(Ein persönlicher Blick aus der Chorarbeit)
Ganz stimmt die Aussage nicht – aber es ist deutlich zu spüren, dass heute lieber Musik über das Handy gehört wird, als selbst zu singen. Wenn wir Jugendliche wieder für das Singen begeistern möchten, kommen viele Themen ins Spiel, die nicht direkt mit Musik oder Gesang, sondern mit Haltung, Emotionen und Authentizität zu tun haben.
Zur Klarstellung: Dieses Thema bezieht sich vor allem auf Jugendliche, die wenig Zugang zur Musik haben und meist kein Instrument spielen.
In den letzten Jahren war auch ich auf der Suche nach Wegen, wie ich Jugendliche dort abholen kann, wo sie gerade stehen, und wie ich mit Musik einen echten Beitrag zu ihrem Leben leisten kann.
Dank der Akademie „Lernen von Innen“ habe ich mich intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt und dadurch meine Arbeit in den letzten vier Jahren grundlegend verändert.
Vor allem meine Haltung und die Art, wie ich Jugendlichen begegne, haben sich gewandelt. Jugendliche brauchen Erwachsene, die sich mit ihren eigenen Themen auseinandersetzen. Sobald Erwachsene bei sich selbst ankommen und Jugendliche ohne Bewertung, ohne Beurteilung und im Hier und Jetzt begleiten, entstehen Räume für offenen und ehrlichen Austausch. Oft merken wir gar nicht, dass wir eine negative oder erwartungsvolle Sprache verwenden. Das hilft uns nicht viel, wenn wir auf Augenhöhe die Jugendliche begegnen möchten. Wenn ich mit einer neuen Gruppe, einem Chor oder einer Klasse starte, brauche ich meist drei bis fünf Monate, um Vertrauen und Beziehung aufzubauen. Erst dann entsteht Musik.
Was mir als Chorleiterin wichtig ist
• Ehrlich und authentisch sein
• Neugierig statt urteilen
• Wahrnehmen statt bewerten
Ich frage mich jedes Jahr: Warum mache ich, was ich mache? Warum will ich überhaupt mit Jugendlichen arbeiten? Und was ist meine Motivation?
Diese Fragen sind berechtigt – und sie helfen mir, besser zu verstehen, was ich wirklich erreichen möchte. Nach einer Ausbildung oder einem Studium als Chorleiter:in kann es frustrierend sein, wenn man merkt, dass man sich oft mit anderen Themen als Musik beschäftigt. Aber muss das so sein? Ich glaube, dass jede:r darauf eine individuelle Antwort findet.
Bei mir hat es etwas gedauert, bis ich verstanden habe, wo meine Stärken liegen – und wie ich sie in meiner Arbeit nutzen kann. Heute gehe ich mit Freude zur Arbeit und komme mit einem Lächeln nach Hause, weil ich meine Ziele für mich geklärt habe. Im Austausch mit Kolleg:innen aus der Chorszene taucht oft ein Satz auf wie: „Ja, aber das ist nicht so, wie man im Chor eigentlich singt.“
Doch was heißt das konkret? Wie definierst du „Singen im Chor“ – nicht laut Buch oder Lexikon, sondern für dich selbst? Wir lassen uns oft zu schnell von der Außenwelt und deren Erwartungen beeinflussen. Dabei kann eine motivierte Chorleitung viele Jugendliche begeistern – auch jenseits klassischer Vorstellungen. Frage an dich: Was sind deine Gründe, mit Jugendlichen zu arbeiten?
Neugierig statt urteilen
Jugendliche stellen oft Fragen, die auf den ersten Blick gar nichts mit Musik zu tun haben: „Welche Schuhgröße hast du?“, „Wie viele Freunde hattest du?“, „Magst du lieber Rot oder Orange?“ Das klingt banal – ist es aber nicht. Diese Fragen zeigen, dass sie in Beziehung treten möchten. Und sie spüren sehr genau, ob wir wirklich an ihrem Leben interessiert sind oder nur freundlich wirken, damit sie „richtig“ singen. Beziehung geht in beide Richtungen.
Wahrnehmen statt bewerten
Eine der schwierigsten Aufgaben einer Chorleiterin oder eines Chorleiters ist es, die Stimmung der Gruppe wahrzunehmen: Wie ist die Atmosphäre heute? Braucht die Gruppe vielleicht eher ein Gemeinschaftsspiel, statt gleich mit Noten zu beginnen? Gibt es Spannungen, die angesprochen werden sollten?
Unsere Wahrnehmung kann sich erweitern, wenn wir dafür offen sind. Es braucht Geduld, Ehrlichkeit und Vertrauen. Jugendliche spüren sehr genau, wenn wir echt sind. Wenn jemand sagt: „Das Lied gefällt mir nicht“, höre ich einfach zu. Solche Kommentare dürfen Raum haben – denn natürlich gefallen nicht allen dieselben Stücke. Aber wenn Jugendliche merken, dass sie das ehrlich sagen dürfen, entsteht authentischer Austausch – und oft auch ein tieferes Interesse an der Musik.
