Der Präsident des SCV, Dr. Jörg Schmidt, im Interview
In seinem Jubiläumsjahr hat der Schwäbische Chorverband einiges vor, doch auch grundsätzlich steht er mit seinen Mitgliedsschören vor großen Herausforderungen. Etwa 120.000 aktive und fördernde Mitglieder in rund 1.500 Vereinen zählt der SCV – und blickt damit auf eine immense „Gästeliste“ für die ganzjährige Chor-Feier. Die SINGEN wirft mit dem SCV-Präsidenten, Dr. Jörg Schmidt, einen Blick in die Zukunft.
SINGEN: Eine Party mit 120.000 Menschen – wie hört sich das für Sie an?
Jörg Schmidt: Nach verdammt viel Arbeit. Die Leute sollen sich ja aber nicht nur bespaßen lassen, sondern selbst dafür „arbeiten“, dass sie Spaß und ein Event haben. Das kann aber niederschwellig passieren, denn arg viel Arbeit ist nicht damit verbunden. Man kann das, was man sowieso macht, unter des Motto des SCV stellen und dann haben alle das Gefühl, in der großen Familie, die wir sind, dabei zu sein.
War die Entscheidung, ein Jahr lang zu feiern, der Grund, damit möglichst viele daran teilhaben können?
Wir werden einen offiziellen Start und ein Ende machen, wozu wir politische Prominenz und Multiplikatoren einladen wollen, wie zum Beispiel Herrn Ministerpräsident Kretschmann, um auch pressewirksam erreichen zu können, auf unser Anliegen und den SCV aufmerksam machen zu können. Aber das wäre nur ein kurzes Strohfeuer, das mit einem Bericht aufpoppt. Wenn man es aber schafft, es in die Fläche rauszutragen und ganz Württemberg zu bespielen, dann bekommt das Jubiläum des Schwäbischen Chorverbandes und wer er ist immer wieder Aufmerksamkeit.
Also so, wie die Amateurmusik funktioniert – in der Breite und nicht in der Spitze?
Das ist ja das Prinzip der Subsidiarität. Wir sind alle SCV und dann kann es nicht nur heißen, dass das Präsidium oder die Regionalchorverbandsvorstände vorneweg turnen. Das geht alle an! Und wenn alle mitmachen, dann wird es etwas Gutes. Und wenn sie nicht mitmachen, haben wir noch unsere Top Acts.
Was steckt in dem Motto „Wir feiern Chor“ alles drin?
Wahnsinnig viel! Wir feiern ein Stück weit uns selbst. Wir machen auf das, was wir machen, aufmerksam und wir machen Werbung für unsere Chöre und das Singen an sich. Wir wollen die unterschiedlichsten Leute ansprechen. Singen im Chor ist keine bierernste Sache, wo sich ältere Menschen einmal in der Woche treffen und deutsches Heimatliedgut singen, sondern das ist unheimlich vielfältig. Das geht in alle Altersgruppen, Bevölkerungsschichten und Musikrichtungen. Die einen sind eher mit dem traditionellen Liedgut unterwegs, die anderen singen Gospels oder Shanty-Lieder. Wir haben Chöre mit einem eher geistlichen Liedhintergrund mit großen Oratorien – und all das gehört zusammen. Das fördert die Toleranz.
Was ist ein verbindendes Element, das all die dezentralen Teilaspekte und Konzerte, die zum Jubiläum dazugehören, zusammenhält?
Ich weiß gar nicht, ob ich ein verbindendes Element will. Die Vereine sollen machen, wozu sie Lust haben, und dann kommt die Vielfalt. Und die ist, was verbindet.
Zurückgeschaut: Was waren Meilensteine in der 175-jährigen Geschichte des SCV?
Erstmal, dass es am Anfang Leute gab, die gesagt haben: Wir machen uns auf den Weg. Wir schließen uns zusammen. Gesungen wird sowieso schon, aber wir machen das gemeinsam! Das Sänger-Du – sich über die Standesgrenzen hinweg zu duzen – wird heute leider kaum mehr gelebt. Ich würde nicht sagen, dass es herausragende Meilensteine gab. Es ist die Kontinuität und die Bereitschaft von immer neuen Personen, Verantwortung zu übernehmen.
Was ist aktuell ein Anlass, der eine Reaktion erfordert?
Die Strukturreformen, also die Gebietsreform und der Versuch, Standards zu vereinheitlichen. Corona hat uns gebeutelt, wir haben massiv Chöre, Vereine und Sänger:innen verloren. Wenn wir es nicht schaffen, uns da dagegen zu stemmen, dann kriegen wir Probleme. Die Zahlen sind nach wie vor rückläufig, aber wir schaffen die Kehrtwende! Die Sehnsucht nach weiteren Menschen, die dazukommen, unabhängig vom Alter, ist groß.
