Vier Popchor-Expert:innen des SCV im SINGEN-Gespräch
Das Feld der Popchöre ist so groß wie vielfältig. Die SINGEN hat dafür mit den vier Dozent:innen der PC3-Ausbildung, Maximilian Stössel, Sascha Rieger, Karoline Lindt und Julian Knörzer gesprochen. Das Interview zeigt, wie nah sich Pop/Jazz und Klassik in vielen Fällen sind und was Sänger:innen wie Chorleitungen sich abschauen können.
Braucht es aufgrund der Vielfalt in der Popularmusik (Groove, Body Percussion, Beatbox etc.) mehr Können als Popchorleiter:in?
Max S.: Nein, das würde ich nicht sagen. Ich würde es auch nicht gegeneinander ausspielen. Es braucht andere Fähigkeiten, das stimmt schon. Letztendlich gibt es wunderbare Beispiele, wie Anne Kohler oder Erik Sohn, die zeigen, dass man total gut vom jeweils anderen Genre profitieren kann. Wenn du eine absolute Groove-Maschine bist, kannst du auch eine Bachmotette grooviger einstudieren. Barockmusik mit durchlaufenden Sechzehntel-Koloraturen, das ist ein bisschen wie eine durchlaufende Hi-Hat. Andersrum kann man sagen, allen Menschen, die vor allem Popmusik machen, schadet es nicht, sich nochmal auseinanderzusetzen mit klassischer oder romantischer Musik. Ich würde ermuntern, offen zu sein, sich die verschiedensten Sachen anzuschauen.
Sascha R.: Das würde ich absolut unterstreichen. Wenn ein Jazz-/Popchorleiter ein bisschen Schwierigkeiten mit geshuffelten, funky Sechzehntel-Gruppen hat, dann wird er so ein Lied einfach nicht auswählen.
Max S.: Was ich im PC3-Kurs sehr spannend finde, ist die Beobachtung, dass Menschen, die sehr intensiv klassisch ausgebildet sind, z.B. ein komplett klassisches Studium hinter sich haben, also hochqualifizierte Leute, sich mit manchen Grundlagen der Popmusik schwertun. Andersrum haben natürlich auch Leute, die ausschließlich Pop machen, eventuell Schwierigkeiten, eine Fuge stabil hinzukriegen.
Karo L.: Ich würde es mir nicht rausnehmen zu sagen, man muss mehr können. Ich glaube, es ist auf jeden Fall anders, was man können muss, allein durch diese Vielfalt, was alles möglich ist. Wenn man Arrangier-Skills hat, ist das natürlich toll, wenn man das auf den eigenen Chor anpassen kann. Das mache ich auch zum Beispiel sehr gerne, also ad hoc darauf zu reagieren. Ich glaube auch, dass eine Person, die einen klassischen Hintergrund hat, aber einen Popchor leitet, dass das auch wunderbar funktionieren kann. Ist halt anders, aber nicht besser oder schlechter.
Julian K.: Ich glaube, das ist eigentlich nur anders. Es gibt andere Kompetenzen, die man mitbringen sollte. Aber was zum Beispiel superschön funktioniert in meinem Arbeitsfeld, ist ein guter Austausch zwischen der klassischen und der Jazz-/Popchorleitung und meine Studierenden müssen auch in beide Bereiche rein. Es wird immer rückgemeldet, dass es doch sehr fruchtbar ist, weil man sich sehr, sehr gut die Kompetenzen hin- und her spielen kann. Klar spielen Rhythmus und Groove eine sehr große Rolle im Pop-/Jazz-Bereich und gleichzeitig kann man im Pop-/Jazz-Bereich wahnsinnig viel lernen über Spannungsbögen innerhalb der Musik und auch über einen anderen Stimmsitz, anderen Stimmklang, der die Stimme anders trägt.
Welche sind drei Eigenschaften, die man als Popchorleitung mitbringen muss?
