Über einen außergewöhnlichen und berüchtigten Musicanten
Es hat ein Componist sich bey uns eingefunden […] der in dem Contrapunct niemahls wird überwunden, wiewohl er allezeit stösst in den Regeln an, lebt doch kein Musicus, der ihn corrigiren kan […]
Am 13. November 1863 findet im Spitalhof in Stuttgart eine große Versammlung statt, denn Samuel Capricornus, der „den 10. Tag Novemb. 1665 zwischen 7. und 8. Uhr abends selig überwunden und […] hernach in deß Spittals mittlern Kirchhof bereitetem Ruh=Bethlein Volck-reichlich“ beerdigt wird, ist ein Schwergewicht der Stuttgarter Musikszene. Obwohl der Hofkapellmeister nur 37 Jahre alt wurde, war er damals ein weit bekannter und vor allem berüchtigter Musiker und Komponist.
Zum Leben des Musikers
1628 war Samuel Friedrich Bockshorn als Sohn eines evangelischen Pfarrers in der Stadt Žervice im heutigen Tschechien „ehelich gezeuget und gebohren worden.“ Die Gegenreformation und die „dazumal grausamlich wütenden Verfolgung des Evangelii“ zwangen seine Familie mit dem Kleinkind zur Flucht nach Bratislava.
Früh verliert er den Vater, so dass seine Mutter mit den insgesamt neun Kindern in die Armut abrutschte. Irgendwie bissen sich die Bockshorns aber durch und von Samuel Friedrich wird berichtet, dass er sich „aller Orten schöne Fundamenta in Linguis et Philosophia, bevorauß in der Religion und Theologia gelegt“ hätte.
Nach einem glücklosen Aufenthalt in Straßburg gelangt Capricornus schließlich nach Reutlingen, wo er sich von 1646 bis 1649 mit seinem Freund Johann Kusser (der später selbst Hofkapellmeister in Stuttgart werden sollte) aufhält und wo sich die beiden „taugliche[n] subjecta“ als Lehrer an der Lateinschule verdingen, in der sie als „Collaboratores und Musicanten“ tätig sind.
Von Reutlingen aus führt Capricornus‘ Weg zuerst nach Wien und anschließend zurück nach Bratislava. Seinen Abstecher nach Wien kommentiert seine Leichenpredigt: „…hat er sich endlich […] entschlossen sich auf die edle Musicam […] ex professo zu legen. Worüber er auch hinab nach Wien daselbsten dises Werk zu perfectioniren Anno 1649 gereist und bey Käiserl. Capell auch durch die Communication mit den vortrefflichsten Componisten grosse Fundamenten und Perfection erlanget.“
Obwohl er im selben Jahr noch eine Stelle als Lehrer in Bratislava annimmt, bleiben seine Verbindungen nach Wien erhalten. 1651 wird Capricornus Kantor an der Dreifaltigkeitskirche in Bratislava, wo viele seiner Kompositionen, so z. B. das Opus musicum und eine frühe Version des Jubilus Bernhardi entstehen.
Zu seinen musikalischen Vorbildern zählte Capricornus die Wiener Komponisten Valentini und Bertali, von denen die Pressburger auch mehrfach Noten erwarben. Im gleichen Jahr heiratet er in Bratislava Elisabeth Knogler. Diese Ehe und sein Hausfrieden scheinen aber, so berichtet die Leichenpredigt wie „der unruhige feindselige Asmodi und verdampte Ehe=Teufel“, die Capricornus oft heimsuchte und „vor sich selbst und durch allerley theils seiner Person, theils desß Fridens gehässige Instrumenta undackbare ungetrewe Haußgenosen und andere vilfältige Widersacher ihmevil Kampff und Streit, Unmuth und Traurigkeit erwecket hat“.
Capricornus Leben und Wirken in Stuttgart
1657 wird Capricornus nach Stuttgart empfohlen und nimmt dort die Stelle des fürstlich-württembergischen Kapellmeisters an, doch auch in Stuttgart muss Capricornus viel ertragen. Die Hofkapelle ist bei seinem Amtsantritt in einem desolaten Zustand und die Musiker treffen unvermittelt auf Capricornus‘ Temperament und seinen Ehrgeiz. Die Zeit in Stuttgart ist geprägt von zahlreichen Streitereien mit den Musikern am Hof und vor allen anderen mit dem Stiftsorganisten Philipp Friedrich Boeddecker.