Die Eröffnung des Silcher-Museums 1912 hat Tausende Menschen angezogen. Heute wäre das utopisch…
Die Zeiten und das, was als gesellschaftlich relevant erscheint, haben sich geändert. Die Konkurrenz im Zeitvertreib ist groß geworden. Etwas überzogen dargestellt hatten die Leute damals die Alternative, sich mit Freunden zu treffen oder am Spinnrad zu sitzen. Heute kann ich u.a. zwischen zahlreichen Fernseh- und Streamingdiensten wählen. Die Herausforderung ist, die Leute vom Sofa runterzukriegen. Ich glaube, wir schaffen es wirklich, wenn wir den Leuten immer wieder vermitteln, was ihnen das Chorsingen bringt. Und wenn wir das Thema Jugendarbeit ganz nach vorne ziehen. Vielleicht liegt auch in der Ganztagesbetreuung an Grundschulen eine Chance, wenn wir als Chöre an die Schule kommen und ein Teil des Betreuungssystems werden. Dort könnten wir Kinder erreichen, die wir sonst nie erreichen würden.
Provokativ gefragt: Wie realistisch ist die Erwartung eines großen Engagements der Chormitglieder, die auch alle nur begrenzte Kapazitäten haben, weil sie ihr (Alltags-)Leben wuppen müssen?
Mein Eindruck ist, dass man mit immer mehr Aufwand um Sänger:innen fast schon buhlen muss. Die Chorjugend im SCV und die deutsche Chorjugend machen eine gigantische Arbeit. Wir müssen aber alle einbinden und dafür Rahmenbedingungen schaffen. Wir bieten die Musiklotsen und -mentoren an. Wir bilden im Bereich der Kinderchorleitung aus. Ich wünsche mir von den Vereinen, dass sie wirklich auch junge Leute mehr mit in die Verantwortung nehmen.
Was vermuten Sie: Wie wird man im Jahr 2048 „200 Jahre SCV“ feiern?
Ich bin sicher, dass es den SCV bis dahin noch gibt – dann als baden-württembergischen Chorverband. Es wird junge Menschen geben, die mitmachen. Es wird eine Kontinuität da sein und man wird nach vorne gucken. Es gibt immer noch Themen, bei denen wir noch ziemlich blank sind, zum Beispiel die Frage, wie wir an Menschen mit Migrationshintergrund rankommen. Dabei ist das Singen im Prinzip eine Sprache, die universell ist. Allerdings: Beispielsweise in der arabischen Musik gibt es das Thema Vielstimmigkeit kaum. Wenn also bei uns Leute mit Migrationshintergrund auftauchen, sind das in der Regel Westeuropäer. Darin liegt eine Aufgabe und eine Chance: Wir als Chorsänger:innen werden in der Gesellschaft prozentual weniger, wenn wir nur Menschen mit originär deutschem Hintergrund sind. Dann wird das Land sagen: Ja, warum sollen wir euch dann aus Steuermitteln so intensiv unterstützen? Was macht ihr, um die anderen mitzunehmen?
Ihr Wunsch für 2024?
Ich wünsche mir von den Leuten, dass sie mitmachen. Wir alle miteinander sind der SCV! Wir sind so viele wie zweimal in das Stadion von Stuttgart passen! Das sind viele Menschen, die das gleiche Interesse und die gleiche Leidenschaft vereint – gemessen an der Gesamtbevölkerung aber sind es total wenige. Da sind natürlich der Wunsch und die Hoffnung da, dass noch mehr Menschen das Singen für sich selber entdecken. Im Fitnessstudio zum Beispiel ist heute kaum eine:r mehr ohne Kopfhörer anzutreffen und ich würde mal behaupten, dass viele davon Musik hören. Und warum machen sie es nicht selber? Ich meine: Wie viele Leute sitzen auf dem Sofa und gucken Fußball-WM oder Olympia, ohne dass sie selbst Sport machen? Da ist die Frage: Wie kriege ich niederschwellige Möglichkeiten, dass die Leute in den Chor kommen?
Haben Sie eine Idee?
Das ist wahnsinnig viel Arbeit. Vielleicht ein Einführungskurs oder Grundlagenchor an einer Musik- oder Volkshochschule, um zum Beispiel all jene abzuholen, die keine Noten lesen können. Im Anschluss könnte man dann aus der Palette der Chöre im eigenen Umfeld auswählen.
Herr Schmidt, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Sandra Bildmann.