Good-Practice-Beispiele aus dem Verbandsgebiet mit unterschiedlichen strukturellen Ausgangslagen
Ein staatliches Gymnasium mit Chortradition, ein Verein, der vor 27 Jahren extra gegründet wurde, um Kindern die Welt der Musical-Bühne zu öffnen, und ein Verein, der mit der Fokus-Verschiebung auf den Nachwuchs seine Auflösung verhindert hat: Voraussetzungen, um gelungene Kinderchorarbeit zu leisten, können ganz unterschiedlich sein. Sie alle eint das große Engagement der leitenden Personen und der springende Punkt: die Notwendigkeit finanzieller Zuwendungen.
Der Liederkranz Salach
Als der Liederkranz Salach 1858 als Gesangverein gegründet wurde, hatte man sich über Nachwuchssorgen vermutlich keine Gedanken gemacht. Dass die Lust am gemeinsamen Singen mal kein Selbstläufer und die Existenz des Vereins ernsthaft gefährdet sein könnte, wird wohl unvorstellbar gewesen sein. Doch mehr als 150 Jahre später musste man sich auch in der 8.000-Einwohner-Gemeinde fragen: Wie sichern wir unsere Zukunft?
Ellen Strauß-Wallisch leitet dort den gemischten Chor und den 30 Sänger:innen starke „Musica al Dente“, der sich auf Rock, Pop und Gospel spezialisiert hat. Auf ihre Initiative hin – es fallen die Stichworte Nachwuchsprobleme, Verantwortung und neuer Input – gründet sie die „Mini Musicas“ (ab drei Jahren) und die „Maxi Musicas“ (Grundschulkids). Weil sie die Finanzierung für die ersten sechs Jahre u. a. durch den Gründungszuschuss des Schwäbischen Chorverbandes und Gelder von der Jugendstiftung Salach gesichert hat und der Chor damit auf soliden Füßen steht, wird kräftig geworben: mit Flyern, auf Social Media, an Ganztagesgrundschulen. Ellen Strauß-Wallisch lud nicht etwa zum Infoabend ein, sondern direkt zur Chorprobe. Für die Maxis zählte sie fünf Anmeldungen, für die Minis 15. Doch gekommen waren 22 und 50. Aus Interesse wurde Begeisterung, die sich in Mitgliederzahlen niederschlägt. „Der Verein hatte auf einen Schlag 80 neue Mitglieder“, erzählt Strauß-Wallisch.
Mittlerweile befinde man sich im dritten Jahr und arbeite auf das Kindermusical „Melwins Stern“ hin, das Mitte Dezember aufgeführt werden soll. „Kinder brauchen Ziele“, betont die engagierte Chorleiterin, die aber auch auf weitere altersgerechte Aktivitäten neben dem Singen setzt. „Da kommen dann auch der Nikolaus und der Osterhase.“ Zunächst stehen aber die Teilnahme am Martinsumzug und am 22. November als großes Highlight das gemeinsame Konzert der „Liederkranz-Familie“ an, wie Ellen Strauß-Wallisch sich ausdrückt. Dann verbindet sie nicht nur Chöre, sondern auch Generationen – ein Kniff, der System hat. Oder auch: Ein System, das funktioniert.
Der Gesangverein Neckarlust Esslingen
Auch beim „Gesangverein Neckarlust Esslingen“ hat sie Kinderchöre gegründet – den ersten vor 20 Jahren –, verbindet Generationen und sorgt auch abseits des Singens für gemeinschaftsstiftende Unterhaltung, etwa mit Basteln, Faschings- und Halloweenparty. Und die Kosten? „Viele Dinge gibt’s umsonst“, winkt die 51-Jährige ab und erzählt von Wasserschlachten mit wiederverwendbaren Wasserbomben. „Als Verein bin ich Dienstleister“, sagt sie und betont, dass auch ein Verein, in dem das Singen im Vordergrund steht, mehr offerieren müsse als Chorgesang. Dabei meint sie einerseits jene Freizeit-Aktivitäten sowie attraktive Konzerte, die in der Öffentlichkeit präsent sind und wahrgenommen werden. Andererseits aber zählt Strauß-Wallisch „vier Pfeiler, die ich als Verein bieten muss: Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Kontinuität und Vertrauen.“
Und wer soll das leisten? Man müsse sich von der Vorstellung verabschieden, dass alle Eltern immer mitarbeiteten, sagt die erfahrene Vereinschorleiterin. „Das meiste, das im Weg steht, sind Erwartungen. Und man braucht wirklich gute Nerven, einen langen Atem und Geduld.“ In Esslingen hätten sie ein eingespieltes Vorstandsteam und viele Leute, die Verantwortung übernähmen.
