Herr Schreiber, Sie komponieren seit vielen Jahren für Film und Fernsehen. Wie hat es Sie ursprünglich zur Filmmusik verschlagen?
Tatsächlich war das ein kleiner Umweg. Ich habe zunächst Umweltschutztechnik studiert, weil mich das Themenfeld interessierte – das Studium selbst aber hat mich nicht erfüllt. Parallel war Musik bereits ein großer Teil meines Lebens: Klavier, eine Band, ein kleines Studio und auch eigene Kompositionen. Bei diesen habe ich immer auch Szenen vor meinem inneren Auge gesehen – musikalische Passagen haben in meinem Kopf visuelle Entsprechungen. Irgendwann wurde die Musik so stark, dass ich mich gefragt habe, was ich eigentlich den ganzen Tag tun möchte. Und da war die Antwort klar: Filmmusik. Das war eine sehr emotionale Entscheidung, was bei mir damals noch relativ selten war, aber das Gefühl war so stark, dass ich das nicht ignorieren konnte. Also habe ich mich informiert, wo ich das machen kann und dann Musik und Kunst in Oldenburg studiert, von Beginn an darauf ausgerichtet, später an der Filmakademie Ludwigsburg Filmmusik zu studieren. Das hat dann auch geklappt.
Welche Rolle spielt das Singen für Sie persönlich?
Eine große. Ich habe etwa zwölf Jahre in verschiedenen Chören gesungen: zuerst im Kinder- und Schulchor, später im Kirchenchor in Worms. An der Uni hatte ich dann klassischen und populären Gesangsunterricht.
Was macht den Chorklang in der Filmmusik so besonders?
Eine menschliche Stimme ist etwas Archaisches. Sie ist das erste Instrument, das wir Menschen hatten, und sie liegt in einem Frequenzbereich, für den unser Ohr extrem sensibel ist. Eine Stimme setzt sich durch und sie schafft gleichzeitig Nähe. Dazu kommt, dass Stimme auf mehreren Ebenen kommuniziert: Nonverbal, also z.B. über Vokale, über Stimmfarbe, aber auch über Text. Man kann darüber hinaus mit Elementen wie Atmern oder Flüstern besondere Stimmungen und eine gewisse Intensität erzeugen. Instrumente können sehr viel – aber diese Kombination aus Menschlichkeit, Direktheit und emotionaler Bandbreite ist einzigartig.
Wie oft setzen Sie Chor in Ihren eigenen Filmmusiken ein?
In etwa bei der Hälfte bis 70% meiner Arbeiten kommt Chor vor – aber selten durchgängig. Ein Chor ist ein großer Klangkörper, und das muss ein Film auch vertragen. Wenn Musik größer wirkt als das Bild, stimmt die Verhältnismäßigkeit nicht. Deshalb setze ich Chor fast immer gezielt ein: punktuell und je nach Funktion, die der Klang erfüllen soll.
Welche dramaturgischen Funktionen erfüllt Chor besonders gut?
Sehr viele. Für Naturdokumentationen etwa nutze ich Chor gern dann, wenn etwas Außergewöhnliches, Wandel oder etwas „über dem Alltäglichen“ beschrieben wird – Naturwunder, Metamorphosen, Prozesse, die etwas Erhabenes haben. Da eignen sich Frauen- oder Kinderchorstimmen besonders gut, weil sie etwas Schwebendes, Sphärisches erzeugen.
Für bedrohliche Szenen funktioniert Chor ebenfalls hervorragend – zum Beispiel geflüsterte Stimmen. Das wirkt sofort unheimlich, ohne dass man viel tun müsste. Bei monumentalen Räumen, Burgen oder historischen Sujets funktioniert ein tiefer Männerchor sehr gut, weil er etwas Fundamentales mitbringt. Und für Action-Szenen setze ich oft perkussive Stakkato-Silben ein, die rhythmische Energie erzeugen. Chor kann unglaublich viel erzählen.
Chor funktioniert besonders gut bei Stoffen, die groß sind: Science Fiction, große Natur, epische Welten, religiöse und göttliche Themen. Wenn es aber intim und persönlich wird, ist ein Chor schnell zu viel und zu groß. Dann nutze ich lieber eine einzelne Stimme. Das sieht man sehr schön im Film „Gladiator“ in der Eröffnungsszene: Lisa Gerrard singt dort ohne Text, nur mit Vokalen. Diese einzelne Stimme bringt uns direkt an den einzelnen Charakter heran, sie ist eine Innenprojektion und schafft damit Identifikation.
Wie häufig werden reale Chöre für Film- und Fernsehkompositionen aufgenommen?
Für Kinofilme durchaus regelmäßig. Da werden sowohl Orchester als auch Chor aufgenommen, wenn es dramaturgisch sinnvoll ist. Für Fernsehproduktionen dagegen sehr selten. Der Aufwand ist enorm: Sätze schreiben, proben, Aufnahmetage organisieren, mischen – das tut man nicht für wenige Passagen. In vielen Fällen greift man auf Sample-Libraries zurück.
