Wie man Potentiale der stimmbildnerischen Arbeit im Kinder- und Jugendchor erkennt und schult
Was ist eigentlich Stimmbildung im Kinderchor? Der Begriff „Stimm-Bildung“ impliziert eine Entwicklung vokaler Fähigkeiten. In dem Sinn, dass wir gerade bei Kindern und Jugendlichen unbedingt auch für einen stimmhygienischen, gesunden Zugang zum Singen in der Pflicht stehen, werden wir in unserer Rolle als Chorleiter:innen – ob wir das nun wollen oder nicht – automatisch auch zu Stimmbildner:innen. Eine gesund geführte Stimme wird – bei aller Individualität – mit Sicherheit eines tun: schön klingen!
Was ist „gesunder Wohlklang“?
Als gesund oder auch stimmhygienisch möchte ich einen Umgang mit der Stimme bezeichnen, der ihrer Physiologie und den damit einhergehenden Funktionsprinzipien entspricht. Wir müssen unserer Stimme in Sachen Druck, Spannung, Lockerheit, Raum und Weite mit großer Sensibilität begegnen. Und wir als Chorleiter:innen sollten uns mit den grundlegenden Funktionsprinzipien des menschlichen Stimmorgans vertraut machen! Das Interesse an einem gesunden Singen macht auch klar, dass die stimmbildnerische Arbeit in der konkreten Situation der Chorprobe mit einem sensiblen und durchdachten Einsingen beginnt, mit diesem aber keinesfalls endet, liegen doch die eigentlichen Schwierigkeiten selten in den Stimmübungen des Warmups, sondern eben gerade in den Stücken, mit denen wir uns nach dem Aufwärmen beschäftigen. Unser stimmbildnerischer Fokus und unsere stimmbildnerische Achtsamkeit begleiten uns als Chorleiter:innen im Idealfall durch die ganze Probe. Daher sollte sich eine Symbiose zwischen dem Erarbeitungsprozess von Stücken und der Stimmpflege und Stimmentwicklung unserer Sängerinnen und Sänger entwickeln.
Die Ausgangslage
Gerade im Kinder-, aber auch im Jugendchor ist die Frage des gewünschten Klangs ein Balanceakt. Natürlich soll der Kinderchor nicht zu grob und massiv klingen. In der konkreten Situation der Probe sind wir oft mit zwei Antipoden von Klang konfrontiert, die sich entweder in einem etwas groben, leicht brüllig-brustigen, oft unsauberen Klang, oder auf der anderen Seite in einem ebenso wenig gewünschten, kaum tragfähigen und spannungslosen Säuseln der Kinder niederschlagen. Viele Kinder sind anfangs verbrustet, kommen mit einem stark eingeschränkten Ambitus in den Chor, können ihre Stimme in der Gruppe nur schwer koordinieren und haben Schwierigkeiten mit dem Treffen der Töne. Die Ursachen hierfür liegen zum einen an der rückläufigen musikalischen Aktivität in Kindergarten, Schule, Kirche und Familie. Die Folge ist, dass wir in unseren Chören häufiger als früher völlig ungeübte Sänger:innen aufnehmen, die das Singen als einerseits ganz natürlichen, anderseits aber eben auch hoch komplexen Vorgang tatsächlich erlernen müssen. Zum anderen liegt dies an den klanglichen Vorbildern, mit denen Kinder in ihrer akustischen Umwelt konfrontiert werden. Auch hier hat sich ein Wandel hin zu einem in der Jazz- und Popularmusik verorteten Klangideal vollzogen. Da Kinder insbesondere durch das Nachahmen von Vorbildern lernen, imitieren viele Kinder jenes Klangideal einer (erwachsenen) Popstimme. Diese führt im Kehlkopf des Kindes zu Druckverhältnissen, die einen massereichen, eher tief verorteten, brustigen Stimmklang, der häufig im Grenzbereich unterhalb des d„ gefangen bleibt, provoziert. Die Kinderstimme verliert Leichtigkeit und ihren natürlichen Ambitus.
