Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven für Kommunen und Vereine
Der Ausbau von Ganztagsangeboten insbesondere für Kinder berufstätiger Eltern beschäftigt derzeit Bildungspolitiker und Kommunen. Doch im Unterschied zu vielen europäischen Nachbarn verfügt Deutschland über eine reichhaltige außerschulische Bildungslandschaft, die von zahlreichen freien Trägern – Vereinen, Verbänden, Musikschulen und anderen Institutionen – bzw. vielen Freiwilligen der Bürgerschaft gestaltet wird. Deren Bildungsbeitrag ist beim Ganztagsausbau zu beachten, d.h. einerseits zu nützen und andererseits zu schützen. Denn die Beachtung und Förderung der Ehrenamtlichenarbeit etwa bei freien Trägern hat in Baden-Württemberg mittlerweile Verfassungsrang.
Dies berücksichtigen auch die folgenden Ausführungen von Prof. Weingardt, die im Kontext aktuell laufender Verständigungen des Städtetags Baden-Württemberg mit freien Trägern an die Städte im Land gingen. Sie verdeutlichen in komprimierter Form aktuelle Anforderungen in den Kommunen, nötige Rahmenbedingun gen sowie den potentiellen Lösungsbeitrag diverser freier Bildungspartner etwa auch aus dem Musikbereich zur Darstellung einer vielfältigen „Ganztagsbildung“, die deutlich breiter angelegt ist als „Ganztagsschule“ allein es sein kann.
Ganztagsbildung in der Zivilgesellschaft
Die Kommunen stehen heute vor der Herausforderung, eine Bildungs- und Betreuungssituation zu schaffen, die viele Aspekte und unterschiedliche Interessenlagen berücksichtigt. Eltern, die arbeiten wollen oder müssen, möchten ihre Kinder gut versorgt wissen, teils an allen, teils nur an manchen Werktagen. Andere Eltern entscheiden sich für eine intensivere Erziehung zuhause und lehnen deshalb eine verbindliche Ganztagsschule ab.
Vereine und freie außerschulische Träger insbesondere der Jugendbildung wollen ihrem gesetzlichen Auftrag zur Bildungsarbeit unter den Kindern und Jugendlichen nachkommen, denen jedoch bei Ganztagsbeschulung oft kaum Zeit für die Wahrnehmung außerschulischer Angebote oder Formen des ehrenamtlichen Engagements im Gemeinwesen bleibt. Wenn aber in der Phase der Kindheit und Jugend die Kompetenzen und Identifikationen nicht mehr hinreichend herangebildet würden, die die nachwachsende Generation fähig und bereit macht zu einer späteren Verantwortungsübernahme in der Gesellschaft als Erwachsene, nehmen Demokratie und das kommunale Leben langfristig Schaden. Zudem würde die am 25. November 2015 vom Landtag als neuer Art. 3c der Landesverfassung beschlossene Förderung des „ehrenamtlichen Einsatzes für das Gemeinwohl, das kulturelle Leben und den Sport unter Wahrung der Autonomie der Träger“ durch eine solche Entwicklung konterkariert.
Zugleich erleben wir heute an vielen Stellen, dass Bürgerinnen und Bürger in ihren jeweils spezifischen Situationen und Bedürfnislagen etwa als Familie oder Jugendliche ernst genommen und beteiligt werden wollen. Viele sind auch bereit, sich etwa schulisch als Berufsmentor oder Lernbegleiterin aktiv einzubringen: wir leben erkennbar in der „Bürgergesellschaft“ des 21. Jahrhunderts. Kommunen brauchen deshalb eine Ganztagsbildung, die von Familien und Schulen, Jugendverbänden und Vereinen, Religionsgemeinschaften und weiteren Institutionen (LV §12) sowie vielen handlungsbereiten Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam verantwortet wird. Miteinander entwickeln sie Angebote, die die verschiedenen vorhandenen kommunalen Bildungsorte und deren haupt- und ehrenamtliche Akteure einbinden und sie mit ihren Potenzialen und Interessenlagen berücksichtigen.
