Meinungen aus dem SCV-Musikbeirat sowie von (Kinder-)Chorleiter Robert Göstl
Sollten in Kinder- und Jugendchören Mädchen und Jungen getrennt unterrichtet werden oder gemeinsam? Es zu tun oder zu lassen kann unterschiedliche Gründe, Vor- und Nachteile haben – und lässt sich nicht pauschal für die gesamte Kindheit beantworten. Die SINGEN hat die Musikdirektoren der Chorjugend im SCV und den Chorpädagogen Robert Göstl um ihre Einschätzung gebeten.
Andreas Schulz und Jan Martin Chrost:
Ob eine Trennung von Geschlechtern bei der Unterrichtung in Kinder- und Jugendchören ratsam ist, kann und sollte nicht pauschalisiert oder ohne Kontextbezug beantwortet werden. Der Sachverhalt ist differenziert zu betrachten. Phonetische Gegebenheiten, welche klangcharakteristische Merkmale nicht von der Hand weisen lassen, legen eine geschlechtergetrennte Förderung für eine optimierte stimmliche Entwicklung der Knaben- sowie Mädchenstimme nahe und begünstigen diese. In unmittelbarem Zusammenhang steht dies mit dem pädagogisch-didaktischem Ansatz in der Musikvermittlung sowie der Motivation des Einzelnen und den damit verbundenen gruppendynamischen Prozessen. Wissenschaftliche Erkenntnisse, welche darlegen, dass das Lernverhalten von Mädchen und Jungen Unterschiede aufweist, nicht zuletzt, da ihre physiologischen und kognitiven Entwicklungsverläufe nicht identisch oder zeitlich parallel sind, bestärken den Vorteil einer geschlechterangepassten Herangehensweise. Aus den natürlichen Entwicklungsverläufen ergeben sich u. a. unterschiedlich gelagerte Interessen und Bedürfnisse. Beispiele in der Praxis belegen in (Mitglieder-)Zahlen, dass eine bedürfnisorientiertere Zuwendung in geschlechtergetrennten Gruppierungen in den Zeiten der unterschiedlichen Entwicklungsverläufe vor allem den Knabengruppen vorteilhaft ist. Auch kann eine historisch gewachsene Tradition, welche kultur- und gesellschaftsprägend ist, nicht außer Acht gelassen werden und gilt es, für die Zukunft zu wahren.
Äußere Einflüsse oft entscheidend
Trotz und im Bewusstsein dieser Sachverhalte sind vielerorts äußere strukturelle Einflüsse wie Finanzierung, Personal, Raumkapazitäten, etc. die Gründe, welche eine getrennte stimmliche Förderung nicht ermöglichen. Dennoch sollte in allen Gegebenheiten berücksichtigt sein, dass die Chancengleichheit im Bildungserwerb und der individuellen musikalisch-stimmlichen Entwicklung nicht von einer naturgegebenen Geschlechterzuordnung abhängig gemacht werden darf. Konsequenterweise müssen vergleichbare Voraussetzungen und Angebote für beide Geschlechter geschaffen und zugänglich gemacht werden. Dazu sind Kompromisse an zahlreichen Stellen denkbar: getrennte Proben und Stimmbildung und gemeinsame Aufführungen gemeinsame Unterrichte in nicht stimmbezogenen Fächern wie Musiktheorie, Gehörbildung, Blattsingkompetenzen, Musikgeschichte, etc. Schlussendlich kann eine definitive Entscheidung „geschlechtergetrennte Chorproben ja oder nein“ nur vor Ort unter Einbezug aller individuellen Faktoren sinnvoll getroffen werden. Immer berücksichtigt werden sollte, möglichst vielen jungen Menschen einen Zugang zu Bildung, Kultur, musikalischen Entwicklung sowie ihren Stimmen zu ermöglichen.
Robert Göstl:
„Sollten in Kinder- und Jugendchören Mädchen und Jungen getrennt unterrichtet werden oder gemeinsam?“ Als mich diese Frage erreicht hat, waren die Eindrücke des 20. Leipziger Symposiums zur Kinder- und Jugendstimme noch frisch. Wir hatten uns dort intensiv mit „Person – Identität – Gemeinschaft“ auseinandergesetzt und ich gebe offen zu, dass ich selten so bereichert und gleichzeitig so irritiert aus einer Fachtagung herausgegangen bin. Ich hielt mich für einen auf der Höhe der Zeit aufgeklärten und offenen Menschen und musste feststellen: Von all den Differenzierungen rund um non-binäre und Transgender-Identitäten hatte ich teilweise noch nicht einmal gehört. Und aus all dem Gehörten stellten sich in der Folge viele Herausforderungen, wie mit diesen Identitäten im Kontext von Kinder- und Jugendchören umgegangen werden könnte.
