Beim Öffnen des Päckchens, das ihr der Briefträger soeben in die Hand gedrückt hatte, fand die Kustodin Frau Hardtke ein Konvolut aus sechs Porträtaufnahmen aus der Zeit zwischen 1850 und 1900. Die Fotos steckten alle noch in ihren alten Rähmchen und waren offensichtlich über mehrere Generationen hinweg liebevoll gehütet worden.
Die abgebildeten Personen gehören alle zur Verwandtschaft Friedrich Silchers, genauer: zur Linie seines Bruders Christian Wilhelm Silcher (1791 – 1862). Das interessanteste und wertvollste Stück ist dabei zweifellos das Bild des Christian selbst. Es zeigt ihn zusammen mit seiner Frau Luise (geb. von Fischer, 1805 – 1881) und einem kleinen Jungen. Der zwei Jahre jüngere Bruder war für Friedrichs Biografie nicht ohne Bedeutung. Als Friedrich sich Ende 1815 als Privatlehrer und Musiker in Stuttgart niederließ, lebte Christian schon einige Jahre dort. Er war ein königlicher Finanzbeamter und besaß gute Kontakte ins Bürgertum, die er zugunsten seines Künstlerbruders spielen lassen konnte. So hat er ihm damals wohl die Unterkunft bei dem Klavierfabrikanten Schiedmayer vermittelt und ihm auch sonst mit seinen Beziehungen weitergeholfen.
Besonders wichtig war Christian für seinen Musiker-Bruder im Herbst 1817. Man erzählt: Als Friedrich damals die Stelle des Musikdirektors an der Uni-versität Tübingen erhalten hatte und in die zur Abfahrt in die Universitätsstadt bereitstehende Kutsche steigen sollte, habe er plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommen. Er, der ja „nur“ ein einfacher Schullehrer war, habe sich plötzlich nicht mehr zugetraut, künftig an der Universität die akademische Jugend zu unterrichten. Bruder Christian soll damals kräftig nachgeholfen haben, dass Friedrich in der Reisekutsche Platz nahm – und damit geradewegs in sein Glück fuhr!
Die Beziehung zwischen den beiden Geschwistern war zeitlebens gut. Wenn Friedrich später nach Stuttgart kam, logierte er bei dem Bruder. Und er musizierte dort wohl auch mit ihm – so wie einst während der Kindheit und Jugend in Schnait. Im Silcher-Museum hat sich als Dokument jener frühen Jahre, die die beiden Brüder in dem Remstaldorf verbrachten, ein Liederbuch erhalten, in dem sich damals der junge Christian mit seinem Namenszug verewigt hat.
Wie aus dem Briefchen, welches dem Geschenk beiliegt, hervorgeht, ist die frühere Eigentümerin der Fotos, Frau Ingeborg Schmidt, am 26. 02. 2016 verstorben; ihre Schwester Erika Schmidt hat den kleinen Bilderschatz zusammengepackt und an das Museum geschickt. Herzlichen Dank! Das Bild des Christian und seiner Frau wird hier ein Plätzchen in der Nähe jenes Biedermeier-Sofas finden, das aus dem Besitz Christians stammt und auf dem dieser zusammen mit Friedrich wohl so manche gemütliche Stunde verbracht hat.