Richtig oder falsch? Lieber forschen als korrigieren
Diese beiden Worte – richtig und falsch – versuche ich in Chorproben möglichst zu vermeiden. Offen sein bedeutet auch, nicht ständig korrigieren zu wollen – selbst wenn ein Ton mal nicht ganz stimmt. Oft ist wichtiger, dass sie überhaupt singen, als dass es perfekt klingt. Ich sehe mich selbst eher als Forscherin denn als Korrektorin. Ein „Fehler“ kann auch mit Humor angenommen und in ein klangliches Erlebnis verwandelt werden.
Wichtige Schwerpunkte in meiner Chorarbeit
Bei der Vorbereitung einer Chorprobe lege ich großen Wert auf bestimmte Schwerpunkte, die ich bereits in meinem Jahresplan verankere. Zum Beispiel:
• Ohne Noten lernen:
Die meisten Jugendlichen können keine Noten lesen. Ich schreibe daher meist nur den Text auf. Noten können anfangs eine Hürde sein. Mit einem Chor habe ich lange ohne Noten gearbeitet – und als wir sie später eingeführt haben, war die Begeisterung groß. Wir haben uns dann bewusst Zeit genommen, musikalische Begriffe kennenzulernen – nicht, weil wir mussten, sondern weil echtes Interesse da war.
• Gemeinschaftsgefühl:
Durch verschiedene – auch musikalische – Spiele fördern wir den Zusammenhalt. Besonders wichtig ist mir, vom Wettbewerbsgedanken wegzugehen, den viele Jugendliche aus der Schule kennen. Im Chor darf jede Stimme gleich wertvoll sein.
• Improvisation:
Vocal Painting, Bodypercussion, Solmisation oder Call & Response eignen sich hervorragend für Jugendgruppen. Diese Methoden holen Jugendliche aus ihrer Komfortzone und fördern musikalische Kreativität. Wichtig ist, dass sie sich damit vertraut und sicher fühlen.
• Austausch:
Jede:r darf z. B. in einem Satz etwas über das letzte Konzert oder die Weihnachtsfeier erzählen. Die Aufgabe der Chorleitung ist es, zuzuhören, nicht zu bewerten – und Raum für echte Begegnung zu schaffen.
• Gemeinsame Reflexion:
Nach einem Konzert, einer Videoaufnahme oder beim Erarbeiten eines neuen Stücks reflektieren wir gemeinsam: Was hat gut funktioniert? Was haben wir gelernt? Wie haben wir uns gefühlt? So entsteht Bewusstsein für den eigenen musikalischen Weg.
• Kreis- und Bewegungsspiele:
Kleine Spiele – mit oder ohne Musik – helfen, Spannung abzubauen, Vertrauen aufzubauen und den Zusammenhalt zu stärken.
• Sammlung von Lieblingsliedern:
Ich lasse Jugendliche mitentscheiden, welche Lieder sie gerne hören oder singen möchten. So entsteht Identifikation, Motivation und echte Freude am gemeinsamen Singen.
• Auf Augenhöhe arbeiten & Regeln klären:
Für Jugendliche ist es wichtig, dass wir klare Regeln gemeinsam festlegen und sie das Gefühl haben, Teil des Ganzen zu sein.
Chorarbeit gelingt nur auf Augenhöhe.
Aus der Praxis
In einer Chorprobenpause kam es einmal zu einem Konflikt zwischen mehreren Jungs aus dem Chor. Nach der Pause habe ich sofort gespürt, dass die Stimmung nicht gut war – also sprach ich das Thema an. Sechs Jungs standen gegen einen aus einer anderen Klasse. Ich schlug vor, dass wir zwei „RoundSpeak“-Runden machen – eine Methode, bei der jede:r sagen darf, was gesagt werden muss, ohne unterbrochen zu werden.
Anfangs waren alle genervt, aber jede:r bekam Zeit, sich auszudrücken. Nach einer Weile wurden sie ruhiger – nicht, weil wir sofort eine Lösung gefunden hatten, sondern weil sie gehört wurden. Zum Schluss bedankte ich mich für ihr Vertrauen und erklärte, was wir in der restlichen Chorprobe noch machen wollten. Alle waren einverstanden – und die Probe endete schließlich mit Musik.
Ich plane Chorproben ähnlich wie Rhythmik-Einheiten: Einstieg – Hauptteil – Ausklang. Gerade Anfang und Schluss bleiben Jugendlichen besonders in Erinnerung – und sorgen dafür, dass sich eine Chorprobe rund anfühlt.
Ein bisschen Leichtigkeit
Die Welt ist für Jugendliche schon verrückt genug. Wenn es uns gelingt, ein bisschen Leichtigkeit in ihre Welt zu bringen, ist das bereits ein wertvoller Beitrag.
Ich möchte alle Vereine und Chorleiter:innen ermutigen, Jugendchöre aufzubauen. Der SCV bietet viele hilfreiche Tipps und Coachings, um diesen Weg zu unterstützen. Und: Für Fragen oder den Austausch von Ideen stehe ich gern zur Verfügung.
Weiterführende Links:
www.lernenvoninnen-dieakademie.de
Kurzvita
Jacinta Pereira
ist Musikpädagogin, Chorleiterin und Rhythmik-Dozentin. Sie möchte Menschen inspirieren, die auf der Suche nach neuen Wegen in der Musikpädagogik sind. Sie sieht sich selbst als Zündfunke für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die Musik in ihrem Leben erleben, spüren und lernen möchten.
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