So mutet die Frage in der Überschrift geradezu banal und nicht mehr zeitgemäß verkürzend an. Dieses Symposium war enorm wichtig, um eine Sensibilität dafür zu schaffen, wie existenziell wichtig es für Menschen auf der Suche nach und im Kampf um Anerkennung ihrer gefundenen Identität ist, Räume zu finden, in denen sie ihrer Stimme im Singen Ausdruck verleihen dürfen. Antwort Nr. 1 auf die Frage ist also: Es ist von größter Bedeutung, Kinder- und Jugendchöre zu haben, die völlig ohne Ansehen von Geschlecht (und Weltanschauung und Hautfarbe usw.) alle jungen Menschen integrieren und eine positiv stärkende Gemeinschaft bilden. Besonders in der Phase der Suche tut es gut, sich nicht eindeutig als „das Eine“ oder „das Andere“ definieren zu müssen; Suche braucht Zeit und Raum, auch im Chor.
Gleichberechtigung vs. künstlerische Gründe
Als Zweites meldet sich bei den Überlegungen zur Beantwortung der gestellten Frage noch einmal Leipzig im Gedächtnis: der „Fall“ des Mädchens, dessen Mutter die Aufnahme bei den Thomanern gerichtlich einklagen wollte. Die Hauptargumentation der Mutter war Gleichberechtigung in den Bildungschancen für ihre Tochter – das Hauptargument der Thomaner war das unverwechselbare Klangbild eines Knabenchores, das bei aller stimmlichen Eignung und allem Können von einer Mädchenstimme verändert würde. Meine Meinung? Ja, man darf aus musikalisch-künstlerischen Gründen die Entscheidung treffen, ein spezifisches Klangbild auch durch den Ausschluss von andersgeschlechtlichen Menschen zu gewährleisten versuchen. Das gilt wohlgemerkt auch für Mädchenchöre und hoffentlich irgendwann einmal auch für einen Chor von Transmenschen, die genau das, was sie stimmlich ausmacht, klanglich erfahren und hörbar machen wollen. Die Freiheit der Kunst gilt nicht nur für Satire, die ja angeblich alles darf.
Trennen und wieder zusammenführen
Der dritte Aspekt, der mich bei dieser Frage bewegt, war jahrelang der wichtigste in meinen Vorträgen und Workshops. Wem es vor allem darum geht, dass möglichst viele Kinder- und Jugendliche die lebendige und positiv lebensprägende Kraft des Singens in Gemeinschaft erleben dürfen, überlegt auch ganz pragmatisch in Zahlen. Und da ist es nicht von der Hand zu weisen: An vielen Orten, wo Leitende sich entschieden haben, Mädchen und Jungen zu trennen, ist der Zulauf von Jungen zu den Chorgruppen massiv, der von Mädchen meist ebenso leicht angestiegen – es singen schlichtweg mehr Kinder und Jugendliche, wenn der geschützte Raum der gleichgeschlechtlichen Gruppen angeboten wird. Auch wird eine Trennung den unterschiedlichen Lerntempi und Interessenslagen durchaus gerecht. Das gilt nicht für jedes Alter in gleichem Maße. Meine Empfehlung lautet meist (je nach örtlicher Situation), ab der 3. oder 4. Klasse zu trennen und spätestens im Jugendchorbereich wieder zusammenzuführen. Davon gibt es viele sinnvolle Abweichungen, ein Patentrezept gibt es leider nicht.
3.000 Zeichen hatte ich als Vorgabe, die sind bei weitem überschritten… und dabei ginge es jetzt erst so richtig los, es müsste konkret werden. Fazit also bis hierher: Wir brauchen möglichst viele und vor allem vielfältige Kinder- und Jugendchöre, um allen Identitäten Raum für sich und Berührung mit den anderen zu ermöglichen – im Schönsten, was die menschliche Kultur zu bieten hat: im gemeinsamen Singen und Musizieren. Die Antwort lautet also ganz klassisch: „Sowohl als auch!“ Es kommt auf die Priorität an, die ein Chorkonzept verfolgt, und nicht zuletzt auch darauf, dass die Leitungsperson dies authentisch und überzeugt lebt und umsetzt.