Aber auch dort hatten sie einst massiv zu kämpfen. Damals zählte der junge Erwachsenen-Chor „Rhythmicals“ gerade mal 35 Sänger:innen. Mittlerweile ist er mit 120 auf eine stabile Zahl über 100 angewachsen – „weil wir so aktiv sind!“ Von außen als dynamisch wahrgenommen zu werden, weil man aktiv nach außen wirke, sei grundlegend dafür, dass sich die Zielgruppe erweitere, dass sich das Vereinsleben weitertrage. „Zum Selbstläufer wurde es, als wir so aktiv in der Kinder- und Jugendarbeit wurden“, erzählt Ellen Strauß-Wallisch und fügt an: „Man muss dahin gehen, wo Kinder sind und nicht warten, dass sie kommen.“ Ihnen Mitspracherecht und ein „Netz zum Ausprobieren und selbst Entscheidungen treffen“ zu geben, hält Strauß-Wallisch für einen zentralen Aspekt, um die Motivation hochzuhalten.
Ein anderer: nicht den Mut verlieren, wenn’s mal nicht so läuft. Sie hätte auch schon ein Konzert mit vier Kindern gesungen, weil es eben mal in einem Jahr eine Flaute gab, sagt die staatlich geprüfte Chorleiterin. Um so manche Kooperation habe sie sieben Jahre gekämpft, auf das Schüler:innen-Projekt „Tschakka – Singen macht stark!“ habe sie 20 Jahre lang hingearbeitet. Ihr Appell an alle: „Dranbleiben!“
Die Musical Factory Schwäbisch Gmünd
Ganz anders als in Esslingen und Salach war die Ausgangslage in Schwäbisch Gmünd, als 1998 auf Initiative einer engagierten und spendablen Amerikanerin die „Musical Factory“ als eingetragener Verein gegründet wurde, um „Kindern und Jugendlichen im Alter von 6 bis 27 Jahren mit der Welt des Musical-Theaters vertraut zu machen und sie fachlich in Gesang, Tanz und Schauspiel wie auch persönlich durch ein vielfältiges und ausgeprägtes Vereinsleben zu fördern“, wie auf der Vereins-Website zu lesen ist.
Weiters heißt es: „Als Philosophie des Vereins dient Artikel 31 der UN Kinderrechtscharta:
Recht des Kindes auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben. Förderung und Bereitstellung geeigneter und gleicher Möglichkeiten für die kulturelle und künstlerische Betätigung, sowie die aktive Erholung und Freizeitbeschäftigung. Daraus abgeleitet möchte Musical Factory e.V. innerhalb seiner Projekte Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit bieten, ihre musikalischen und schauspielerischen Fähigkeiten und Talente entdecken, erleben und ausüben zu dürfen. […] Wesentliche Intention ist außerdem, das Interesse an Kunst und Kultur unabhängig von den sozialen Voraussetzungen greifbar zu machen, zu wecken und zu fördern, sowie Kunst und Kultur zur Persönlichkeitsbildung einzusetzen.“
Die Beiträge der Vereinsmitglieder deckten gerade mal „die Spitze des Eisbergs“ ab, erzählt Alena Fischer, Leiterin des Kinderchors, also z. B. die Unterhaltung der Räume und GEMA-Gebühren. Ohne die Förderungen von Stadt und Land hätte die Musical Factory keine Chance – und das, obwohl sie Fachpersonal intern besetzt: Fischer erzählt, dass viele – so wie sie selbst – als Kind im Verein angefangen hätten und in ihm aufgewachsen seien; dass die familiäre Atmosphäre und Verbundenheit dazu führe, dass ehrenamtliches Engagement großgeschrieben werde und die fachlich-künstlerischen Leitungspositionen alle aus den eigenen Reihen kämen und lediglich mit der Übungsleiterpauschale bedacht würden. „Aber wegen des Geldes mache ich es nicht“, sagt die 27-Jährige, die also selbst seit fast zwei Jahrzehnten aktiv ist: „Das ist so ein ‚Familien-Ding‘ und einer der gravierenden Unterschiede zu anderen Vereinen. Wir haben Sachen gestemmt und Aktionen geleistet – die könnte man nie bezahlen.“
Musical Factory präsentieren Großprojekte im zweijährlichen Turnus, die im Gmünder Stadtgarten vor insgesamt bis zu 8.000 Leuten aufgeführt werden. Alena Fischer ist seit einiger Zeit dabei, außerdem eine Reihe an kleineren Konzerten zu etablieren, um auch abseits der großen Projekte („Klar, die locken die Kids mehr“) Ziele zu haben, auf die hingearbeitet wird.
