Diese Frage stellten wir Chorleiter Nikolai Ott und den Mitgliedern im Musikbeirat Tilman Heiland und Joachim Schmid
Nikolai Ott:
Das scheint mir eine Frage zu sein, über die man Bände schreiben könnte und doch nichts Sinnvolles zu Papier bringen würde. Schlagfiguren geben dem Chorleiter und dem Chor eine gewisse Sicherheit, ein Orchester lebt wiederum sogar davon, vor allem in Bereichen, wo nicht viele Orchesterproben im Budget sind und viele Dinge „kapellmeisterlich“ klar lesbar sein sollten.
Auf der anderen Seite können schlagtechnische Freiheiten in Proben und Konzert auch vieles unklarer machen, als es sowieso schon ist. Ich habe da schon einiges erleben können: Dirigenten, die durch ihr freies Dirigat in Probe und auch im Konzert dem Chor die ganze Tour vermasseln, weil sie dem musikalischen Fluss im Weg stehen, anders aber auch Chorleiter (und da muss ich mich auch selber an der Nase packen), die alles zerhacken und damit nicht nur der Musik, sondern auch dem Chorklang und der Intonation schaden.
Leider, und das muss ich jetzt einfach schreiben, liegt es nach meiner Erfahrung zu 95% beim Chorleiter, wenn in Generalproben oder Konzertsituationen diese Art Dinge passieren, obwohl die Sachen geprobt sind. Unser Amt ist einfach so unglaublich suggestiv und weil wir uns dabei nicht mal selbst sehen, bekommen wir darüber fast keine Rückmeldung. Wer sollte sie auch geben? Ich plädiere für Videoaufnahmen unserer Konzerte und Proben. Nicht, weil wir so toll dirigieren, sondern weil ich immer wieder die Erfahrung machen musste, dass es dann schlussendlich doch an mir gelegen hat.
Ich glaube nicht, dass Schlagfiguren erstmal per se tödlich sind. Ich glaube, dass es ganz viel Feinsinn braucht, um mit der uns eigenen Gestik und Physiognomie umzugehen. Wir sollten uns viel öfter fragen: Wie aktiv oder passiv sind unsere Wege zu den einzelnen Zeiten, wie lang sind diese Wege, braucht der Chor das Dirigat an dieser Stelle überhaupt und was suggeriert meine Körperhaltung dazu? Gerade bei neuerer Musik, die von ungeraden Takten lebt, kann es von Vorteil sein, in der Schlagfigur zu bleiben und trotzdem über die Länge unserer Wege und die Intensität der Bewegung musikalischen Fluss zu suggerieren, wenn wir uns ab und zu am Riemen reißen und weniger horizontal denn vertikal dirigieren. Leider, so musste ich in den letzten Jahren feststellen, scheint das eine Lebensaufgabe zu sein …
Tilman Heiland:
Ich zögere, hier eine eindeutige Aussage zu machen. Also eher: Ja und nein – denn wie so oft im Leben gibt es auch hier nicht nur schwarz und weiß.
Ja: Der reine Taktschläger, der sich sklavisch an die Schlagfiguren hält und dann die auch noch eckig und hölzern „rüberbringt“ – ein Horror! Das kann tatsächlich den Tod der Musik bedeuten; genauso, wie wenn man meint, ein Metronom könne das exakte Tempo angeben. Doch das ist ein Trainingsmittel zum Üben, um z. B. bei einem schwierigen Stück allmählich das Tempo zu steigern. Lebendige musikalische Gestaltung ist aber etwas anderes. Gleiches gilt auch für die Schlagdiagramme: Sie gehören zum Handwerk, das man möglichst elegant beherrschen sollte, sie sind aber nicht die Musik (genauso wenig wie die Noten die Musik sind)!
Zwar kommt das Dirigieren vom „Takt Schlagen“ – bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nämlich immer dann, wenn das Ensemble ausnahmsweise so groß war, dass es der Kapellmeister nicht mehr nur vom Cembalo aus koordinieren konnte. Da schlug er nämlich tatsächlich den Takt mit einem Stock auf den Boden.