Mögliche Maßnahmen
Wir müssen heute im Kinderchor also fast immer die glockig helle Leichtigkeit, die dem kindlichen Stimmklang eigentlich zu eigen ist, aufspüren, und im inneren Ohr der Kinder als ureigenste Klangmöglichkeit ihres Singens verankern. Das Entdecken der eigenen vokalen Möglichkeiten im spielerischen Umgang mit Singen und Stimme ist hierbei ein wertvoller Ansatz. Vielfältiges Glissandieren in Verbindung mit musikbezogener Bewegung und Bildern, die einen leichten Zugriff auf die Stimme implizieren, sind wertvolle Anknüpfungspunkte. Kinder können so im Spiel die Klangvielfalt ihres Stimminstruments entdecken. Indem sie das Säuseln des Windes im Kornfeld, das leichte Fallen von Schneeflocken, den sachten Niederschlag von Nieselregen auf der Stirn, das leise Summen von Bienen imitieren, üben Kinder im Spiel einen leichten Zugriff auf ihr Stimmorgan, den sie im Alltag häufig verlernt haben. Dies kann ebenfalls in Erwachsenenchören angewendet werden. Der Klang im Glissando muss bei einem locker geöffneten Unterkiefer leicht und mit flexibler Elastizität geführt werden. In dieser Leichtigkeit sollten wir die Kinderstimmen immer wieder deutlich über den Grenzbereich um d„ hinweg führen. Damit fördern wir einen massearmen Schwingungsmodus der Stimmlippenränder im Zopfregister. Um diesen in der Gruppe zu etablieren, sollten wir die Kinder unbedingt auch zu Hörenden erziehen und so jede:r Sänger:in ein in Farbe, Intensität, Intonation und Volumen passendes Puzzleteil des Ganzen wird. Vorstellungshilfen und Bilder wie die eines freundlich hörenden Staunens im Singen oder die des Empfangens von Klang (inalare la voce) erzeugen eine Wachheit, die dieser feinen Arbeit unbedingt zuträglich ist. An dieser Stelle sei auch kurz auf die Gefahr einer zu massiven Klavierbegleitung hingewiesen.
„Der Prozess der Stimm- und Klangbildung muss über das Einsingen hinaus auch den Rest der Probe in vielfältiger Weise durchdringen.“
Unterschiedliche Vokale als Werkzeuge des Klangs
Unsere Sprache, genauer die Palette unterschiedlicher Vokale, bietet uns die Möglichkeit, ganz konkret auf die Art der Klangerzeugung im Kehlkopf zuzugreifen. Dabei reagiert er reflexartig auf die Menge an Luft, die von der Lunge kommend auf die Stimmritze (Glottis) trifft. Bei hoher Luftstromrate wird der Stimmklang massereicher, kräftiger und tendiert damit im Rahmen der Vollschwingung eher zum Brustregister. Bei niedriger Luftstromrate kommt es eher zur sogenannten Randschwingung. Das Ergebnis ist ein massearmer, sehr feiner Klang. Er wird dem Kopfregister zugeordnet. Während die dunklen Vokale „u“ und „o“ mit einem sehr geringen Luftdruck arbeiten – und sich damit eher durch eine massearme leichte Schwingung auszeichnen – nimmt der Luftdruck an der Stimmlippe bei den Vokalen „a“, „e“ und „i“ zu. Vereinfacht gesagt tendieren die dunklen Vokale also eher zum Kopf-, die hellen Vokale eher zum Brustregister. Dies ist der Grund dafür, dass das „u“ weithin als der Kinderstimmbildungs-Vokal überhaupt bezeichnet wird. Die dunklen Vokale „u“ und „o“ öffnen gleichzeitig einen weiten, lockeren Raum im Ansatzrohr. Damit bieten sie einen guten Einstieg in das kindliche Singen im Allgemeinen. Sie eignen sich aber auch dazu, zu Beginn der Probe im Rahmen des Einsingens eine gute Registermischung zu etablieren.