Sascha R.: Der erste Punkt, das gilt aber für alle Chorleiter, egal welches Genre, sind die Ausstrahlung und die persönliche menschliche Art, wie man mit Menschen umgeht. Dass man offen mit den Menschen umgeht, speziell im Amateurbereich. Im Amateurbereich musst du unbedingt Menschen mitnehmen! Du musst sie ernst nehmen, du brauchst menschlichen, würdevollen Umgang!
Max S.: Ich schließe mich da Sascha total an. Ich finde es tatsächlich auch den wichtigsten Punkt, weil das der Grund ist, warum Menschen gerne auch in den Chor kommen. Nummer eins also die Begeisterungsfähigkeit. Nummer zwei würde ich sagen, eine innere Vorstellung der Musik, das heißt, wenn die Person sich wirklich vorstellen kann, wie es klingen soll, dann ist das einfach schon die ganz zentrale Basis. Es ist gar nicht so entscheidend, ob sie es am Klavier vormachen kann oder anders, es ist erstmal wichtig, dass die Person, wenn sie vorm Chor steht und es klingt noch nicht so, wie sie es im eigenen Kopf hat, dass sie dann weiß, wie sie es haben möchte, dass sie eine Klangvorstellung hat. Nummer drei knüpft daran an, nämlich dass sie es irgendwie vormachen kann. Im besten Fall schon singend. Wenn eine Person wirklich vorsingen kann, wie sie es fühlt, wie sie es sich innerlich vorstellt und das alles auf eine begeisternde Art und Weise tut, dann ist schon extrem viel da.
Sascha R.: Was mich selbst immer bewegt, ist das Organisatorische, also die Gestaltung im Kleinen, dass die Probe innerhalb eines Abends energetisch gut läuft und nicht irgendwann absackt und keiner mehr Lust hat, sondern dass die Abwechslung gut ist. Wann lege ich ein Lied zur Seite, wann lasse ich es ruhen, damit ich Zeit habe für die anderen Stücke? Das ist immer eine knifflige Sache. Wenn du es zu spät rausholst, reicht es nicht mehr, wenn du es zu lang probst, kommt das andere nicht mehr rechtzeitig auf den Tisch, das ist jedes Mal eine neue Herausforderung für mich. Das ist sicher etwas, was alle Chorleiter:innen irgendwie vereint. Das gilt auch für die drei Punkte oben, es gilt gleichermaßen für Jazz- und Popchöre, wie auch für klassische Chöre, ich glaub da gibt’s gar nichts Spezielles für Pop.
Wie geht ihr in der Probe mit unterschiedlichem Können der Sänger:innen um, speziell bei Rhythmus?
Sascha R.: Bei neuer Literatur ist es in der Einarbeitung oft so, dass man, bevor man an die Töne geht, den Rhythmus isoliert trainiert, dass man den Text im Rhythmus spricht, aber nicht nur monoton, sondern mit dem Gefühl, als würde man ihn singen. Wenn man merkt, ich komme so nicht weiter, ich muss noch mal in die Tiefe steigen, dann gibt es ja spezielle Tools wie zum Beispiel ‚Diggedagge‘-Übungen. Das andere ist, dass man schon in Einsing-Übungen der Proben davor solche Sachen integrieren kann, dass ich schrittweise schon mal darauf aufbauen kann.
Max S.: Die ‚Diggedagge-Methode‘, die Sascha gerade anspricht, ist eine Rhythmussprache. ‚Diggedagge‘ ist dann die Sechzehntel-Ebene und das ‚Di‘ von ‚Digge‘ die Viertel-Ebene. Die Grundidee besteht darin, dass man eine sogenannte ‚Microtime‘ fühlt. Heißt, die Sechzehntel laufen durch und man geht in Zeitlupe die Akzente durch, wie ‚DiggedaGE‘ auf der Vier einer Zählzeit. Die werden dann immer schneller. Das geht auch durch abwechselndes Klopfen auf die Schenkel oder die Brust, dass man sie irgendwo im Körper fühlt als Stabilisierung. Ich glaube, ganz vielen Menschen hilft es, wenn sie den Rhythmus in den Körper bekommen. Dieses ‚In-den-Körper-Kriegen‘ ist eine ganz zentrale Methode, um auch den Rhythmus zu knacken. Trotzdem kann es sein, dass man alles probiert, was im eigenen Methodenkoffer ist, und am Ende des Tages kriegen es trotzdem Personen nicht hin. Jetzt habe ich zwei Möglichkeiten.
