Wie Musikvereine die Bühne als Plattform für gesellschaftliches Wirken nutzen
„Mich packt immer wieder der Gedanke, ob es eigentlich Sinn macht, dass wir uns hier in unserem Nahbereich Arbeit machen, kämpfen und Zukunft entwickeln, wo die Welt nicht nur verrücktspielt, sondern es offenkundig ist“, fragte der Präsident des Schwäbischen Chorverbandes, Dr. Jörg Schmidt, in seinem Editorial der Zeitschrift „Singen“ zu Jahresbeginn mit Blick u.a. auf die aktuellen politischen Kriege und den Klimawandel, „relativiert das nicht alles, was mich in meiner bescheidenen Welt umtreibt?“ Nicht nur Journalist:innen sprechen gern von der „(welt-)politischen Bühne“ – also von einem Raum, der die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bündelt; der dafür sorgt, dass wahrgenommen, reflektiert und rezipiert wird, was auf ihr passiert. Ganz offensichtlich also ein Ort mit Macht. Warum nicht den Spieß umdrehen und sich als Musikverein einen solchen Raum selbst zunutze machen?
Was aber ist überhaupt eine Bühne? Laut Duden definiert sie sich als „gegenüber dem Zuschauerraum abgegrenztes Podium im Theater, in einem Konzertsaal o. Ä.“ Das ist es wohl auch, was man bei diesem Stichwort im Allgemeinen vor seinem inneren Auge sieht. Sängerin, Regisseurin und Dramaturgin Angelika Luz aber geht weiter: „Die Bühne entsteht in dem Moment, in dem ich einen Raum als Bühne definiere. Entscheidend ist die innere Haltung.“ Damit einhergingen auch das Bewusstsein und die Unterscheidung des privaten und des Bühnen-Ichs (siehe dazu S. 14/15). Diese Sichtweise öffnet ein Universum an Wirkungsfeldern, die nicht zwingend an einen vorinstallierten Radius gekoppelt sind.
Menschen kommen zusammen, weil sie gemeinsam etwas schaffen können, das für jede:n allein utopisch, ja schlicht nicht möglich, ist – ein Orchesterkonzert zum Beispiel. Sie haben also ein Ziel: den Auftritt. Sie haben eine Botschaft: den Inhalt ihres Auftritts. Sie haben einen Wunsch: dass sie möglichst viele Menschen damit erreichen. Und sie haben ein Instrument: die Bühne. So treffen also die Bedürfnisse der Akteur:innen auf die Chancen der Bühne. Nun kann ein Auftritt auch ohne ausgewiesene Botschaft gewünscht sein, ist aber wohl nur dann reizvoll, wenn er Aufmerksamkeit findet. Und so dient die Bühne nicht nur als Plattform, sondern gleichwohl auch als Motor, als Motivatorin für den eigenen Ehrgeiz – ganz persönlich und für den Fortschritt in der Gruppe.
Verbindendes Element
Gleichzeitig ist die Bühne nicht nur ein Ort des Sendens, sondern auch des Empfangens – wenn verschiedene Gruppen gemeinsam etwas entstehen lassen oder sich durch die Existenz der Bühne Menschen zusammenfinden. Ausgelöst durch sie kommen Menschen zusammen, sie vereint, wird zum Treffpunkt. Unfassbar viele Freundschaften, berufliche und Liebes-Beziehungen, Kooperationen und Vernetzungen haben so ihren Anfang genommen. Nicht zu vergessen der psycho-soziale Aspekt des gemeinschaftlichen Zusammenwirkens und wie er sich positiv auf die Psyche der Beteiligten auswirken kann.
