Fast 111 Jahre bestand das Silcher-Museum in Weinstadt-Schnait
111 Jahre ist ein stolzes Alter. Doch das Ende dieser Ära kam trotzdem abrupt und unerwartet. Noch 2020 wurden große Pläne geschmiedet und ein Konzept für das Jubiläum 2024 erstellt. Ein multimediales Lifting war vorgesehen; attraktive Möglichkeiten und Kulturräume für verschiedene Zielgruppen zu schaffen und seinem Namensträger zu neuer Strahlkraft zu verhelfen. Doch daraus wurde nichts: Das Silcher-Museum in Weinstadt-Schnait hat seine Türen für die Öffentlichkeit seit Januar 2023 für immer geschlossen.
Gut 233 Jahre zuvor – am 27. Juni 1789 – wurde Friedrich Silcher in jenem Haus in Weinstadt-Schnait geboren, das ungefähr auf halber Strecke zwischen Stuttgart und Schorndorf liegt. Seitdem hat dieses Häuschen viel „erlebt“ und sich verändert.
Eine Zeitreise
Laut der Stadt Weinstadt wurde das ehemalige Schulhaus 1767 „als langgestreckter, vermutlich von Anfang an verputzter Fachwerkbau errichtet, wobei der westliche Teil als Lehrerwohnhaus fungierte.“ Weiter heißt es: „Allerdings wurde das Gebäude seither vielfach verändert und umgebaut. Gerade das Lehrerwohnhaus sah damals noch anders aus: Es hatte nur zwei Geschosse und einen Giebel an der Westseite (zur Silcherstraße hin). Noch zu Lebzeiten Silchers, 1829, erhielt dieser Trakt ein Zwerchhaus auf der Nordseite, das dann bei der Aufstockung gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit einbezogen wurde. Dabei wurde der First im westlichen Teil des Gebäudes gedreht und so das heutige Aussehen des Schulhauses geschaffen.“
Die Festschrift (Hrsg. Schwäbischer Sängerbund 1849 e.V.) anlässlich der Museums-Erneuerung 1992 gewährt einen Einblick in die Lebensumstände, unter denen der spätere Komponist und Musikpädagoge Silcher aufwuchs: „Im Garten hinter dem Haus, in Wiese, Feld und Weinberg hat der Schulmeisterssohn in Spiel und Arbeit eine frohe und gesunde Jugend verlebt. Er lernte die schwäbische Landschaft mit ihrer sanften, stillen Schönheit kennen und lieben, und das einfache, aber um so innigere Naturgefühl ihrer Bewohner ward auch das seinige. Er hörte die Mädchen und die jungen Burschen singen, sah zu, wie sie zu den Weisen von Klarinette, Geige und Baß den alten schwäbischen Ländler tanzten und mancher Klang blieb ihm im Ohr, manche Melodie wurde nachher am väterlichen Klavier wieder Zusammengesucht.“ (zit. nach August Bopp, 1916)
Museum statt Abriss
Nach seinem Tod 1860 war Friedrich Silcher in Vergessenheit geraten. Nur wenige Schnaiter wussten, dass einst ein „Liederdichter!“ im hiesigen Schulhaus geboren worden war, als der Sängerkranz 1881 als Männerchor „Silcherverein Schnait“ neugegründet wurde. Im Folgejahr wurde eine Gedenktafel am Silcherhaus angebracht und bei einem Festakt feierlich enthüllt. Doch erst als das Silcherhaus beinahe einem Schulneubau zum Opfer gefallen wäre, wurde der Grundstein für ein Museum gelegt. Ab 1905 ergriff der Schwäbische Sängerbund (SSB) zahlreiche Maßnahmen. Der damalige Leiter des SSB hatte dafür gekämpft, das Silcherhaus „unter allen Umständen für die Nachwelt zu erhalten“, wie sich Prof. Emil Fladt, der in der November-Sitzung des Gesamtausschusses des SSB 1911 als Kustos für das zukünftige Museum bestimmt wurde, um 1920 erinnerte. Der SSB sicherte sich beispielsweise in einer schriftlichen Vereinbarung mit der Gemeindeverwaltung zwei Räume der ehemaligen Silcherwohnung für eine „künftige Nutzung“, rief seine Bundesvereine zu Spendenaktionen auf, veranstaltete Benefizkonzerte und tätigte erste Anschaffungen.
Feierliche Museums-Einweihung 1912
Über die feierliche Eröffnung des Silcher-Museums am 22. September 1912 schrieb die Württembergische Zeitung: Eine „gewaltige Schar von Silcherverehrern“ sei dem Dorf im Remstal zugestrebt, das sich festlich geschmückt habe; „eine lange von Vehikeln aller Art, vom vornehmen Bernerwägelchen bis herunter zum anspruchslosen, aber geräumigen Leiterwagen stand am Bahnhof von Endersbach bereit, um die Festgäste aufzunehmen“.