Die eine Möglichkeit ist, man vereinfacht es für diese Personen, dass man es reduziert, sie muss nur bestimmte Zählzeiten machen. Im schönsten Fall hat man eine Choratmosphäre, wo sowas auch okay ist. In der Klassik ist das aber auch so. Ich kann mir auch vorstellen, dass bei superschweren Koloraturen eine Person, die nicht auf dem Level anderer ist, nur die jeweiligen ersten Schläge der Sechzehntelläufe schlägt. Vereinfachte Aufgaben finde ich völlig legitim, es hat den schönen Aspekt, dass die Person trotzdem Teil des Ganzen ist. Wenn man zum Beispiel einen ganz komplexen Body-Percussion-Groove hat mit Stampfen, Klatschen, Schnipsen, Ohrenwackeln, sagt man zu diesen Menschen: ‚Ihr macht erstmal das Stampfen und wenn das Stampfen stabil ist, dann das Klatschen usw.‘
Die andere Möglichkeit ist sehr hart und da würde ich auch kritisch die Frage stellen, ob man das überhaupt will, nämlich dass man nur Leute aufnimmt, die gewisse Dinge können. Hier muss man sich fragen, wofür ist der Chor da? Nur für eine Gemeinschaft nach Feierabend?
Karo L.: Kommt ganz auf die Person an, ich persönlich probiere dann einfach Sachen aus. Ich versuche, das ein bisschen unauffällig zu machen, weil ich das selbst noch kenne, wenn ich früh als Teenie oder als junge Erwachsene so direkt auf eine Schwachstelle hingewiesen wurde, da war die riesengroß. Manchmal sind die Sachen aber gar nicht so groß, wie wir sie in unserem Kopf machen. Deswegen würde ich zum Beispiel versuchen, die Person zu mischen, also mit Leuten zu umgeben, die das vielleicht besonders gut können. Vielleicht kann es jemand anders so ausdrücken, dass es Klick macht bei ihr. Man kann der Person auch andere Aufgaben geben. Wenn man merkt, etwas funktioniert nicht, dann würde ich im nächsten Schritt die Person doch rausnehmen und ihr vielleicht etwas Einfacheres geben. Und wenn es dann nicht funktioniert, muss man auch mal eine andere Lösung finden, indem man wieder eine Kleingruppe bildet, die vielleicht etwas Leichteres macht. Ich würde niemals sagen ‚Du kannst das nicht gut, übe nochmal zu Hause!‘. Wenn, dann würde ich sagen, wenn es ein Freundesgruppe wäre, ‚Übt doch noch mal zu Hause zusammen!‘. Aber ich würde es niemals einer einzelnen Person sagen, denn das kann das noch verschlimmern.
Julian K.: Ich versuche natürlich alle irgendwie zusammenzubringen, sonst sorgt das für Frustration und schlechte Stimmung im Chor. Es kommt drauf an, von welchem Chor wir sprechen. Prinzipiell versuche ich dann schon auch zu pushen, aber es gibt auch Dinge, die ich dann manchmal einfach verlange, wo ich dann sage ‚Bitte zu Hause dementsprechend vorbereiten!‘ oder es gibt Momente, in denen speziell mit Kleingruppen nochmal geübt werden kann. Ansonsten gibt es aber immer wieder die Möglichkeit, dass man auf verschiedenen Levels arbeitet, dass man sagt, die Gruppe, denen es vielleicht ein bisschen schwieriger fällt, macht nur das und diejenigen, denen es total leicht fällt, die können wirklich das volle Programm abziehen, sodass man da so einfach ein bisschen die verschiedenen Niveaus zusammenbringt und das trotzdem alle an der gleichen Sache arbeiten.