Wie gut funktionieren diese Libraries für Chor?
Sie sind heute wirklich beeindruckend. Es gibt Libraries mit gesampelten Registern, Satzstimmen, sogar Silbenkombinationen. Aber man muss sorgfältig damit arbeiten. Das Wichtigste ist der Chorsatz – man darf nicht einfach Akkorde spielen und hoffen, dass es wie Chor klingt. Man muss setzen wie für reale Stimmen, sonst wirkt es unauthentisch. Und man muss aufpassen, dass die Größe stimmt: Viele Libraries klingen automatisch riesig. Für kleinere Ensembles muss man da bewusst reduzieren.
Wo liegen die größten Herausforderungen beim Komponieren mit Chor?
Neben der falschen Nutzung der Libraries liegt eine große Herausforderung in der Überschneidung mit Dialogen. Chor und Sprache liegen im selben Frequenzbereich. Wenn ich Chor unter Dialog lege, kollidiert das in fast allen Fällen. In der Filmmischung wird der Chor dann so weit heruntergefahren, dass er kaum noch hörbar ist. Das ist schade und eigentlich vermeidbar. Deswegen muss man chorale Elemente vorher so setzen, dass sie den Dialog freilassen – entweder durch extreme Höhe, extreme Tiefe oder indem man den Chor gar nicht unter dialoglastige Szenen legt. Das ist einer der Hauptgründe, warum Filmmusik überwiegend instrumental ist.
Welche Rolle spielt KI für das Komponieren von Filmmusik heute?
Technisch spielt sie eine wachsende Rolle, juristisch aber noch nicht. In Deutschland kann KI-Musik derzeit nicht verwendet werden, weil Filmproduzenten urheberrechtliche Rechtssicherheit brauchen. Eine Maschine kann aber kein Urheber sein. Außerdem haben Filme ja auch immer einen künstlerischen Anspruch. Regisseure möchten KI deshalb vielleicht gar nicht nutzen, selbst wenn sie es könnten, weil sie wollen, dass Film eine Kunstform bleibt und echte Menschen künstlerisch daran arbeiten sollen.
Inhaltlich ist KI erstaunlich gut darin, Stile zu imitieren – besonders Klischees und Elemente, die in Trainingsdaten häufig vorkommen. Sie kann Hans-Zimmer-Anmutungen erzeugen oder John-Williams-artige Orchesterpassagen. Für Werbung oder kurze Formate wird KI vermutlich schnell relevant werden.
Für komplette Filmmusiken sehe ich sie aktuell jedoch noch nicht. Filmmusik ist kein Baukasten von Stilzitaten. Man entwickelt Themen, variiert sie, führt sie durch dramaturgische Prozesse. Die Musik folgt Figuren, Wendepunkten, emotionalen Nuancen. KI kann momentan vor allem kurze Fragmente. Eine durchgehende thematische Entwicklung über 90 Minuten hinweg – das kann KI bisher noch nicht – was nicht bedeutet, dass das in Zukunft so bleibt. Aber es wird spannend sein zu beobachten, wie sich das verändert.
Gibt es eine Chorszene aus der Filmgeschichte, die Sie selbst gern komponiert hätten?
Ja: „2001: Odyssee im Weltraum“. Die Chormusik von György Ligeti rund um den Monolith ist für mich das Paradebeispiel von Chorklang in der Filmmusik. Die Musik besteht aus Clustern ohne tonales Zentrum und bleibt ständig in der Schwebe. Sie klingt menschlich, aber nicht wie etwas aus der Musikgeschichte. Dadurch wirkt sie entrückt, geheimnisvoll, fast nicht von dieser Welt. Genau das entspricht der Funktion des Monolithen. Dieselbe Wirkung wäre mit Instrumenten in dieser Form gar nicht möglich gewesen.
Über Frank Schreiber
Frank Schreiber ist Filmkomponist, Musikproduzent und Sounddesigner. Er komponiert und produziert Musik und Sounddesign für Spielfilme, Animationsfilme, Dokumentarfilme und Werbungen. Dabei ist sein Stil sehr vielfältig und deckt von klassischen Orchester-Scores bis hin zu elektronischen Tracks ein sehr breites Spektrum ab.
Der Deutsche Filmmusikpreis, sowie zahlreiche weitere Auszeichnungen auf internationalen Filmmusik- und Filmfestivals in Europa und den USA, bestätigen seine Arbeit.
Er studierte von 1997-2001 Musik und Kunst an der Universität Oldenburg und von 2001-2004 Filmmusik & Sounddesign an der Filmakademie Baden-Württemberg.
Wenn es seine Zeit erlaubt, gibt Frank Seminare an Hochschulen und Universitäten und ist freiberuflicher Autor für die Fachmagazine „Sound & Recording“ und „Keyboards“.
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