (1940).
Betrachtet man den vollständigen Brieftext, erscheint Silcher als offener Beobachter des Musiklebens seiner Zeit: Er kann Wagners kompositorische Bedeutung erkennen und benennen, doch ordnet er sich selbst ästhetisch ganz woanders, nämlich bei Mendelssohn, ein.11 Dadurch ist eine Inanspruchnahme Silchers zur Legitimation einer NS-Musikästhetik, die jüdischstämmige Komponisten als minderwertig ablehnt, ad absurdum geführt.
1 Vgl. Peter Horst Neumann: Kein Lied vom Heldentod. In: Frankfurter Anthologie 10 (1986), S. 116–118.
2 Eine Interpretation des Liedes Der gute Kamerad und die ausführliche Darstellung seiner wechselhaften Rezeptionsgeschichte bei Burkhard Sauerwald: Ludwig Uhland und seine Komponisten. Zum Verhältnis von Musik und Politik in Werken von Conradin Kreutzer, Friedrich Silcher, Carl Loewe und Robert Schumann (= Dortmunder Schriften zur Musikpädagogik und Musikwissenschaft 1). Berlin: LIT 2015, S. 211–223 sowie 233–265.
3 Victor G. Doerksen: Ludwig Uhland and the Critics. Columbia, South Carolina: Camden House 1994, S. 115.
4 Annette Taigel: Die Tübinger Silcherdenkmäler 1874–1941. In: Schmid, Manfred Hermann (Hg.): Friedrich Silcher 1789–1860. Studien zu Leben und Nachleben (= Beiträge zur Tübinger Geschichte 3). Stuttgart: Konrad Theiss 1989, S. 139–155, hier S. 152.
5 Rafael Rennicke: „Sie steinigten ihn mit einem Denkmal“. Friedrich Silcher und seine Tübinger Denkmäler. In: Musik in Baden-Württemberg, Jahrbuch 17 (2010), S. 181–191, hier: S. 183.
6 Vgl. u.a. Dietmar Klenke: Der singende „deutsche Mann“. Gesangvereine und deutsches Nationalbewußtsein von Napoleon bis Hitler. Münster: Waxmann 1998; Friedhelm Brusniak: Der deutsche Sängerbund und die Rolle der Musikforschung in der Zeit des Nationalsozialismus.
In: Isolde von Foerster (Hg.): Musikforschung, Faschismus, Nationalsozialismus. Referate der Tagung auf Schloss Engers (8. bis 11. März 2000), Mainz: Are 2001, S. 181–198; Helmke Jan Keden: Zwischen „Singender Mannschaft“ und „Stählerner Romantik“. Die Ideologisierung des deutschen Männergesangs im „Nationalsozialismus“. Stuttgart: Metzler 2003.
7 [Franz Josef Ewens]: Friedrich Silchers Briefe an Hoffmann von Fallersleben. Aufschlussreiche Dokumente der Berliner Staatsbibliothek. In: Deutsche Sängerbundeszeitschrift 33 (1941), H. 7, S. 53–55. Der Kontakt Silchers zu Hoffmann
von Fallersleben ergab sich aus der von beiden betriebenen Tätigkeit des Volkslieder-Sammelns; zudem vertonte Silcher auch dessen Gedichte.
8 Der in Köln-Mülheim geborene Franz Josef Ewens (1899–1974) war Autor und Musikwissenschaftler.
Er wurde 1927 an der Universität Köln mit einer Arbeit über Anton Eberls Leben und Werke promoviert; zuvor hatte er bereits den Grad eines Dr. iur. erworben. Er wirkte auch in der Nachkriegszeit als Geschäftsführer des Deutschen Sängerbundes und hatte die Schriftleitung der Deutschen Sängerbundeszeitschrift seit 1926 auch über 1945 hinaus inne.
9 Das Autograph liegt in der Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Nachlass Hoffmann von Fallersleben (Nr. 1231).
10 Vgl. hierzu Jens Malte Fischer: Richard Wagners ‚ Das Judentum in der Musik‘. Eine kritische Dokumentation
als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus. Frankfurt a. M.: Insel 2000.
11 Eine gestrichelte Linie an dieser Stelle der Edition dürfte auf die Auslassung hinweisen; einen verbalen Hinweis gibt
es aber nicht. Ob dies ein möglicher Versuch von Ewens war, sich von der Auslassung zu distanzieren, konnte bisher nicht geklärt werden.