Welchen Stellenwert legt ihr auf Choreographie und Performance?
Sascha R.: Ich finde es im Konzert richtig cool, das fängt schon bei kleinen Elementen an: Wie komme ich herein? Wie gehe ich am Schluss hinaus? Das macht manchmal einen großen Unterschied. Ansonsten geht bei mir immer die Musik vor. Ich finde es nicht gut, wenn man eine riesige Show macht und dann keine Töne mehr trifft. Ich finde das toll, wenn jemand da Ideen hat, und ich freue mich auch, wenn es aus dem Chor kommt, weil das nicht meine Stärke ist.
Max S.: Für mich ist die erste Stufe, dass man den Menschen ansieht, dass sie gerade Musik machen, die eigentlich zum Tanzen geschrieben wurde. Es heißt nicht, dass alles super synchron, wie beim olympischen Schwimmen, perfekt choreografiert sein muss, sondern dass man überhaupt schon mal den Körper ein bisschen in Bewegung bringt. Auf der Stelle ein bisschen gehen, bisschen wippen, die Hüfte, dass es im Körper ist, da ist schon viel erreicht.
Karo L.: Ich benutze es extrem viel. Ich arbeite auch in der Gesangstechnik ganz viel mit Emotionen. Aus den Emotionen, die die Chorsingenden fühlen oder die wir in dem Moment abrufen, ergibt sich auch eine Art Performance. Es ist natürlich ganz anders, wenn der Chor wütend singt, dann gehören Mimik und Gestik dazu.
Julian K.: Im Pop/Jazz kenne ich oft eine sehr szenische Umsetzung, dass man wirklich spielt, was man auch hört, vor allem von Laienchören. Das ist dann eher ein künstlerischer Ansatz, was die Performance angeht.
Wie unterscheiden sich klassische und Pop-Gesangstechnik?
Max S.: Ganz banal gesagt: Ein Großteil ist tatsächlich Kehlkopf und Gaumensegel. In der klassischen Musik, historisch gesehen, gab es keine Mikrofone, das heißt, solistisch mussten die Menschen laut genug singen, um ohne Mikrofon im krassesten Fall über ein ganzes Orchester zu kommen. Das ist oft ein sehr hohes Gaumensegel, also so wie man gähnt und der Kehlkopf geht sehrt tief. Mit größeren Volumen in Hals und Mundinnenraum gehst du mehr in die klassische Stimmrichtung.
In der Popmusik, durch die Erfindung des Mikrofons, kannst du nochmal ganz anders arbeiten, kannst auch mehr aus dem Sprechen kommen, kannst flüstern. Diese Weite des Mundinnenraums wird auf einmal weniger wichtig und verändert den Sound. Das heißt, du kommst mehr aus der gesprochenen Sprache, weniger aus dem weit geöffneten Kehlkopf und Gaumensegel. Das finde ich bei unserem PC3-Lehrgang am interessantesten – wenn wir daran arbeiten, die verschiedenen authentischen Sounds zu entwickeln. Wenn wir ‚Alle meine Entchen‘ singen, machst du in der klassischen Stimmgebung ganz bewusst den Kehlkopf niedrig und das Gaumensegel hoch.
Du kannst aber auch, das wäre Poptechnik, den Kehlkopf wieder hoch und den Mund ganz bewusst klein machen und die Backenzähne aufeinandersetzen. Dann hast du weniger Mundinnenraum, aber mehr diese Pop-Stimmgebung. Im klassischen Gesang singt man oft in diese ‚Maske‘, auch das ist eine Stellschraube. Wenn du mich nach den Unterschieden fragst, sind also der Kiefer und das Gaumensegel wichtig.
