Auch hier ist wieder eine europäische Richtlinie (EU 2019/882) durch das BFSG in nationales Recht umgesetzt worden. Eine Reihe von gesetzlichen Regelungen haben die Vereine in den vergangenen Monaten wiederholt „heimgesucht“; „heimgesucht“ in dem Sinne, dass der Eindruck entstanden ist, es komme immer wieder neue, zusätzliche, schwer durchschaubare Organisationsarbeit auf die Vereine zu. Das ist ein Effekt, den wir schon zur Genüge aus der Zeit des Inkrafttretens der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und den Bestimmungen in der Zeit der Corona-Pandemie kennen. Als Beispiele seien auch die elektronische Rechnung (E-Rechnung), das Bürokratieentlastungsgesetz oder das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) genannt.
Es wurde deshalb die Bitte geäußert, sich dieser neuen Regelungsmaterie anzunehmen und zu prüfen, ob und inwieweit sie auf die Vereine anwendbar ist und welche zusätzlichen Pflichten und Anforderungen an die Vereine daraus gestellt werden.
Was bedeutet das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz für Vereine?
Um es vorweg zu sagen: Das neue BFSG ist für die Vereine und Verbände zwar grundsätzlich anwendbar, in der Praxis jedoch nicht.
Was ist mit der Barrierefreiheit im Sinne dieses Gesetzes gemeint? Gemeint ist die Verbesserung des barrierefreien Zugangs und die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an Produkten und Dienstleistungen sowie Information und Kommunikation in allen gesellschaftlichen Bereichen.
Das Gesetz stärkt also den Schutz des Verbrauchers, insbesondere den Schutz des behinderten, aber auch älteren Verbrauchers.
Das BFSG wendet sich an alle so bezeichneten „Wirtschaftsakteure“, was die zunehmende Tendenz des europäischen und des nationalen Gesetzgebers fortsetzt, solche Regelungen für alle Produzenten und Dienstleister verbindlich zu machen, also auch für die nicht kommerziellen wie Vereine, Stiftungen oder die öffentliche Verwaltung.
Warum Vereine (fast) nicht betroffen sind
Dann wäre das Gesetz also auch auf Vereine anwendbar? Nein. Nicht deshalb, weil sie nicht grundsätzlich vom Ziel und den Regelungen des Gesetzes ausgenommen wären, sondern weil Ausnahmevorschriften gelten, aus denen sich ergibt, dass in der Praxis die Vereine eben doch nicht den Regelungen des Gesetzes und seinen Verpflichtungen unterfallen. Ich komme darauf zurück.
Es ist zu beobachten, dass interessierte, geschäftstüchtige Kreise bereits jetzt beginnen, ihre Kunden auf die Anwendbarkeit des Gesetzes ab Ende Juni anzusprechen und ihre Dienste bei der Umsetzung dieses Gesetzes anzubieten. Dies ist auch schon im Verbands- und Vereinsbereich anzutreffen gewesen.
Deshalb: Gehen Sie auf solche Angebote nicht ein! Denn: Das Gesetz gilt nicht für sogenannte Kleinstunternehmen, § 3 Abs. 3 BFSG. Das sind Unternehmen (also auch Verbände und Vereine), die nicht mehr als 10 Personen beschäftigen, die hauptamtlich tätig sind (Teilzeitkräfte entsprechend anteilig). Ehrenamtliche Mitglieder sind grundsätzlich und von vorneherein nicht mitzurechnen (§ 2 Abs. 17 BFSG).
Erforderlich ist weiter ein jährlicher Jahresumsatz oder eine entsprechende Bilanzsumme von jedenfalls 2 Millionen Euro, die die Chorvereine oder auch der Schwäbische Chorverband bei weitem nicht erreichen.
Nicht einmal der Schwäbische Chorverband, geschweige denn seine Mitgliedsvereine oder die Regionalchorverbände unterfallen deshalb der Regelung dieses Gesetzes.
Barrierefreiheit als gesellschaftliche Aufgabe
Deshalb die eingangs gegebene “Entwarnung“. Sie könnten – und sollten – als Verein oder Verband nach innen und außen vertreten, dass das Gesetz Sie „nichts angeht“, wenn Sie von Vereinsmitgliedern oder Dritten angesprochen werden.
