Wie ein Vulkanausbruch in Indonesien den Südwesten Deutschlands in eine schwere Hungersnot trieb.
Zugegeben, die Entscheidung, heute gerade über dieses Thema zu schreiben, fiel nach einem Blick aus dem Fenster. Wie so oft dieses Jahr – nichts als Regen! So ist heute ein Objekt aus dem Museum an der Reihe, das mit schlechtem Sommerwetter zu tun hat; nicht mit dem von heute, sondern mit dem vor zweihundert Jahren.
Zunächst zur Vorgeschichte des Ganzen. Sie beginnt fern von Silchers Heimat, auf der gegenüberliegenden Seite des Erdballs.
Im April 1815 explodiert in Indonesien der Vulkan Tambora. Die Auswirkungen sind verheerend – und reichen bis nach Schnait! Die Asche des pulverisierten Feuerbergs begräbt nämlich nicht nur die 4.000 Bewohner der exotischen Insel Sumbawa unter sich, sie zieht auch in der Atmos-phäre um die Nordhalbkugel des Erdballs und beeinträchtigt monatelang das Weltklima.
Besonders hart trifft es den deutschen Südwesten. Das Jahr 1816 wird als „das Jahr ohne Sommer“ in die Geschichte eingehen. Zunächst ist der Winter 1815/16 ungewöhnlich warm, dann aber gibt es durchs ganze Frühjahr hindurch nur Schnee und Frost. Im anschließenden „Sommer“ hört der Regen so gut wie gar nicht mehr auf. Ganze Rebenhänge geraten ins Abrutschen, das Korn verkümmert auf den Halmen, die Kartoffeln verfaulen in den Äckern und das Heu, das Winter-futter für die Stalltiere, verschimmelt auf den Wiesen. „Schlimmer geht´s nimmer“ möchte man meinen, aber es kommt noch übler! Bald nach dem Einbruch des Winters schon im Oktober 1816 ist die mickrige Jahresernte bereits wieder verzehrt. So zieht das „Jahr ohne Sommer“ auch noch ein Jahr der Teuerung hinter sich her. In der ersten Jahreshälfte 1817 steigen die Preise für Lebensmittel ins Astronomische, wie auf dem Bildchen im Museum zu lesen ist:
„Im Jahr 1817 war die Theuerung so groß, dass ein Simri Kern auf 10 Gulden stieg“, heißt es dort. Für Getreide, Fleisch, Wein, Bier, eben für alles, was damals zu den Grundnahrungsmitteln gehört, werden Preise verlangt, die für jeden armen Mann unerschwinglich sind! Arm sind damals aber die meisten Leute in Württemberg, so wie jener Wilhelm Vetter aus Schnait, dessen Name auf unserem Bildchen steht.
Das Jahr der Teuerung wird demnach für viele zum Hungerjahr. Erst schlachtet man im Winter 1816/17 das klapprig gewordene Vieh; dann greift man sich alles, was vier Beine hat, bis hin zu Ratten und Mäusen. In den Nestern der Nager sucht manch einer sogar noch nach Getreidekörnchen, die er zusammen mit Sägemehl und Stroh zu Brot backen kann. Scharen an Bettlern ziehen durchs Land, klopfen an Türen, hinter denen es nichts zu holen gibt. Tausende verhungern, tausende wandern aus. Wie tief sich die Not 1816/17 ins Gedächtnis der Menschen frisst, kann man daran ablesen, dass Wilhelm Vetter sein Gedenkbildchen fünf Jahre nach den Ereignissen anfertigen lässt; es ist mit „1822“ datiert. So rasch wird und will man diese Zeit nicht vergessen! Und wie geht es Silcher damals? Er lebt als Privatlehrer in Stuttgart. Im Regenjahr 1816 hat er zunächst einmal genügend Muse, neben dem Unterricht noch zu komponieren; einige Stücke wird er 1817 veröffentlichen. Während des ersten Halbjahrs 1817 ist dann aber sicher auch bei ihm öfters mal der Schmalhans Küchenmeister.
Zum Glück hat der junge Musiker mit Bankier Moses Benedict einen gutbetuchten und ausgesprochen sozial eingestellten Mäzen zur Seite.
1817 erscheinen in einer Zeitschrift zum ersten Mal einige Lieder von Silcher. Unter ihnen ist ein Loblied mit dem Titel „Das Fest der Mutter“. Die Mütter sind es, die in diesem Hungerjahr vor den größten Problemen stehen.
Es leiden aber nicht nur die Armen unter der Klimakatastrophe. Auch den württembergischen König erwischt es kalt. Friedrich I. zieht sich beim Besuch einer archäologischen Ausgrabungsstätte eine Lungenentzündung zu und stirbt im Herbst 1816. Man möchte fast sagen: Zum Glück! Der Monarch war mehr an seinen Liebhabereien interessiert als am Schicksal seiner Untertanen.
Friedrichs Nachfolger Wilhelm dagegen erkennt die Misere. Er lässt zur Linderung der schlimmsten Not Getreide aus Russland importieren und führt wichtige Reformen zur Verbesserung der Landwirtschaft durch. 1818 stiftet er z. B. ein Fest auf dem Wasen, das als landwirtschaftliche Leistungsschau dienen soll; es ist der Beginn des Cannstatter Volksfestes. (Auf dem Fest des Jahres 1822 erwirbt Wilhelm Vetter dann wohl auch sein Gedenkbild- chen. Es stammt von der Hand eines Jahrmarktmalers, von dem noch zwei weitere Beispiele in anderen Museen erhalten sind.) Die Hungerjahre enden übrigens doch noch mit einem kleinen Sommermärchen. Die ersten Erntewagen, die im Juli 1817 unter Jubelgesängen in die Dörfer und Städte rollen, sind wieder prall gefüllt.
Und was macht Silcher? Er überdenkt sein unsicheres freies Künstlerdasein offenbar gründlich. Im Herbst 1817 nimmt er die Stelle des Musikdirektors an der Universität Tübingen an – eine lebenslang wetterfeste Position.