Was ich spannend finde: Die einzige Professur für Popchorleitung in Deutschland hat Erik Sohn in Köln, ein klassisch studierter Opernliedsänger. Er hat jahrelang den ‚Wise Guys‘ Gesangsunterricht gegeben. In seiner Arbeit hört man total super Popsounds, er singt aber auch noch regelmäßig in der Kölner Philharmonie das Weihnachtsoratorium und er profitiert absolut davon, dass er diese Technik hat. Das ist ein bisschen wie ein Malkasten, wenn man immer wieder hin- und herswitchen kann. Letztendlich sind es die gleichen Stimmlippen, der gleiche Kehlkopf. Also wenn eine Person eine richtig tolle Beherrschung der Stimmgebung hat, kann man mit all diesen Faktoren auch anderswo ansetzen.
Manchmal merkt man als Popsänger oder als Popsängerin, dass der Rückgriff auf klassische Techniken – noch ein bisschen mehr Stützen im Zwerchfell, noch ein bisschen mehr im Kiefer vom Gaumensegel unterstützen – genau dabei helfen kann. Natürlich kann man sich auch in der Popmusik wiederum etwas abschauen, also würde ich auch hier sagen, es befruchtet sich im schönsten Fall gegenseitig.
Karo L.: Diese Unterschiede sind in der PC3-Ausbildung des SCV ganz oft auch ein Thema. Ich finde, es gibt sehr viele Sachen, die sehr ähnlich sind, wie zum Beispiel Stütze, Klangraum, offener Vokaltrakt. Worin es sich ganz extrem vom klassischem Gesang unterscheidet, ist, dass der Fokus nach vorne geht, dass wir zu einer Person nach vorne singen und eben nicht wie vom Ursprung des klassischen Gesangs, eine Kirche oder ein Raum zum Schallen bringen wollen. Wir wollen die Message direkt zu den Zuhörenden nach vorne bringen. Da gibt es natürlich ganz verschiedene Techniken, wie man das erreichen kann. Techniken an sich sind meiner Meinung nach nicht ganz so wichtig. Hauptsache die chorleitende Person oder Gesangslehrerin kommt damit klar. Es ist eher wichtig, dass die Idee klar wird, also dieser Unterschied, was wir damit erreichen wollen. Wie brustig der Klang sein darf, wenn ich eine Message überbringen möchte, das unterscheidet das auf jeden Fall.
Julian K.: Es gibt auf jeden Fall unterschiedliche Klangideale von der Klassik zum Pop/Jazz. Gospel ist strenggenommen, würde ich sagen, noch mal etwas ganz Eigenes. Seit vielen Jahren ist ganz groß im Rennen die ‚Complete Vocal Technik‘ (CVT), die von Pop-/Jazzchören viel genutzt wird, um bestimmte Klänge hervorzurufen. Sie besagt, dass jeder Mensch gesanglich jeden Klang hervorrufen kann. Das beinhaltet im Prinzip auch Klänge, die man aus der klassischen Gesangstechnik kennt. Es gibt ein paar Grundtechniken, die funktionieren müssen, wie Atemführung als Unterstützung, bestimmte Einstellungen des Kiefers usw. Dann gibt es fünf Modi, in denen gesungen werden kann, also in denen Klangbilder in Modes gepackt wurden. Auf diese Modes kann man wiederum Stimmeffekte drauflegen. Das kennt man zum Beispiel aus dem Metal-Gesang oder von verschiedensten Künstlerinnen und Künstlern aus dem Pop-/Jazz-Bereich.
Was funktioniert in der Popchorszene überdurchschnittlich gut – besonders in Bezug auf Mitgliedergewinnung?
Max S.: Ich glaube, das ist analog zu dem, was die Bevölkerung wie oft hört. Wenn du Menschen da abholst, wo sie sind, kriegst du sie leichter. Heißt, wenn du Mitsingangebote machst, dann ist das nicht Schönberg, sondern häufiger ABBA. Das ist jetzt erstmal total naheliegend, aber auch hier der Punkt, dass man bei Popmusik bis hin in die komplexesten Arrangements gehen kann. Es gibt natürlich absolute einfache Arrangements, die die Leute gleich mitsingen können, weil sie den Song aus dem Radio kennen und beides sind natürlich Faktoren, um neue Mitglieder zu bekommen. Ich finde es auch eine gute Strategie für Chöre, die sowohl klassische als auch Popularmusik singen wollen, dass man ein Projektchorangebot oder ein Schnupperprobenwochenende macht und die Leute damit abholt, heißt mit Evergreens, mit Hits.
