Variable Raumakustik in Multifunktionshäusern
Seit einigen Jahren ist der Trend zu beobachten, dass klassische Konzerte nicht nur in dafür vorgesehenen Konzerthäusern dargeboten werden, sondern gerne auch „Off-Locations“ bespielt werden. So spielte zum Beispiel das London Symphony Orchestra in den Audi-Werkshallen ein Sommerkonzert. Um die große Industriehalle für ein klassisches Konzert umzu-rüsten war eine Menge an flexiblen und mobilen Akustikmaßnahmen notwendig. Andererseits werden aus verschiedenen Gründen immer häufiger populärmusikalische Formate wie zum Beispiel Galas, Shows oder Rock-Konzerte in Konzert- und Opernhäusern aufgeführt. In diesen Fällen kommt es häufig vor, dass die raumakustische Situation des Hauses dem Event angepasst werden muss und somit keine feststehende Raumakustik eingebaut werden kann. Technische Lösungen für diese Problematik können Systeme wie drehbare Wandelemente, Vorhänge, Rollbanner, elektroakustische Korrektursysteme oder sogar aufblasbare Absorber sein. Im Bereich der Chormusik tritt dieses Problem auch auf, denn moderne Musikstile wie Pop, Rock und Jazz halten in die Chormusik Einzug und werden in Räumen aufgeführt, die eigentlich für sakrale Musik wie zum Beispiel Choräle geschaffen wurden. Um also die multifunktional genutzten Räume auf den jeweiligen Klangkörper anzupassen, sind verschiedene Maßnahmen nötig. Um die richtigen Maßnahmen auszuwählen sind jedoch erst einmal einige grundlegende Begriffe aus der Raumakustik zu klären:
Die Frequenz
Schallwellen setzen sich bei den meisten Signalen aus verschiedenen Frequenzen zusammen. Unser Gehör kann Frequenzen zwischen 20 Herz [Hz] und 20.000 Hz wahrnehmen. Am empfindlichsten ist das menschliche Ohr aber im mittleren Frequenzbereich zwischen 500 Hz und 2000 Hz, in diesem Bereich liegt auch die menschliche Sprache. Raumakustik ist also immer auch frequenzabhängig zu betrachten, denn nicht alle Signale spielen sich im gleichen Frequenzbereich ab.
Der wichtigste Faktor: Nachhallzeit
Die Nachhallzeit ist die wichtigste und älteste raumakustische Kenngröße. Im Gegensatz zu den meisten anderen beschreibenden Größen in der Raumakustik ist die Nachhallzeit auch von Laien leicht erkennbar und meistens deutlich wahrnehmbar. Als Nachhallzeit ist diejenige Zeit definiert, in der ein Schallsignal nach dessen Abschaltung komplett im Raum verklingt. Der Nachhall in einem geschlossenen Raum entsteht durch die wiederkehrende Reflexion eines Schallsignals an den Raumbegrenzungsflächen, so lange bis die Energie des Originalsignals abgeklungen ist. Die Überlagerung aller Reflexionen ergibt dann die Nachhallzeit, die immer auch frequenzabhängig zu betrachten ist und meistens zu den tiefen Frequenzen hin ansteigt.
Um die Nachhallzeit eines Raumes zu beeinflussen, müssen also die bisher bestehenden Oberflächen im Raum durch Einbringen zusätzlicher Materialien verändert werden. Hierbei gilt: Je mehr absorbierende Flächen im Raum vorhanden sind, desto kürzer wird die Nachhallzeit.