Im Kinderchor steigen die Kinder im Grundschulalter ein in die Welt von Gesang, Tanz und Schauspiel, im Rahmen des Jugendchores werden dann die anspruchsvollen Produktionen auf die Beine gestellt. Diese seien nicht nur motivierende Herausforderungen für die Beteiligten, berichtet Fischer, sondern auch prestigefördernd. Sie erlebten es oft, dass Kinder, die eine Aufführung gesehen haben, sagten: „Boah, ich will auch!“ Dank der regelmäßigen Präsenz in der Öffentlichkeit hätten die Auftritte „super Zuschauerzahlen“ und ungebrochenen Zulauf. Den aktuellen Aufnahmestop für den Kinderchor wollen sie in Gmünd so schnell wie möglich aufheben.
Aber warum nun rennen die Kids der Musical Factory die Bude ein? „Für uns ist das Wichtigste, dass die Kinder sich wohlfühlen, Spaß haben und gerne kommen“, sagt Fischer und betont: „Beim Repertoire bekommen die Kinder Mitsprachrecht und haben die Wahl, welche Stücke sie machen wollen. Wir opfern da zwar eine Stunde, aber das macht einen Riesenunterschied!“
Kinder fingen „super früh an, sich zu vergleichen und einzuordnen“, hat Alena Fischer beobachtet. Die 27-Jährige befindet sich kurz vor Ende ihres Masterstudiums in Sonderpädagogik im Bereich Sprache und emotionale, soziale Entwicklungsstörung. Entsprechend wichtig sei die individuelle Betreuung der Kinder und sie ihren Stärken entsprechend zu fördern: im Gesang, Tanz und/oder Schauspiel. Solange es in der Gruppe noch ums Kennenlernen gehe, rücke das Repertoire in den Hintergrund. Erst wenn sie eine stabile Gruppe habe und alle ihren Platz gefunden hätten, gehe es ums Fachliche. Die Kinder lernten zusammen, untereinander klarzukommen – unabhängig davon, welche Herkunft sie haben –, jedes Kind solle teilhaben dürfen. Fischer sieht in der Musical Factory ein „Ankerpunkt für Stabilität im Leben“, die den Kids einen Schubs geben soll, dranzubleiben.
Der Christophorus-Kinderchor Altensteig
Wiederum ganz andere Bedingungen kennen die Schüler:innen am Christophorus-Gymnasium in Altensteig im Landkreis Calw. Neben der 1962 gegründeten Kantorei gibt es seit 2005 auch einen Kinderchor, dem knapp 50 Jungen und Mädchen im Alter von 11 bis 14 Jahren angehören. Die Proben finden an zwei Nachmittagen in der Woche statt. Darüber hinaus erhalten die Chorist:innen wöchentlich Einzelstimmbildung bei Stimmbildnern der Musikschule Altensteig. An die 20 Auftritte absolviert der Chor im Schuljahr, geht auf Reisen und nimmt erfolgreich an Wettbewerben teil.
