Nun hat das Bundessozialgericht durch sein Urteil vom 28. Juni 2022 die Vertragssituation bei den Musikschullehrer:innen, dem sogenannten „Herrenberg-Urteil“ (B 12 R 3/20 R), „unter die Lupe genommen“. Dieses Urteil ist nicht auf die Chorvereine des Schwäbischen Chorverbandes anwendbar, weil zwischen Musikschulen und Chorvereinen grundlegende Unterschiede bestehen. Dennoch nehmen wir die Entscheidung zum Anlass, zum einen über sie zu berichten, zum anderen den Muster-Chorleitervertrag zu überarbeiten und den Chören und Chorleitenden den Muster-Chorleitervertrag zur Verfügung zu stellen.
Unterschiede von Musikschule und Chorverein
Die wesentlichen Unterschiede zwischen Musikschule und Chorverein liegen auf der Hand: Die Musikschule ist eine staatliche, kommunale oder private Einrichtung, welche die Dienstleistung von Musiklehrer:innen – oder Chorleiter:innen – gegen Entgelt anbietet. Eine solche Musikschule „funktioniert“ nur, wenn es feste Chorzeiten, feste Unterrichtszeiten und -orte gibt, wenn die Musiklehrenden nach einem verbandlich herausgegebenen Lehrplan arbeiten oder zumindest Unterrichtsziele zu erfüllen haben, die von der Musikschule vorgegeben werden. Ein:e Musiklehrende:r ist also in der Regel an ein „Korsett“ von Stundenplan und Notenmaterial gebunden und erhält für seine/ihre Tätigkeit eine feste, im Musikschullehrervertrag verankerte Vergütung und unterliegt den Weisungen der Leitung der Musikschule.
Es gibt (bisher) daneben auch die „freien Musikschullehrer:innen“, die wie freie Mitarbeiter:innen behandelt und bezahlt werden. Da für sie keine Steuern und Sozialabgaben von der Musikschule abzuführen sind (waren), sparten sich die Musikschulen bei ihrem ohnehin knappen Budget 30 bis 40 % an Steuern und Sozialabgaben, die sie für angestellte Schullehrer:innen zusätzlich zu ihrem Honorar zu bezahlen hätten. Anders bei den Chorvereinen: Auch hier gibt es selbstverständlich unterschiedliche Vertragstypen und auch (sehr selten) angestellte Chorleiter, doch sind die Dirigent:innen im Verein in aller Regel freiberuflich und/oder nebenberuflich tätig. Sie haben entweder einen Hauptberuf, sodass sich die Frage, wer Steuern und Sozialabgaben abzuführen und zu erklären hat, ohnehin keine Rolle spielt, oder aber sie leiten verschiedene Chöre (weil sie beispielsweise nur von einem Chor nicht leben können) oder sie erhalten ihre Vergütung vom Verein als steuerfreie Übungsleiterpauschale nach § 3 Nr. 26 EStG (maximal 3.000 € jährlich), an manchen Stellen auch einen Betrag von maximal 840 € jährlich für ehrenamtliche Tätigkeiten für den Verein (Ehrenamtspauschale, § 3 Nr. 26a EStG).
Für diesen Typus einer Chorleitung gibt es den Chorleiter-Mustervertrag auf der Homepage des Schwäbischen Chorverbandes, der in gleicher oder ähnlicher Form von vielen anderen Verbänden als Muster angeboten und von vielen Vereinen auch außerhalb des Schwäbischen Chorverbandes verwendet wird.
Dem Mustervertrag des Schwäbischen Chorverbandes liegen die Hinweise der Rechtsprechung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg von 2019 zugrunde; die Inhalte sind im Übrigen auch in Gesprächen zwischen BMCO und der Deutschen Rentenversicherung Bund verhandelt und abgestimmt.
Freiberuflich, angestellt, scheinselbstständig?
Nun hatte das Bundessozialgericht in seiner Revisionsentscheidung vom 28. Juni 2022 (B 12 R 3/20 R), die inzwischen schon landauf und -ab die Bezeichnung „Herrenberg-Urteil“ trägt, die („freischaffenden“) Honorarkräfte an einer städtischen Musikschule daraufhin zu überprüfen, ob von einer Freiberuflichkeit ausgegangen werden könne – oder weiterhin müsse –, oder ob die Musiklehrerin als Angestellte in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis, also wie eine „Scheinselbstständige“ zu behandeln sei.
Und: Wie auch die Vorinstanzen kommt das Bundessozialgericht zu dem Ergebnis: Hier liegt ein Angestelltenverhältnis, also ein Arbeitsverhältnis vor und keine freie Mitarbeit.
Das Bundessozialgericht hat alle Elemente einer abhängigen Beschäftigung festgestellt und aufgezählt: Eingliederung in den Betrieb (der Musikschule), ein nach Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassendes Weisungsrecht der Musikschulleitung, Ausfallhonorar, wenn Schüler:innen nicht zum Unterricht erschienen, verpflichtende jährliche Vorspiele, vor allem aber fehlende unternehmerische Betätigung und fehlendes unternehmerisches Risiko der Musikschullehrerin. Die gesamte Organisation des Musikschulbetriebs, einschließlich der Tätigkeit der Musikschullehrerin, lag in den Händen der Musikschule. Die Vertragsverhältnisse mit den Musikschüler:innen wurden von der Stadt oder der Musikschule, jedenfalls nicht von der Musikschullehrerin, begründet. Der Unterricht der Musikschullehrerin wurde aufgrund von Lehrplänen des Verbandes der Musikschulen (VdM) erteilt.