Vokalisen und Übungen während der Probe
Dieser „schöne“ Klang läuft im Prozess der Probe permanent Gefahr, durch Schwierigkeiten in Text und Melodik allzu schnell wieder verloren zu gehen. Der Prozess der Stimm- und Klangbildung muss also über das Einsingen hinaus auch den Rest der Probe in vielfältiger Weise durchdringen. Eine Möglichkeit sind kleine Stimmbildungsbausteine, die auf den gesamten Verlauf der Probe verteilt sind, und den Sänger:innen so immer wieder die Möglichkeit geben, sich losgelöst von den Schwierigkeiten eines Stückes ganz auf ihr Singen und ihren Klang zu konzentrieren. Auch das Proben auf vielfältige Vokalisen (ganze Phrasen auf einen Vokal) bietet die Möglichkeit, die zu erarbeitenden Stücke zumindest in Sachen Text zunächst wesentlich zu entschärfen. Parameter wie Phrasierung und Legato lassen sich im Rahmen der Vokalise ebenfalls hervorragend trainieren. Die Vokalise auf leichten Vokalen bietet auch einen guten Einstieg in die Mehrstimmigkeit – oder im bereits geformten Jugendchor einen vereinheitlichten Raum, in dem mehrstimmiges Singen sensibel und besonders rein ausgehört werden kann.
Der Atem
Die Atemvorgänge zu beobachten und fühlend wahrzunehmen ist aufgrund der Allgegenwärtigkeit für die meisten Kinder und auch für viele Jugendliche eine völlig neue Erfahrung. Aus dem Themenkomplex der Atmung möchte ich stellvertretend drei Problemstellungen herausgreifen:
- Vollpumpen: Man überatmet. Die Folge ist ein Überangebot an Luft, das unkontrolliert auf die Stimmlippe trifft. Ein kontrollierter Stimmansatz und infolgedessen eine ordentliche Koordination der Stimmregister werden durch zu großen Druck erschwert.
- Hochatmung: Sie verfestigt die obere Atemmuskulatur und die Einhängemuskulatur des Kehlkopfs.
- Kurzatmigkeit: Die Sänger:innen sind nicht in der Lage, einen längeren stabilen Luftstrom zur Phrasenbildung zu erzeugen (Atembalance). Wir wollen also erreichen, dass unsere Sänger:innen im so genannten sängerischen Atem die Muskulaturen nutzen, die originär für die Atmung bestimmt sind (Tiefatmung).
Als Übung kann hier beispielsweise dienen:
- Beim Atmen mit locker hängenden Armen in eine Kniebeuge fallen. Mit einer langsamen Ausatmung auf „f“ langsam wieder in den normalen Stand wachsen.
- Beim Einatmen reflexartig seitlich die Arme heben (wie ein Regenschirm). Mit einer verlängerten Ausatemphase werden die Arme langsam wieder gesenkt.
- Über eine Verlängerung der Atempause wird Lufthunger aufgebaut. Ein Signal löst den Stau. Provoziert wird hiermit der sogenannte reflektorische Atem, der eigentlich den Idealfall von sängerischer Atmung darstellt.
Vielfältige Übungen zur verlängerten Ausatmung, die auch durch eine atemtragende Gestik unterstützt werden können, fördern im Erzeugen eines konstanten Luftstroms das Potential zum Aussingen längerer Phrasen. Im Kinderchor sind die Möglichkeiten, diese Übungen auch an Spielideen zu knüpfen, fast unbegrenzt. Insofern sind Atemübungen immer auch motivierende und aktivierende Probenbausteine.