Pädagogisch sollte man immer Menschen da abholen, wo sie sind, aber nicht da lassen. Das kann entweder die Richtung von, ‚Du lernst bei uns nochmal ausgechecktere Arrangements kennen‘ und ‚Wir helfen dir, eine zweite Stimme zu singen‘ sein oder man sagt ‚Wir nehmen dich mit in andere Jahrhunderte‘. Menschen abholen bei ihren Lieblingshits, bei dem, was sie vom Radio kennen, wo sie schnell mitsingen können und dann weiterzugehen zu dem, was der Chor unter Umständen sonst noch macht: Das könnten sich unter Umständen auch klassische Chöre als Mitgliedergewinnungsprojekt abschauen.
Sascha R.: Projekte und Schnupperproben funktionieren bei mir auch sehr gut, wenn die Leute da mal reinschnuppern können ohne eine Erwartungshaltung. Ein anderer Punkt ist der: Überlegt euch, wer bei zwei Konzerten pro Jahr als Zuhörer:innen kommt – es sind die Fans. Also all jene, die den Chor schon kennen, die immer noch nicht im Chor mitsingen und auch in den nächsten zehn Jahren keine aktiven Mitglieder werden. Lasst uns doch mal an anderen Orten singen, wo diese Leute sind, die sonst nicht zu den Konzerten kommen. So kam bei uns die Idee auf, dass wir jetzt seit drei Jahren in Pforzheim im Gartencenter singen, wo man mal anderes Publikum trifft – das wirkt sehr gut. Man kommt mit jenen ins Gespräch, die uns sonst nicht besuchen. Was in Pforzheim auch sehr gut funktioniert, ist der Internetauftritt. Es passiert uns immer wieder, dass Leute sagen: ‚Ich bin beruflich oder zum Studieren nach Pforzheim gezogen und habe einen Chor gesucht. Ihr wart nicht nur der erste Treffer bei Google, sondern ihr habt genau die Literatur, die ich mir vorstelle.‘
Wie sieht es mit dem Phänomen ‚Männermangel‘ aus?
Max S.: Ich glaube grundsätzlich ist es tatsächlich so, dass das Singen Frauen offensichtlich mehr anzieht bzw. anspricht. Vielleicht ist das eine gendermäßig blöde Konnotation und das total bescheuerte Narrativ, Singen sei nicht männlich oder so. Dieses Klischee ist total blöd, sowohl für Pop- als auch Klassikchöre.
Sascha R.: Sehe ich genauso. Das kann man auch nicht zwingend vom Niveau der Chöre abhängig machen. In einem meiner Chöre habe ich gerade total viele Männer, das kam durch die schon angesprochenen Projekte, wie offene Singstunde und auch gezielt nochmal auszuschreiben, dass man Bässe bzw. Tenöre braucht. Auf manche Interessenten wirkt das manchmal auch ein bisschen bittstellerisch und das ist nicht immer sexy und attraktiv.
Max S.: Ja, das ist auch wieder übergreifend bei der Mitgliederwerbung für Klassik und Pop. Das Wirksamste, meiner Erfahrung nach, ist auszustrahlen: ‚Wenn du zu uns kommst, dann bist du glücklich, wenn du zu uns kommst, hast du eine gute Zeit.‘ Was nicht so gut funktioniert ist: ‚Wir sind total verzweifelt, wir sind kurz vorm Aussterben, bitte rette uns!‘ Das ist nicht attraktiv für Leute, die sich überlegen, ein neues Hobby anzufangen oder sich einen neuen Chor zu suchen. Dann ist es aber der totale Spagat, denn du hast blöderweise nachher das Phänomen, dass du eine total charmante Einladung oder Mitgliederwerbung machst und es melden sich nochmal 100 Soprane mehr und du hast eigentlich schon Überhang und suchst eigentlich nur neue Männerstimmen. Ich glaube, den Spagat kennen alle, auch wieder genreübergreifend.