Wolfgang Weible, der den Chor mit einer Unterbrechung von 2017 bis 2022, als er im Auslandsschuldienst in der Nähe Bethlehems war, bis heute leitet, empfindet die Umstände als „großes Privileg“, denn getragen und finanziert wird die Chorarbeit als Kooperation mehrerer Partner: Die Stadt Altensteig subventioniert die Stimmbildung durch die Musikschulkräfte, der CJD-Christophorus-Chorverein akquiriert Spendengelder, betreibt Networking und Fundraising und unterhält seit 2024 ein Chorbüro, das administrative Aufgaben übernimmt. Weible und Carina Engel, die Leiterin der Kantorei, sind beide als Musiklehrer des Landes Baden-Württembergs am Christophorus-Gymnasium tätig. Eine die Chorarbeit unterstützende Schulleitung stellt die notwendigen Deputate und Räumlichkeiten für die extracurriculare Chorarbeit zur Verfügung. Außerdem leisten die Eltern einen finanziellen Eigenanteil bei Probentagen, Konzertreisen und der Stimmbildung.
Für Weible das Allerwichtigste aber ist „die Liebe zu den Kindern und die Liebe zur Musik. Die Kunst besteht darin, das alles dann zu bündeln.“ Die Kinder selbst besuchen fast alle das Gymnasium, sind jedoch nicht unbedingt musikaffin, wenn sie an die Schule kommen. „Und die werden alle mitgenommen, da gibt es keine Auslese“, erzählt Weible, „mir ist es ein ganz großes Anliegen, dass alle, die singen wollen, singen dürfen.“ Die parallele Förderung durch die Einzel-Stimmbildung hält Weible, der selbst erst in Stuttgarter Knabenchören ausgebildet wurde und später Schulmusik, Dirigieren und Theologie studierte, für einen „wesentlichen Beitrag“ zur Chorarbeit.
Angesichts der immens großen Auswahl zur Freizeitgestaltung versucht die Schule, die Hürden zum Singen möglichst niedrig zu halten: Die Stimmbildungseinheiten von 20 bis 40 Minuten können z. B. in Hohlstunden stattfinden, die Chorprobe schließt in diesem Schuljahr lückenlos an den Unterricht an. Das Engagement der Schüler:innen ist für Wolfgang Weible dennoch keine Selbstverständlichkeit: „Ich staune jedes Mal, dass in einem malerischen Schwarzwaldstädtchen, an einem allgemeinbildenden Gymnasium mit verschiedenen tollen Profilen und damit verbundenen attraktiven Angeboten (Jugendsinfonieorchester, Bio-AG, Theater-AG, naturwissenschaftliche und sprachliche Angebote, auch im Bereich des Sports) das Singen in dieser Ausprägung so möglich ist.“
„Je mehr Konzerte, desto besser die Qualität, ist mein Eindruck“, findet Weible, gesteigert würden „die Auftrittssouveränität, das Auftrittsverhalten, es fördert die Gemeinschaft, die Gruppe wächst zusammen. Das hat so viele positive Nebeneffekte, wie ich finde. Man begegnet anderen Menschen. Das ist das Schönste!“ Jüngst hätten sich die Kinder aus eigenem Antrieb eine CD-Produktion gewünscht und eigens ein hohes musikalisches Niveau eingefordert, erzählt Weible, einen schiefen Ton könne man da schließlich nicht stehen lassen. „Das fand ich phänomenal! Zum Schluss lag sich der Chor weinend in den Armen und für mich war das am Ende des Schuljahres das schönste Glück.“
Wolfgang Weible ist ein Mann, der seine Worte mit Bedacht wählt. Kinder zum Singen bringen ist für ihn kein Job, sondern eine Berufung mit einer Mission, die das Musikmachen weit übersteigt: „Für die Kinder in den palästinensischen Gebieten war die Musik eine Oase in einer krisengeschüttelten Region. Und ich habe gemerkt: Sie kann Grenzen überwinden, kann Alltagssituationen durchbrechen, kann so einen schönen Ort der Leichtigkeit sein für Begegnungen jenseits des Krieges. Das ist eine Komponente, die für uns hier in Deutschland, Gott sei Dank, kein Thema ist. Aber Singen ist so viel, so viel mehr als der Wunsch nach toller Chormusik.“
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