Was nicht heißt, dass das Gesetz eine überflüssige oder „bürokratieverstärkende“ Wirkung hätte! Der hinter dem Willen des Gesetzgebers stehende Gedanke ist der Schutz von Verbrauchern, insbesondere Menschen mit Behinderung und alten Menschen. Denn: Ihnen soll er Zugang zu und die Teilnahme an wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen ermöglicht oder erleichtert werden, und zwar in zweierlei Hinsicht:
Zunächst soll ihnen ermöglicht werden, die Mechanismen der modernen Produktions- und Dienstleistungsgesellschaft zu verstehen, um an ihnen teilhaben zu können. Dazu gehört vor allem auch, dass vor allem diese Personengruppen als besonders schutzwürdige Teile unserer Gesellschaft in die Lage versetzt werden sollen, neue, beispielsweise digitale oder sonst elektronische Prozesse zu durchschauen, wie beispielsweise den Online-Handel oder den Gebrauch und die Bedienung einer Webseite. Es ist sicher im allgemeinen Interesse und im Interesse der Verbesserung der Teilhabe dieser Personengruppen an modernen gesellschaftlichen Prozessen verdienstvoll, den modernen Akteuren dieser Produktions- und Dienstleistungsverfahren aufzuerlegen, bei der Gestaltung ihrer Produkte und Dienstleistungen auch an die schwächeren Mitglieder der Gesellschaft (Menschen mit Behinderung, alte Menschen) zu denken und ihnen die Teilnahme am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben zu erleichtern.
Dabei lässt das Gesetz den Betroffenen einen erheblichen Spielraum darin, wie sie die gesetzlichen Anforderungen umsetzen.
Beispielsweise müssen Inhalte und Navigation einer Webseite leicht verständlich eingerichtet sein und auf zumindest zwei Sinneswahrnehmungen (beispielsweise visuell und akustisch) nutzbar sein (Beispiel: In der visuellen Darstellung auch die genannte Vorlesefunktion).
Das ist Barrierefreiheit. Das gibt es schon lang; ursprünglich wurde der Begriff vor allem auf behindertengerechten Zugang zu Verkehrsmitteln und Gebäuden verwendet. Der Begriff der Barrierefreiheit hat im Laufe der Zeit eine erweiterte Bedeutung erhalten; nachdem das gesellschaftliche Leben durch die Digitalisierung, die modernen (auch sozialen) Medien und die veränderten Fortbewegungsgegebenheiten zusätzliche Maßnahmen zum Schutz benachteiligter Personengruppen notwendig gemacht hat, um diesen die (weitere) Teilnahme am gesellschaftlichen Prozess zu ermöglichen.
Barrierefreiheit in der Vereinsarbeit umsetzen
Die Verpflichtungen aus dem BFSG treffen die Vereine im Hinblick ihrer „Kleinstunternehmereigenschaft“ zwar nicht. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die Vereine und Verbände sich dem Gedanken dieses besonderen Schutzes nicht ebenso verpflichtet fühlen sollten, was im Übrigen in der Praxis auch sehr häufig schon geschieht, auch wenn hierzu nach wie vor keine rechtliche Verpflichtung besteht. Die seniorengerechte Gestaltung der Homepage (leichte Bedienbarkeit, gute Lesbarkeit des Schriftbildes, einfache Bedienung bei der Abfrage von Angeboten oder Fanartikeln etc.) sind Maßnahmen im Interesse der in unseren Vereinen zahlreich vertretenen älteren Mitglieder, und sie gehört in den Kanon der mitgliederfreundlichen und mitgliederfördernden Aufgaben, denen sich ein Vorstand in seiner Arbeit unterziehen sollte. Auch die Seniorenarbeit des Schwäbischen Chorverbandes wird sich dieser Aufgabe stellen und auch entsprechende Anregungen umsetzen und weitergeben.
Ein Gesetz also, das seiner inhaltlichen Zielsetzung nach unbedingt zu begrüßen ist und das als Appell an die Gesellschaft insgesamt verstanden werden sollte, bei Maßnahmen insbesondere der modernen Kommunikations- und Verkaufstechnik an die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft zu denken und ihnen ungehinderte Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen zu ermöglichen.
Wir haben im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie erfahren, dass in vielen Zusammenhängen der elektronische Kontakt über E-Mail, Homepage etc. schwer erträgliche Phasen des Wegfalls der unmittelbaren oder mittelbaren Kommunikation zu kompensieren half. Allerdings sind gerade viele unserer älteren Mitglieder, die über Zugang oder faktische Fähigkeiten im Zusammenhang mit den modernen Medien nicht verfügten, in der Pandemiezeit – auch aus diesen Gründen – „auf der Strecke geblieben“. Das Durchschnittsalter unserer Vereinsmitglieder ist hoch, die Zahl der nicht in der modernen Kommunikation bewanderten und aktiven Mitglieder sehr erheblich. Das BFSG ist deshalb auch eine Mahnung an die Chorfamilie, das Thema „Barrierefreiheit“ in den Fokus der Vereinsarbeit zu nehmen, gerade auch dann, wenn man rechtlich dazu eigentlich nicht verpflichtet wäre.
Zum Verfasser
Rechtsanwalt Christian Heieck
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Dieser Beitrag gibt die Auffassung, Kenntnisse und Erfahrungen des Autors aus vielen Jahren Vereinsrechtpraxis wieder. Wir bitten dennoch um Verständnis, wenn im Hinblick auf die Vielfalt der individuellen Fallgestaltungen, die im Vereinsrecht vorkommen, eine Haftung für die gegebenen Auskünfte im Hinblick auf konkrete Einzel fälle nicht übernommen werden kann.