Nein: Dennoch kann und soll hier nicht einfach einem „Freistil-Dirigieren“ das Wort geredet werden: Deutliche Schlagfiguren und ein präzises Dirigat sind zwei Seiten derselben Medaille und haben durchaus ihren Sinn. Gerade wir Chorleiter sind – vor allem, wenn wir schon eine lange „Erfahrung“ haben – hier mitunter etwas großzügig: Warum auch nicht, der Chor (und meistens ist es ja auch der „eigene“ und kaum einmal ein anderer Chor ) folgt einem ja ohnehin fast „blind“ (Wie verräterisch doch die Sprache sein kann!).
Doch wie wichtig eine präzise Zeichen-gebung ist, merkt jeder, der einmal mit einem Orchester arbeiten muss: Da wird sie zu einem ganz zentralen Thema (und spart – nebenbei gesagt – wertvolle Probenzeit!), denn ein Orchester ist ein viel komplexerer musikalischer Organismus als ein Chor. Nicht nur, weil es meistens mehr Stimmen hat, sondern auch, weil mehr und komplexere rhythmische Ebenen sauber koordiniert werden müssen. Doch solche Präzision tut auch einem Chor gut. Wenn z. B. ein Pop-Titel richtig „grooven“ soll (oder eine Bach-Motette, ja auch die!) – mit undeutlichem Schlag kaum zu machen.
Es ist wie bei der Handschrift: Niemand schreibt mehr so, wie er es einst in der Grundschule gelernt hat. Man hat seine eigene Handschrift entwickelt, und im Idealfall ist sie individuell und leserlich! Die „Handschrift“ des Dirigenten ist seine Schlagtechnik – da steckt das griechische „téchne“ drin, deutsch „Handwerk“ oder „Kunstfertigkeit“. Auch sie sollte individuell und leserlich sein. Bei jedem besteht die Gefahr, dass sich hier im Laufe der Zeit Unarten einschleifen (oder „Mödele“, wie der Schwabe so unvergleichlich sagt). Doch gegen diese kann man immer etwas tun, auch noch als „alter Hase“. Zum Beispiel durch Kurse, wie sie auch der SCV anbietet.
Joachim Schmid:
Die Schlagfigur oder auch Schlagdiagramm in seiner ursprünglichen Art ist nicht der „Tod der Musik“. Es bedarf natürlich gewissen Modifizierungen, aber ansonsten vermittelt es ja nichts grundlegend Verkehrtes.
In meiner über 30-jährigen Tätigkeit als Chor- und Ensembleleiter in ausübender und lehrender Funktion habe ich die Entwicklung vom lediglich Taktschlagenden bis zum rhythmusorientierten Dirigenten erlebt. Die Basis war immer das Schlagdiagramm traditioneller Ausprägung. Dies liefert das metrische Korsett, das mit minimalem Aufwand ein Musikstück starten, im stabilen Tempo ablaufen lassen und beenden kann. Unter die Erlangung dieser drei grundlegenden Fähigkeiten stelle ich beispielsweise meine Lernziele eines Vizechorleiter-(C1-)kurses. Dazu genügt als Voraussetzung das Schlagdiagramm voll und ganz.
Ebenso sollte in Erst- oder Ad hoc-Begegnungen mit neuen oder fremden Chören die absolut reine Handschrift bei jedem Chorleiter abrufbereit sein, um befriedigende Ergebnisse zu erreichen. Dasselbe gilt für das Dirigat begleitender Instrumente. Eine unmissverständliche Dirigiersprache erspart der leitenden Person einiges an zeitraubender Diskussion und Erklärungen.
Anders sieht es aus, wenn ein Dirigat noch andere Parameter der Musik bedienen soll. Dynamische Prozesse, Tempoveränderungen bis zur Fermate, rhythmische Zusammenfassungen bei ungeraden Takten oder auch Hemiolen sprengen die Fassbarkeit eines auf Eintaktigkeit ausgerichteten Schlagbildes. Auch die Popularmusik verlangt nach einem impulsiven statt nach einem nüchternen Dirigat, das mehr auf die rhythmischen Besonderheiten des einzelnen Titels als auf ein allgemeingültiges Taktieren hin ausgelegt sein sollte.
Trotz allem sollte gelten: Jeder künstlerisch ambitionierte Leitende muss in der Lage sein, sich auf die Grundelemente des Schlagdiagramms zu besinnen. Nur diese liefern der Musik das lebensnotwendige Metrum, um existenzfähig zu sein. Zum „Tod der Musik“ führt es auf keinen Fall.