Wenn ein Chor nach vielen Jahren gemeinsamen Singens erstmals darüber nachdenkt, einen Coach einzuladen, kommt Bewegung in die Gemeinschaft. Und zwar sprichwörtlich. Es wird vorab diskutiert und abgewogen. Brauchen wir tatsächlich einen Coach? Welchen Mehrwert haben wir davon? Beläuft sich das Durchschnittsalter auf 75 Jahre, dann können auch schon einmal Einwände wie „für so was sind wir zu alt“ oder „alte Bäume pflanzt man nicht um“ vernommen werden.
So auch geschehen beim Seemannschor Friedrichshafen. Herr Arthur Rusch, 1. Vorsitzender und begeisterter Sänger, hatte im Februar 2017 eine Vision. Er wollte seinem Chor zum 10-jährigen Jubiläumskonzert neuen Input geben. Er erkundigte sich beim Schwäbischen Chorverband und wurde fündig. Kurz darauf formulierte er in seiner Anfrage „…wir suchen einen Coach, der uns neue Impulse setzt (…), damit sich unser Chor nicht weiterhin so statisch präsentiert. Das Durchschnittsalter unserer Sänger liegt bei 74 Jahren. Doch ein guter Coach kann auch alte Seemänner auf der Bühne wieder flott machen….“
Der ersten Kontaktaufnahme folgten viele Mails, Überzeugungsarbeit seitens Herrn Rusch gegenüber einigen Chormitgliedern und Abstimmungsgespräche mit Herrn Eberhard Graf, dem Chorleiter. Ich muss gestehen, dass ich anfangs meine Zweifel hatte, ob dieses Coaching zustande kommt.
Es standen Äußerungen im Raum, die entweder einigen Chormitgliedern die nötige Bereitschaft für Neues absprachen, oder es wurde auf eingespielte Abläufe verwiesen, die sich angeblich nicht mehr ändern ließen.
Doch 4 Monate später standen sich Coach, Chor und Chorleiter neugierig und erwartungsvoll gegenüber. Für das erste Kennenlernen hatten wir 2 Stunden vereinbart. 2 Stunden bei sommerlichen Höchsttemperaturen, von denen sich manche Schulklasse in puncto Konzentration und Mitarbeit eine Scheibe abschneiden könnte. Besonders erfreulich war, dass auch Ehefrauen anwesend waren und das Training mit viel Interesse verfolgten.
Wir arbeiteten gemeinsam an der Grundeinstellung vor Probenbeginn, dem Umgang mit privaten Gesprächen vor und während der Probe, Körperhaltung, Muskeltonus, Lockerung der Artikulationsmuskulatur, Bühnenpräsenz sowie Kommunikationsabläufe zwischen Chor und Chorleiter.
Das für viele Chöre immer wieder schwer umkämpfte Thema Choreographie, das Einstudieren von Bewegungen (aufgemerkt: auch Auftritt, Verbeugung und Abgang zählen dazu), wurde intensiv bearbeitet.
Für mich als Coach war sehr beeindruckend, wie respektvoll und fürsorglich die Sänger des Seemannschores Friedrichshafen mit z. B. schwer geh- oder sehbehinderten Sängern umgegangen sind. Dies hat mir mal wieder gezeigt, dass eine Chorgemeinschaft mehr ist als nur eine Zusammenkunft von Menschen zum gemeinsamen Singen. Ein Chor ist ein kleiner sozialer Kosmos. Eine Gemeinschaft, in der man sich gegenseitig hilft und unterstützt, Freundschaften geschlossen werden, gestritten und diskutiert wird. Und eben auch manchmal im Vorfeld Überzeugungsarbeit geleistet werden muss.
Dass sich dies lohnt, beschreibt Herr Rusch in einer späteren Mail an mich: „Am vergangenen Montag machten wir nach der Chorprobe noch eine Nachbesprechung bzw. Nachbearbeitung des Lehrstoffes, welchen Sie vermittelt hatten. Sie glauben nicht, unsere Sänger sind wie bekehrt und umgewandelt worden (…..). Unser Dirigent will darauf in Zukunft aufbauen. Und unser 1. Auftritt nach dem Coaching am 16. Juni bei der Lindauer Rundum-Segel-Regatta zeigte Wirkung (…), aus den Zuschauer-Reihen kamen sehr positive Rückmeldungen darüber, was wir erstmals für ein tolles Bühnenbild abgegeben hätten. Die Ausrede, alte Männer um die 80 sind nicht mehr zu instruieren, zu coachen, stimmt überhaupt nicht. Man muss sie nur richtig ansprechen (…).“
Ich möchte Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, mit diesem Artikel Mut machen, sich für neue Impulse einzusetzen. Manchmal braucht es ein bisschen Zeit und Überzeugungsarbeit. Aber wie das Beispiel des Seemannschores Friedrichshafen gezeigt hat: neue Impulse kennen keine Altersbegrenzung! Schiff ahoi!
Danke an dieser Stelle auch an Herrn Rusch für die Bereitstellung der Mailauszüge. Danke an alle Sänger des Seemannschores Friedrichshafen für ihr Vertrauen und ihre Neugierde. Danke auch an Herrn Eberhard Graf für die nachhaltige Umsetzung der neuen Impulse. Ich freue mich schon auf unser nächstes Training 2018.