Das spielt so ein bisschen auf das Thema Diversität an. Würdet ihr sagen, Popchöre sind aufgrund des internationalen Repertoires auch internationaler bzw. interkultureller?
Karo L.: Kommt drauf an. Die Chöre in verschiedenen Dörfern spiegeln schon ganz gut wieder, wer so im Dorf wohnt. Also das heißt, wenn es dort wenige Leute mit Migrationshintergrund gibt, dann sind dementsprechend auch wenige Leute im Chor. Ich wohne aktuell in einer Großstadt, in Mannheim. Wenn ich hier Projektchöre habe, ist dort der Migrationsanteil sehr groß. Menschen mit Behinderungen sind auch viel öfter vertreten als auf dem Land, weil kulturelle Teilhabe hier ein bisschen einfacher ist – mit öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Wissensfluss, was es überhaupt für Angebote gibt. Ich glaube, dass in Popchören die Einstiegsschwelle ein bisschen niedriger ist und man sich eher mal traut. In meinem direkten Umfeld habe ich auch immer wieder Leute, denen gesagt wurde, sie könnten nicht singen, aber eigentlich singen sie total gerne. Ich persönlich schäme mich für alle Chorleitenden, die das einem Kind sagen, weil das auch Erwachsene noch nachhaltig total fertig macht. Das ist, bei jenen, die mir es erzählt haben, immer im klassischen Kontext gewesen. Es gibt natürlich auch in Popchören Kids, die einfach keinen Ton treffen, aber ich habe da die Erfahrung gemacht, dass man es im Popchor einfach lernt. Da ist es nicht ganz so exkludierend, sondern es ist ein ‚Okay, dann singst du halt eine andere Stimme!‘. Da findet sich irgendwie eine Lösung, es ist nicht so exkludierend und deswegen – glaube ich – ein bisschen bunter als in der Klassikszene.
Julian K.: Gute Frage! Ich glaube, die Chance wäre auf jeden Fall da, dass man mehr Diversität findet in den Pop-/Jazzchören. Meine Chöre sind tatsächlich auch nicht divers. Das finde ich ein bisschen schade, aber letztendlich bewerben sich die Menschen, die sich bewerben. Wenn man es möchte, kann man da noch viel mehr aktiv auf die Suche gehen. Da sind aber die Chöre, die ich leite, anders gestrickt. Aber es kommt auch ein bisschen darauf an, wo man schaut. Wenn man in Chören auf dem Dorf schaut, ist das etwas anders als Chöre aus Großstädten wie Berlin oder München. Da habe ich das Gefühl, dass da ein bisschen mehr Diversität herrscht. Kommt auch auf das Profil des Chors an und was er im Repertoire hat, das macht, glaube ich, auch nochmal einen Unterschied. Ich glaube, es liegt ein bisschen am Repertoire. Es ist aber auch die Frage, was man für einen kulturellen Background hat. Wenn jemand im Senior-Jazzchor mitsingen möchte, dann muss die Person eine Affinität zu Jazz-/Vokal-/Chormusik haben. Sie muss Englisch sprechen können, es muss von der Aussprache her funktionieren, sie braucht eine Affinität zum Singen und muss Noten lesen zu können. Ich glaube, dass es hier Menschen gibt, denen diese Musik fremd ist, die diese Musik nicht hören. Vielleicht ist es auch eine Unsicherheit, weil man gar nicht mit den entsprechenden Menschen ins Gespräch kommt. Wenn es eine sprachliche Barriere gibt, sind das alles Dinge, denen man entgegenwirken kann. Ich habe auch Sängerinnen und Sänger, die schlecht bis keine Noten lesen können und man hat aber dann Übe-Tracks, mit denen man die Stücke vorbereiten kann. Also eine richtige Antwort hab ich nicht.