Eine stärkere Einbindung freier außerschulischer Träger in den lokalen Ganztagskonzepten verbindet sich aus Sicht der Kommunen mit wesentlichen Vorteilen für alle Beteiligte, denn die freien Träger der Jugend- und Vereinsarbeit
- übernehmen einen Teil der administrativen Arbeitslast
- garantieren die zuverlässige Umsetzung der zugesagten Betreuungs- bzw. Bildungsleistung, etwa auch weil ihr Personal nicht ad hoc in den Unterrichtseinsatz verlegt werden kann
- verantworten die fachliche Qualität des jeweiligen Angebots, u.a. indem sie angemessen qualifiziertes und bezahltes Personal einsetzen
- bieten ihre eigenen Räume an, d.h. Klassenzimmer müssen nicht notbehelfsmäßig zur Betreuung genutzt bzw. zusätzliche Schulbauten finanziert werden
- bringen entlastend eigene Ressourcen etwa im Bereich erlebnispädagogischen, musikalischen oder sportlichen Equipments ein
- öffnen Kindern und Jugendlichen die Zugänge zu Erfahrungs-, Handlungs-, Kompetenzbildungs- und Verantwortungsfeldern, die die Schulen intern so nicht bieten können
- stärken die Identifikation der Schülerinnen und Schüler mit den Einrichtungen und Strukturen der Freiwilligenarbeit des lokalen kommunalen Lebens
- erhöhen die Identifikation des umgebenden Gemeinwesens mit der jeweiligen lokalen Schule
Seitens der freien außerschulischen Träger müssen die Angebote so gestaltet sein, dass der konkrete Inhalt des jeweiligen Angebots und die damit verbundenen oben aufgeführten Vorteile für die Schulseite klar ausformuliert sind sowie das Angebotspaket mit den dafür offenen Zeitfenstern des jeweiligen Schulbetriebs möglichst passgenau harmoniert.
Zugleich bedarf es weiterer Rahmenbedingungen:
Schulleitungen sollten gehalten sein, den Ganztag vor Ort nicht im Alleingang gestalten zu wollen, sondern in Kooperation und Absprache mit anderen Akteuren des kommunalen Lebens.
Die Orte auch des staatlich finanzierten Teils von Ganztagsangeboten können nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig auch außerhalb der Schulgelände liegen (Vereinsheim, Gemeinde- oder Jugendhaus, Musikschule, Stadtbibliothek, Abenteuerspielplatz etc.).
Schulen, Kommunen sowie freie außerschulische Träger benötigen für die Ganztagesbildung ein flexibles Regelwerk und situationsangepasstes Handeln auf Seiten der Schulbehörden und Schulleitungen, das es ihnen erlaubt, den Ganztag im jeweiligen Einzugsgebiet in Passung zum artikulierten Elternwillen sowie den kommunalen Gegebenheiten auszugestalten.
Runde Tische in Schulbezirken bzw. Kommunen können Schulleitungen einen Überblick über lokale Akteure, Anbieter und konkrete Angebotspakete für Schulen ermöglichen. Modellschulen wie etwa Offene Bürgerschulen verdeutlichen, wie die Kooperation mit Partnern laufen kann.
Kommunen und freie außerschulische Träger brauchen bei den staatlichen Zuwendungen für den Ganztag Modalitäten, die die nötigen Ressourcen für die ggf. externe Koordination dieser Verständigung, eine mehrjährige Finanzierungs- und Planungssicherheit so-
wie eine zeitnahe Beantragung und unaufwändige administrative Abwicklung gewährleisten.
Durch vorgegebene hohe Monetarisierungs- bzw. Budgetanteile für externe Partner der Schule wird nicht nur sichergestellt, dass das Subsidiaritätsprinzip beachtet und der Ganztag tatsächlich im Verbund gestaltet werden kann. Vielmehr wird allein durch den Einsatz auch schulexterner Kräfte das Ganztagsangebot künftig überhaupt zu realisieren sein. Denn angesichts eines anhaltenden generellen Mangels an Lehrerinnen und Lehrern wird mit Lehrkräften allein der Strukturausbau im Ganztagsbereich in den nächsten Jahren schwerlich umzusetzen sein. Die Worst-Case-Situation, dass künftig dringend benötigte Finanzmittel bereit stehen, die vor Ort aber wegen fehlendem Lehrerpersonal nicht abgerufen werden können, gilt es politisch zu vermeiden.
Prof. Dr. Martin Weingardt