Der November: Monat des Totengedenkens
„Mitten im Leben sind wir im Tod“ lautet der Beginn eines gregorianischen Chorals aus der Zeit um 750, den später Martin Luther als Kirchenlied bearbeitet hat. Wohl keinem Singverein bleibt diese Erfahrung auf Dauer erspart: Eben klang da noch eine schöne Stimme im Chor – nun ist sie auf einmal für immer verstummt! Ein Chormitglied ist gestorben. Bei einer solchen Nachricht breitet sich in der Gemeinschaft schnell Traurigkeit aus. Das Musizieren hilft dann aber doch ein bisschen, mit der Trauer umzugehen. Vielleicht wird der Chor später beim Gottesdienst in der Kirche, bei der Trauerfeier in einer anderen Location oder während der Beisetzung auf dem Friedhof einen letzten Abschiedsgruß vortragen, z.B. das 1935 von Thurmair und Lohmann geschaffene Kirchenlied: „Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh mit mancherlei Beschwerden der ewigen Heimat zu.“ Ein Blick in alte wie neue Vereinschroniken zeigt, dass das „Totengedenken“ einen festen Platz im Sangesleben hat. Noch heute wird in vielen Vereinen anlässlich von Vereins- und Verbandstagen oder von Jahressitzungen gleich an vorderster Stelle der Tagesordnung zum Gedenken an die verstorbenen Mitglieder aufgefordert. Man nennt ihre Namen und liefert auch gern einen kleinen musikalischen Beitrag für sie ab. Früher war das z.B. Silchers „Schottischer Bardenchor“ („Stumm schläft der Sänger“), heute kann das ein moderner gemischter Chorsatz sein wie »Tears in Heaven« nach einem Song von Eric Clapton, einer musikalischen Trauerarbeit auf den Tod seines Kindes 1991.
Stumm schläft der Sänger
Die Teilnahme von Chören an Trauerveranstaltungen und Beisetzungen ist so alt wie das bürgerliche Sängerwesen selbst. Zuerst waren es hauptsächlich Männerchöre, die man damals auf Friedhöfen hören konnte. An der Beisetzung des liberalen Politikers und Dichters Ludwig Uhland etwa (der übrigens ein Ehrenmitglied des Schwäbischen Chorverbandes war) beteiligten sich im November 1862 in Tübingen die örtlichen Gesangvereine. Eine zeitgenössische Darstellung zeigt sie mit ihren mit schwarzen Trauerfloren gezierten Sängerfahnen, die über dem Sarg geneigt werden. (Manche Chöre hatten später für solche Auftritte auch kleine Vereinsabzeichen mit einem schwarzen Trauerband, die man sich an die Jacke heften konnte.) Gründe, sich an Verstorbene aus den eigenen Reihen zu erinnern, gab es genug. Vor allem gedachte man der in den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts gefallenen Chormitglieder.
An sie erinnerten meist mit Porträtfotos versehene „Ehrentafeln“, die in den Sängerheimen und den Probenräumen aufgehängt waren. Das Bedürfnis nach einem solchen Gedenken wurde seit 1919 von einem breiten Markt bedient, der literarische Werke, Theaterstücke, Gedenkbilder, Kriegerdenkmäler etc., aber auch musikalische Werke (von meist zweifelhaftem Wert) zum Kauf anbot.
Düstere Novembertage: Allerseelen und Totensonntag
Der November ist bei den Katholiken wie den Protestanten der letzte Monat des Kirchenjahres. In diesem Monat gilt es, den Blick auf „die letzten Dinge“ (des Lebens) zu richten. Bei den Katholiken beginnt das mit den stillen Feiertagen Allerheiligen (1.11.) und Allerseelen (2.11.); letzterer ist der Tag des Totengedenkens. Bei den evangelischen Kirchen wiederum ist jeweils der letzte Sonntag vor dem 1. Advent, heuer der 26.11., der sogenannte „Totensonntag“. Im Gegensatz zum alten katholischen Allerseelentag wurde dieser Tag, der auch „Ewigkeitssonntag“ heißt, erst 1816 von König Friedrich Wilhelm III. von Preußen eingeführt und später von den anderen evangelischen Landeskirchen übernommen. Der Totensonntag ist also das Gegenstück zu Allerseelen. Er ist außerdem als „stiller Feiertag“ besonders geschützt, so gelten z.B. Einschränkungen bezüglich Musikaufführungen in Gaststätten.
Alle Seelen ruh´n in Frieden, manche werden auch gegessen
Mit Allerseelen sind viele Volksbräuche verbunden. Man schmückt die Gräber, stellt auf ihnen Lichter auf, mancherorts werden sogar noch Allerseelenbrote deponiert. (Der Schwabe schätzt diese Wegzehrung zum Totenreich noch heute in Form von mit Salz und Kümmel bestreuten „Seelen“.) Vor allem aber gehört zu diesem Tag ein reiches kirchenmusikalisches Leben: Totenmessen, Requiem-Vertonungen und zahlreiche sonstige Werke zur Vergänglichkeit des irdischen Lebens. Erinnert sei hier nur an Franz Schuberts Klavierlied „Litanei auf das Fest Aller Seelen“ mit dem Text von Johann Georg Jacobi (1740-1814):
Ruh’n in Frieden alle Seelen,
Die vollbracht ein banges Quälen,
Die vollendet süßen Traum,
Lebenssatt, geboren kaum,
Aus der Welt hinüberschieden,
Alle Seelen ruh‘n in Frieden!