Sascha R.: Das ist eine sehr spannende Frage. Das habe ich mich auch schon öfter gefragt. Ich habe in meinen Chören, das sind Chöre im ländlichen wie im städtischen Raum, z.B. keine Person of color. Was man hat, sind natürlich Leute in zweiter oder dritter Generation, die eine Einwanderungsgeschichte haben, also z.B. mit italienischen oder polnischen Wurzeln. Was wir jetzt auch haben, ist eine junge Ukrainerin, die geflohen ist, die sich super integriert. Ich wundere mich manchmal, dass wir da nicht attraktiv sind oder nicht genug einladend für solche Menschen. Ich habe auch unsere junge Ukrainerin gefragt: ‚Was läuft denn bei euch im Radio, was hört ihr denn da?‘ Und sie sagte: ‚Das ist das Gleiche wie hier.‘
Max S.: Ich bin gerade total hängen geblieben an Saschas Formulierung, als er gesagt hat, dass wir uns selber fragen können, sollen, müssen, warum wir nicht genug sind. Meines Erachtens ist es zu billig, wenn man sagen würde: ‚Wir sind doch da, wieso kommen so wenige, die sind ja alle doof.‘ Das ist Quatsch – offensichtlich gibt es Hürden. Ich habe schon die Erfahrung gemacht, dass Popchöre eher in Städten präsent sind und dort die Diversität höher ist als auf dem Dorf.
Ich glaube, die viel spannendere Frage ist aber ganz grundsätzlich: Welche Hürden halten Menschen davon ab, zu uns zu kommen? Auch wenn wir uns dessen vielleicht noch nicht bewusst sind: Eine kleine Facette ist sicher der Migrationshintergrund. Aber welche Hürden kann man abbauen? Ich glaube ehrlich gesagt schon dieses Chorsingen – wir sind eine total nerdige Bubble. Da ist vielleicht ein Ansatzpunkt, wenn man viel früher inklusiv mit Kindern singt, in jeder Grundschule. Die Grundschule ist die Schulform, auf die alle Menschen gehen. Dort muss es tolle Chorarbeit geben. Die Kinder merken schon ganz früh, wie unfassbar schön es sein kann, zusammen mehrstimmig zu singen und meinetwegen auch einstimmig. Wenn sie diese Erfahrung machen – und zwar Kinder jeglicher Herkunft, jeglichen Milieus, egal aus welchen Familien sie kommen, ob sie reich oder arm sind und so weiter –, dann würden, so meine These, später die Chöre diverser sein. Ich glaube, es ist eher ein Faktor von Bildungsungerechtigkeit. Die Schulen, die Chöre haben, sind häufiger Gymnasien als Hauptschulen oder Grundschulen und unser Bildungssystem ist hochgradig ungerecht. Unser Bildungssystem ist insofern auch rassistisch, das heißt, die mangelnde Diversität ist dann auch sehr gut sichtbar an Schulformen. Dann ist wieder die Frage, in welchen Schulformen gibt es gute Chorarbeit? Das ist auch eine Stellschraube, daher ist es umso wichtiger, dass sich die Chöre auf den Weg machen, mit Grundschulen zu kooperieren, wenn es z.B. ein Großprojekt gibt, dass man sagt, der Grundschulchor tritt mit uns gemeinsam auf. Die größere Fassung wäre, Leute im Chor haben Zeit, vormittags mal in die Grundschule zu gehen und dort ein bisschen mitzusingen oder in der Kita. Bevor man Angst hat, dass man nicht in der richtigen Oktave singt und es gar nicht macht, ist es besser, das überhaupt zu machen.
Alle Vereine sollten sich überlegen: ‚Wie könnten wir mit der örtlichen Grundschule kooperieren und dort einen Kinderchor gründen oder die Chorarbeit unterstützen?‘ Selbst wenn es nur ein Benefizkonzert ist und der Chorleiter bzw. die Chorleiterin dort eine AG leitet. Das ist, glaube ich, ein langfristiger Weg, um diverser zu werden.