Chance und Risiko zugleich
Doch birgt die Bühne nicht nur die Chance, mit seinen Anliegen gehört und gesehen zu werden, sondern zugleich ein Risiko: Denn wer vor andere Menschen tritt, riskiert auch, die eigene Botschaft nicht so transportieren zu können, wie sie gedacht war. Zum Beispiel, weil man sich nicht gut genug vorbereitet hat, weil man nervös wird, weil Missverständnisse entstehen oder weil man mit seinem Inhalt nicht auf Zustimmung stößt. Jene Chancen und Risiken teilen alle, die eine Bühne betreten – seien es Politiker:innen, Sportler:innen oder Kulturschaffende, also auch Amateurmusizierende. Gerade, wenn man es nicht gewohnt ist, vor Menschen aufzutreten und „Leistung“ abrufen zu müssen, kann das ein besonderer Nervenkitzel sein. Eine Hochspannung, die einerseits zu Höchstleistungen anspornt und andererseits genau jene hemmt – die guten und schlechten Seiten des Lampenfiebers sozusagen. Dabei hat man zu einem großen Teil selbst in der Hand, welches Verhältnis man persönlich zur Bühne entwickelt, ob wir uns zu ihr hingezogen fühlen oder ob sie uns eher verschreckt. Die gute Nachricht: In einer Gruppe, also auch einem Orchester, wird das Risiko überschaubarer sein, weil das eigene Tun nicht singulär im Raum steht, sondern die Masse Schutz bietet. „Soziale Unterstützung ist ein ganz wesentlicher Schutzfaktor“, bestätigt Prof. Matthias Klosinski, Diplom-Psychologe und freiberuflicher Tenor, natürlich stets auf Basis guter eigener Vorbereitung (siehe dazu S. 8-10). Mit einem missglückten Auftritt kann die Bühne zwar Karrieren zerstören, im Gegenzug aber Menschen die Chance bieten, über sich hinauszuwachsen, Selbstvertrauen aufzubauen und der eigenen Persönlichkeitsentwicklung große Schübe versetzen.
Pflege kulturellen Erbes
Wie bei allen kulturellen Organen erhält die Bühne bei Musikensembles noch eine weitere Dimension: die der Pflege kulturellen Erbes. Orchester und Chöre führen oftmals Werke aus längst vergangenen Zeiten von inzwischen verstorbenen Urhebern auf. Sie sorgen mit ihren Bühnenauftritten dafür, dass Musik früherer Epochen lebendig bleibt und nicht in Vergessenheit gerät. Sie tragen dazu bei, dass eine Auseinandersetzung mit Vergangenem geschieht, eine Einordnung und Kontextualisierung, ein Verständnis für Geschichte und damit auch für die Zukunft. Nicht selten entsteht dabei ein bereichernder Diskurs – bei der Erarbeitung der Künstler:innen als auch beim Publikum – als einer von zahlreichen und wichtigen Beiträgen für eine Gemeinschaft in der Gesellschaft.
Vorbild für Engagement und Partizipation
Nun haben Amateurorchester in der Regel weniger politisches Sendungsbewusstsein als einerseits sich und das Publikum zu unterhalten und andererseits, um ihrer künstlerischen Entwicklung Ausdruck zu verleihen. Doch auch das möchte man nicht einfach nur „irgendwie“: Man macht sich im Vorfeld Gedanken, entwickelt Programme und Konzepte, sucht inhaltliche Verknüpfungen und setzt sich mit Gemeinschaft und Gesellschaft auseinander. Das musizierende Tun im Kollektiv verbindet und überwindet vermeintliche Grenzen und Hemmungen: sprachlich, kulturell, fachlich. Kooperationen und Partnerschaften mit anderen Vereinen, Orchestern und kulturellen Gruppen ist das Rückgrat unserer toleranten und pluralistischen Gesellschaft, national und international. Der Beitrag, den auch Akkordeon-Ensembles hierfür leisten, ist fundamental und vorbildlich.
Auf die Fragen, die sich Jörg Schmidt stellte, gab er übrigens postwendend Antwort. Sein Appell: „Nicht an der Weltlage verzweifeln, nicht zynisch werden, sondern mit heißem Herzen und kühlem Verstand weiterarbeiten, für unsere Sache streiten und damit einen Beitrag leisten, dass der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft nicht weiter bröckelt!“ Und der beste Ort, um damit zu beginnen, ist die Bühne – und wenn sie auch nicht aus den Brettern besteht, die die Welt bedeuten, sondern sich lediglich in einem öffentlichen Raum befindet, den wir allein durch den Ausdruck unserer inneren Haltung zu unserer Bühne machen.