Wenn in einem Veranstaltungsraum verschiedene Sparten stattfinden wie z. B. Theater, Musical, Rock-Konzerte, klassische Musikveranstaltungen und Chormusik, muss die Nachhallzeit auf den jeweiligen Verwendungszweck angepasst werden. Für eine optimale Raumakustik ist also die jeweils passende Nachhallzeit für den entsprechenden Nutzungszweck ausschlaggebend. In der DIN 18042 (Hör-samkeit in kleinen bis mittleren Räumen) werden verschiedene Nachhallzeiten für unterschiedliche Anwendungszwecke vorgeschlagen. Einige davon sind:
Wohnzimmer 0,6 – 0,8 s
Theatersaal 1 – 1,5 s
Konzertsaal (klassische Musik) 1,5 – 2,5 s
Große Kirche 4 – 8 s
Raumakustik für verstärkte Musik
In den letzten Jahrzehnten war die wissenschaftliche Forschung im Bereich Raumakustik fast ausschließlich limitiert auf Säle für klassische Anwendungen wie Oper, Sinfoniekonzerte, Kammermusik oder Sprechtheater. Der Hauptunterschied in der akustischen Gestaltung für Räume mit verstärkter Musik ist eine deutlich kürzere Nachhallzeit, vor allem im Bassbereich. Dies liegt vor allem daran, dass bei einem Konzert mit großer PA-Anlage und eigenem Toningenieur die gewünschten Halleffekte von den Musikern oder dem Toningenieur künstlich hinzugefügt werden. Der Raum an sich sollte also eine möglichst kurze Nachhallzeit haben, um nicht mit den künstlich hinzugefügten Effekten zu konkurrieren.
Bei klassischer und vokaler Musik möchte man dagegen den Raum als Stütze und Klangkörper nutzen, sodass eine längere Nachhallzeit notwendig ist, man benutzt den Raum sozusagen als natürlichen Verstärker. Der dänische Akustiker Niels W. Adelman-Larsen schlägt für verstärkte Musik eine Nachhallzeit von 0,6 – 1,2 Sekunden für einen Raum der Größe zwischen 1000 und 7000 m³ vor. Dieselbe Halle sollte laut DIN 18041 für Musikanwendungen eine Nachhallzeit von circa 1,4 – 2,0 Sekunden aufweisen. Diese Diskrepanz muss mit technischen Mitteln ausgeglichen werden, um ein Multifunktionshaus immer auf den entsprechenden Einsatzzweck ausrichten zu können.
Variable Absorption
Technisch sind verschiedene Ansätze in den letzten Jahrzehnten beim Bau von Multifunktionshäusern eingesetzt worden. Unter anderem kommen drehbare Wandelemente mit einer reflektierenden und einer absorbierenden Seite zum Einsatz. Eine deutlich einfachere und sehr effek-
tive Methode, die Absorptionsfläche im Raum variabel zu erhöhen, ist der Einsatz von Vorhangsystemen. Textilien sind – vor allem im mittleren und hohen Frequenzbereich, der für die Chormusik sehr wichtig ist – sehr gute Absorber, wobei die Absorptionsfähigkeit durch die mehrlagige Verwendung oder Faltenzugabe noch erhöht werden kann. Aber auch der Abstand zur reflektierenden Wand spielt eine wichtige Rolle. Textile Absorber sollten mindestens mit 10 cm Abstand zur Wand und am besten mit 100 % Faltenzugabe, also einer Raffung von 2:1, eingesetzt werden. Dadurch erreicht man eine hohe Absorption von bis zu 100 % in den mittleren und hohen Frequenzbändern. D. h., die komplette Energie der auftreffenden Schallwellen wird „geschluckt“, somit kommt keine Reflexion mehr von der Wand zurück und die Nachhallzeit im Raum wird kürzer.
Ein Beispiel für großflächige textile Absorber findet sich in der von Jean Nouvel gebauten „Danish Radio Concert Hall“ in Kopenhagen. Das vom Japaner Yasuhisa Toyota erstellte akustische Konzept ermöglicht eine vielseitige Nutzung des Konzertsaales von klassischen Konzerten und Chormusik bis hin zu Rock-Veranstaltungen. Neben dem großen Akustik-Deckensegel werden im gesamten Saal Akustikvorhänge an dreidimensional gebogenen Schienenanlagen verfahren, wodurch die Nachhallzeit im Saal deutlich verkürzt werden kann.