Körperliche Aspekte
Stimmklang, -intensität, -farbe, Ausdruck – all diese Qualitäten sind rein technisch gesehen natürlich auch das Resultat von sängerischen Aspekten wie Registerkoordination, Atmung, Vokalfärbung und ganz wesentlich von der Haltung. Zusammenfassend möchte ich hier als Ideal den Begriff der „gespannten Durchlässigkeit“ als Ziel benennen. Der Stand ist stabil, lässt dem Körper durch lockere Knie aber die nötige Elastizität. Rücken und Nacken verfügen über eine aufgerichtete Größe, ohne dabei überstreckt zu sein. Die Schultern hängen entspannt im Schlüsselbein und sind leicht geöffnet. Der Körper ist gespannt, aber nicht überspannt. Dass eine solche Haltung eine körperliche Bereitschaft für Atem, Gesang und Stimme schafft, ist uns allen bekannt. Wir sollten bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen unbedingt ein Bewusstsein hierfür schaffen. In der Praxis gelingt dies häufig vor allem über das Lob derer, die es gerade richtig machen. In der Regel reicht ein Satz wie „…David sitzt heute einfach toll!“, um einen kleinen Ruck durch die Gruppe gehen zu lassen – und damit den Chorklang nachhaltig zu verändern. Auch der Aspekt der Kieferöffnung hat mit Wachheit und Körperlichkeit zu tun. In der Praxis ist beim Thema Öffnung auf einen gähnig geweiteten Unterkiefer zu achten. Singen ist überhöhtes Sprechen. Dementsprechend müssen wir mit unseren Artikulatoren und vor allem mit der Öffnung unseres Mundes – insbesondere im Bereich des Mundrachens auf eine lockere Weite achten. Die vorne an den Lippen sichtbare Öffnung ist hierbei nur das Resultat eines locker geweiteten Rachens. Kindern hilft es besonders am Anfang, wenn dieser Raum immer wieder haptisch begriffen und kontrolliert wird. Eine gute Möglichkeit hierfür ist, die Wangentaschen mit zwei Fingern zwischen die Backenzähne zu schieben. Dies gelingt tatsächlich nur bei einem locker geöffneten Unterkiefer.
In der Praxis
Klang, Registerkoordination, Haltung, Atmung, Körperlichkeit, Vokalausgleich – damit sind nur wenige Aspekte des Singens benannt. Es erscheint utopisch, all diese Dinge im Kinder- und Jugendchor einzufordern. Und doch ist es möglich und lohnenswert. Kinder und Jugendliche sind in der Lage, mit ungeheurem Tempo zu erfassen und zu lernen. Sie verfügen über die erstaunliche Fähigkeit, technische Aspekte oder auch klangliche Qualitäten oft scheinbar völlig mühelos und intuitiv von einem vorbildhaften Modell zu lernen und zu übernehmen. Hemmschwellen, denen wir manchmal bei Erwachsenen begegnen, liegen in Kinder- und Jugendchören viel niedriger oder existieren gar nicht. Das eröffnet uns in unserem stimmbildnerischen Handeln einen weiten Horizont der Möglichkeiten. Diese Arbeit erfordert neben einem großen Methodenrepertoire auch Geduld. Vor allem in der Liederbearbeitung oder in der Arbeit an Stücken gehen bereits gewonnene Qualitäten, die sich in einem schönen Klang, guter Intonation, einem klaren Umgang mit Sprache oder einheitlicher Farbe und dergleichen mehr niederschlagen, auch immer wieder verloren. Umso wichtiger ist es, dass wir die Chorarbeit als einen Raum stimmbildnerischer Arbeit begreifen. Dies kann in Form von vielfältigen Vokalisen, kleinen, aus Stücken abgeleiteten Übungsbausteinen, körperbetonten Übungen, unterstützender Gestik, konkreten Übungen zu Stimmklang, Haltung, Öffnung von Räumen und noch viel mehr geschehen. Die Ursachen für Probleme im Chorklang aufzuspüren, sie konkret zu benennen und nach Lösungsansätzen zu suchen, ist zugegebenermaßen zeitintensiv, sich zusammen mit seinem Chor auf einen Weg der Weiterentwicklung zu begeben, Fortschritte und Erfolge zu beobachten dafür aber umso beglückender. Eine solche Herangehensweise eröffnet vielmehr einen weiten Raum für die permanente Begegnung mit neuen Möglichkeiten in Klang und Gestaltung.