Soweit sich die Abhängigkeit der Beschäftigung nicht schon aus dem abgeschlossenen Honorarvertrag (feste monatliche Vergütung, also kein unternehmerisches Risiko!) entnehmen ließ, ergab sich jedenfalls aus der Praxis des Vertragsverhältnisses, dass eine selbstständige Tätigkeit nach den oben genannten Kriterien nicht stattfand und auch nicht gewollt war.
Wegweisendes Urteil
Obwohl das mehrfach zitierte Landessozialgericht Baden-Württemberg 2019 schon sehr deutliche Anhaltspunkte für die Abgrenzung zwischen abhängiger und weisungsfreier (selbstständiger) Tätigkeit gegeben hatte, wird das Urteil im Blätterwald als „wegweisend“ und „Paradigmenwechsel“ bezeichnet. Verdi.de (Fachgruppe Musik, 24. Juni 2024) spricht von einem „schlanken Fuß“ (der Musikschulen) auf Kosten der Lehrkräfte durch Beschäftigung in Scheinselbstständigkeit zu „Dumpinghonoraren“.
Sehr schnell hat die Diskussion darüber begonnen, welche Auswirkungen dieses Urteil auf andere Organisationen hat oder haben wird, die Honorarkräfte beschäftigen. Dabei werden Volkshochschulen, Kunstschulen und Jugendkunstschulen, Nachhilfeinstitute und Vereine genannt, auch solche, die Nachmittagsbetreuung an Schulen anbieten.
Deren Mitarbeiter:innen sind allerdings in mehrfacher Hinsicht fest in die Strukturen ihrer Anstellungskörperschaften eingebunden, was in der Eingliederung in den Betrieb, in der Weisungsgebundenheit, nicht zuletzt in der Honorierung der Tätigkeit zum Ausdruck kommt. Deshalb werden einige Einrichtungen – um einem Verfahren mit der Deutschen Rentenversicherung Bund zu entgehen – sehr schnell darum bemüht sein, durch Änderung der Vertragsgestaltung (auf dem Papier und faktisch) eine tatsächliche und nicht nur Schein-Selbstständigkeit herzustellen.
SCV-Chöre sorgenfrei
Die Chöre und Vereine des Schwäbischen Chorverbandes müssen sich demgegenüber keine Sorgen machen, wenn sie – was seit 2020 durch entsprechende Mustervertragsvorgaben geschieht – die wesentlichen Elemente der freiberuflichen Beschäftigung in Vertrag und Praxis einhalten: eigenes Honorarrisiko des Chorleiters/der Chorleiterin, Beschäftigung auch bei anderen Auftraggeber:innen oder Arbeitnehmer:innen, Freiheit der organisatorischen und künstlerischen Entscheidungen – zumindest in Form der gegenseitigen Pflicht zur Abstimmung „auf Augenhöhe“. Diese Praxis wird durch den – alten wie neuen Chorleiter-Mustervertrag gewährleistet; die Neuauflage 2024 hat eine – wenn auch nur in wenigen Teilbereichen – Überarbeitung und „Nachschärfung“ des Chorleitervertragsmuster erbracht.
Eine Garantie dafür, dass eine Rechtsprechung ewig bleibt, wie sie ist, gibt es nicht. Wir werden auch weiter die Rechtsprechung beobachten und zusammen mit Fachorganisationen (BMCO, SCV, DCV u.a.) die Rechtsprechung und auch die Verwaltungspraxis der Deutschen Rentenversicherung Bund verfolgen und ggf. durch entsprechende Mitteilungen und Änderung reagieren und unsere Vereine und Chorleitenden informieren.
Auf die gelebte Praxis kommt es an
Es möge bittet beachtet werden, dass – wie das BSG nochmals betonte – es nicht allein auf den Text des schriftlichen Chorleitervertrages ankommt, sondern wesentlich auch auf die „gelebte Praxis“. Das Gesamtbild im Hinblick auf die Frage der Freiberuflichkeit entscheidet; je mehr Elemente für die Charakterisierung als scheinselbstständig sprechen, desto mehr wird eine solche von der Deutschen Rentenversicherung Bund und den Gerichten angenommen.
In diesem Sinne: Machen Sie gern von dem neuen Chorleiter-Mustervertrag (und den dazu mitgegebenen Erläuterungen) Gebrauch und nehmen Sie im Zweifelsfall mit der Erstberatung des Schwäbischen Chorverbandes Verbindung auf!
Der neue, überarbeitete Chorleiter-Mustervertrag auf der Homepage des Schwäbischen Chorverbandes:
www.s-chorverband.de/downloads
Rechtsanwalt Christian Heieck
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Dieser Beitrag gibt die Auffassung, Kenntnisse und Erfahrungen des Autors aus vielen Jahren Vereinsrechtpraxis wieder. Wir bitten dennoch um Verständnis, wenn im Hinblick auf die Vielfalt der individuellen Fallgestaltungen, die im Vereinsrecht vorkommen, eine Haftung für die gegebenen Auskünfte im Hinblick auf konkrete Einzelfälle nicht übernommen werden kann.