In manchen Gebäuden kommen jedoch Vorhanganlagen aus verschiedenen Gründen nicht in Frage, sei es aufgrund anderer gestalterischer Vorstellungen des Architekten oder weil Vorhanganlagen mit den Denkmalschutzauflagen kollidieren. In diesen Fällen kann anstatt eines Vorhangs auch ein Rollbanner mit textilem Behang zum Einsatz kommen, oft eingesetzt in sakralen Gebäuden wie dem Bremer Dom oder der Kirche St. Georgen in Wismar. Um die gleiche hohe Absorption wie ein Vorhang mit 100 % Faltenzugabe zu erreichen, können Rollbanner mit zwei Lagen Stoff verwendet werden. Da die Absorptionseigenschaft von Textilien im Bassbereich in den meisten Fällen recht niedrig ist, bedarf es für diesen Frequenzbereich weiterer Absorptionselemente. Hier bieten sich Plattenschwinger oder Membranabsorber an. Anders als bei Textilien (poröse Materialien) wird hier der Schall nicht durch die poröse Struktur des Material geschluckt, sondern eine dünne Membran oder Platte, die einen geschlossenen Luftraum abdeckt, wird durch den auftreffenden Luftschall zum Schwingen angeregt, wodurch die Schallenergie absorbiert wird. Bisher fehlte hier jedoch die Flexibilität. Seit kurzem ist auf dem Markt aber ein Produkt mit dem Namen aQflexTM, das variable Absorption im Bassbereich ermöglicht. Der Clou: Zwei verschweißte Membranen werden als Luftkissen aufgeblasen. Nur im aufgeblasenen Zustand schwingt die Membran, da nur dann eine Luftkammer hinter der Membran entsteht, die für einen solchen Absorber notwendig ist. Im nicht aufgeblasenen Zustand hängt die Membran flach nach unten und hat keine Auswirkung auf die auftreffenden Schallwellen. So kann auch im Bassbereich mit flexiblen Absorbern gearbeitet werden, was gerade für verstärkte Musik mit bekannt hohem Bassanteil von Vorteil ist. Beim eingangs erwähnten Konzert der Londoner Philharmoniker in den Audi-Werkshallen kam dieses System zum Beispiel zum Einsatz, um die stark ausgeprägten Überhöhungen im Bassbereich in den Griff zu bekommen.
Einfache Mittel
Es muss jedoch nicht immer eine aufwendige Rollbanner-Anlage oder eine komplizierte, aufblasbare Absorber-Installation sein. In einem schlecht klingenden Probraum kann auch schon ein einfacher Molton-Stoff helfen (Molton ist ein Baumwollstoff, hauptsächlich im Bühnenbereich im Theater oder in der Veranstaltungstechnik eingesetzt). Wichtig ist, dass der Raum nicht zu stark bedämpft werden sollte, sondern immer noch „atmen“ kann. Vor allem an den Seitenwänden braucht man meistens noch einige Reflexionen, auch damit sich die Musiker untereinander noch gut hören können. Hinter dem Chor und hinter der Dirigentenposition kann man aber gut mit absorbierenden Flächen arbeiten.
Zusammenfassung
Durch die immer weiter verbreitete multimediale Nutzung öffentlicher Häuser muss bei der Gestaltung der Raumakustik diesem Faktor Rechnung getragen werden. Eine möglichst flexible Raumakustik bietet dem Betreiber eines Veranstaltungsraums die Möglichkeit den Raum auf unterschiedlichste Art und Weise zu nutzen, ohne große Einbußen bei der Raumakustik hinnehmen zu müssen. Bei der Planung im Vorfeld als auch im Bestand können technische Maßnahmen wie Vorhanganlagen, Rollbanner oder aufblasbare Absorber eingesetzt werden. In jedem Fall werden sich die Musiker und der Dirigent beim Akustiker bedanken, wenn die Raumakustik gewisse Stellschrauben bietet, um den Raum optimal auf das Setup der Veranstaltung anzupassen.
Jonas Schira ist Leiter der Akustikabteilung bei der Firma Gerriets und verantwortlich für Produktentwicklungen sowie Sales- und Marketingaktivitäten im Fachbereich Akustik. Er hat einen BA in Audio Engineering und mehrjährige Erfahrung als Experte für Raumakustik, als Live-Musiker und Audio Engineer.
Der fachliche Fokus liegt auf dem Bereich der variablen Raumakustik für multifunktionale Räume, zu sehen an mehreren Fachartikel im In- und Ausland sowie Fachvorträge auf renommierten Kongressen wie der DAGA und der TMT.
Jonas Schira ist Beauftragter für den Fachbereich Audio/Funkfrequenzen in der DTHG (Deutsche Theatertechnische Gesellschaft) und stellvertretender Leiter des Referats Akustik im VDT (Verband deutscher Tonmeister).