Der Festzug führte vom Ortseingang zum Schulhaus, wo die Schnaiter Jugend und der Silcherverein mit dem Silcher-Choral „Womit soll ich dich denn loben“ das Fest eröffnete; Emil Fladt begrüßte in einer Ansprache die Gäste inkl. der Verwandten Silchers. Danach übergab der Präsident des Schwäbischen Sängerbundes, Friedrich List, das Museum an die Gemeinde. Fladts Ziel war es gewesen, aus dem Nachlass Silchers noch unbekannte Schätze zu heben und den Musikfreunden zugänglich zu machen. Diese editorische Arbeit hat das Museum bis zuletzt fortgesetzt.
Neben Gebrauchsgegenständen von Silcher war das Herz der Sammlung sein „Werk“, Handschriften und Frühdrucke seiner Kompositionen. Fladt hatte Wert darauf gelegt, Silcher nicht auf seine Volks- und Chorlieder zu reduzieren, sondern ein umfassendes Bild von ihm zu zeigen: den Menschen, den Pädagogen und Komponisten mit dem gesamten Spektrum seines Schaffens, einschließlich seiner theoretischen Schriften, Klavierlieder und sakralen Stücken. Dieser Philosophie war man bis zum Schluss treu geblieben.
Silcherhaus überstand Krieg und Inflation
Zwei Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges musste das Silcher-Museum schließen: Die Besucherzahlen waren massiv zurückgegangen; infolgedessen ließen sich die Kosten nicht mehr decken. Die Freude über die florierende Nachfrage in der Nachkriegszeit wurde durch die Inflation verdrängt – als beispielsweise die Spendensumme der Freitags-Gesellschaft Stuttgart von 250 000 Mark bereits am Abend desselben Tages im September 1923 nichts mehr wert war. In der Zeit des Dritten Reichs wurde Silcher von den Nationalsozialisten für ihre kulturpolitischen Zwecke missbraucht. Unter Leitung des überzeugten Nationalsozialisten Hans Rauschnabel als Kustos entstanden völlig überzogene Pläne zur (Um-)Gestaltung und Nutzung des Hauses, die aber an der mangelnden Bereitschaft des Sängerbundes und der Regierungsstellen scheiterten. Schließlich wurde das baufällige Schulhaus 1934/35 abgerissen und in nur fünf Monaten ein Museumsbau errichtet. Auch das Lehrerwohnhaus mit der Silcherwohnung wurde teilweise abgebrochen und nach altem Vorbild neu erbaut.
Lachenmann steuerte das Museum durch die Krise
Nachdem Rauschnabel als Kreisleiter der NSDAP nach Tübingen versetzt worden war, übernahm 1938 Carl Lachenmann die Betreuung des Museums als erster festangestellter Kustos. Er führte das Haus mehr als ein halbes Jahrhundert lang bis 1993. Unter seiner Leitung kam das Museum sicher durch die Jahre des Zweiten Weltkriegs, wobei es ihm gelang, weitere ideologische Eingriffe der Nationalsozialisten in das Museum einzudämmen. So riskierte er zum Beispiel einen Konflikt mit einem Nazi-Funktionär, weil er sich weigerte, das Bild des jüdischen Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy, dem Lieblingskomponisten Silchers, aus der Ausstellung zu entfernen.
1944, als durch den Luftkrieg schließlich auch Schnait gefährdet war, brachte Lachenmann das „Herz“ des Museums, die Silcher-Handschriften, in zwei Koffern persönlich in das als Kunstdepot umfunktionierte Salzbergwerk Kochendorf bei Heilbronn.
Trotz regem Besuchsinteresse stand die Existenz des Museums nach Kriegsende lange auf Messers Schneide. Grund: die ungeklärten Besitzverhältnisse sowie finanzielle Engpässe. Die drei in den Besatzungszonen neu gegründeten Sängerbünde waren zerstritten, rauften sich aber für einen Erhalt des Silcher-Museums zusammen. 1952 folgte die Fusion zum Schwäbischen Sängerbund 1849 e.V., dem heutigen Schwäbischen Chorverband. Nach einer Erneuerung ab Mitte der 50er-Jahre fand eine umfangreiche Sanierung zuletzt von 1990 bis 1992 statt. Die Dauerausstellung wurde im Jahr 2000 durch eine Ausstellung zur Geschichte der Laienchorbewegung und des Schwäbischen Chorverbandes ergänzt.
Endgültige Schließung nach der Pandemie
2022 entschied das Präsidium des Schwäbischen Chorverbandes, das Museum nach seiner übergangsweisen Schließung seit Pandemie-Beginn dauerhaft nicht mehr zu öffnen. Mit der Abschlussveranstaltung im Januar 2023 endete die Ära des Silcher-Museums. Die heimatkundliche Sammlung war bereits 2021 als Schenkung der Stadt Weinstadt überlassen worden; die Forschungsabteilung liegt inzwischen in den Händen des Literaturarchivs Marbach. Die Ausstellungsgegenstände und der wissenschaftliche Wert sollen jedoch nach Auskunft des Schwäbischen Chorverbandes andernorts der Öffentlichkeit erhalten bleiben und zugänglich sein. Ein Teil wird nach Tübingen verlagert, Objekte rund um die Loreley gehen an das Heinrich-Heine-Institut. Weitere Gespräche laufen.