Boeddecker war als Favorit bei der Neubesetzung der Hofkapellmeisterstelle gehandelt worden, er selbst war sich sicher, diese hochdotierte Stelle antreten zu dürfen. Als der Zuschlag dann aber an Capricornus geht, wird der zurückgesetzte Boeddecker zu seinem ärgsten Rivalen. Zahlreiche Vermerke, Eingaben und Notizen zeugen heute von den Streitigkeiten. Capricornus verlangte den Musikern der Hofkapelle ihr äuß-
erstes ab, gab ihnen schwere Stücke zu spielen und maßregelte sie wohl auch nach allen Regeln der Kunst. Capricornus scheint, wie auch der Stiftsorganist Boeddecker, kein einfacher Mensch gewesen zu sein. Der Gipfel der Auseinandersetzung beider Rivalen waren Boeddeckers Bezichtigungen, Capricornus sei kein guter Komponist. Boeddecker geht sogar so weit, Passagen aus Capricornus‘ Frühwerk „Opus musicum“ an Kollegen zu schicken und Capricornus so auch beim Herzog zu diskreditieren.
Als Antwort darauf verfasst Capricornus 1659 ein „Memoriale“ an Eberhard III, in dem er seine Satztechnik verteidigt und Boeddeckers Schaffen sehr ausführlich und anschaulich zerlegt. Nur sechs Jahre darauf und nach noch mehr Streitigkeiten verstirbt Capricornus leider viel zu früh im Alter von 37 Jahren.
Nachwirken seiner Werke in der Musik
Capricornus‘ Werke aber blieben für lange Zeit in Europa noch aktuell. 17 Sammlungen hat er gedruckt, die in Inventaren zwischen Polen und Frankreich, England, Dänemark und Süddeutschland nachweisbar sind. Seine Musik wurde nicht nur an den Fürstenhöfen, sondern auch (und das ist besonders erwähnenswert) in den Gottesdiensten beider Konfessionen gespielt worden zu sein. Für das 17. Jahrhundert ist das ein extrem großes Rezeptionsgebiet.
Seine Werke:
Wiewohl Capricornus auch viel Kammermusik geschrieben hat, sollen hier vor allem seine Vokalwerke vorgestellt werden. Es fällt auf, dass Capricornus offensichtlich dem Stil der Zeit und den Gegebenheiten an seinen verschiedenen Wirkungsorten angepasst hat.
1. Opus Musicum (1655)
Capricornus komponierte zu seiner Pressburger Zeit über 100 kirchenmusikalische Werke. Diese Sammlung enthält daraus 22 Werke, die Capricornus offensichtlich für so gut befand, dass er sie drucken ließ. Im Opus Musicum finden sich zwei Messen, zwei Magnificat, etliche Psalmvertonungen, die solistisch und auch mit Chören aufgeführt worden sein können. Die Besetzung reicht von einer reinen Continuo-Begleitung bis hin zum groß besetzten Orchester mit Posaunen und Trompeten.
2. Jubilus Bernhardi
Capricornus vertonte den Text des Lobgesangs des Bernhard von Clairvaux gleich zwei Mal. In Bratislava komponierte er für eine kleinere Besetzung. Das Notenmaterial davon ist heute leider verschollen. Einige Jahre später entschloss Capricornus sich, das Werk nochmal grundlegend zu überarbeiten, und konzipierte es für eine größere Besetzung. Ergebnis dieser Arbeit war ein Zyklus aus 24 Motetten, die die 48 Strophen des Textes vertonen. Sicherlich ist der Jubilus Bernhardi nicht als ganzes Stück gedacht, das an einem Abend musiziert werden kann, da sich die Tonsprache doch stark an einen Duktus hält. Dennoch haben diese Motetten als einzeln stehende Werke eine starke Überzeugungskraft. Die Besetzung, fünf Violen, fünf Concerto- und Ripieno-Stimmen und Basso Continuo machen dieses Werk immer wieder farbig.
3. Opus Aureum Missarum
Diese Sammlung erschien posthum und enthält vier zum Teil doppelchörige Messen. Zwei davon sind vollständige Messen, die letzten beiden enthalten als Missa brevis nur Kyrie und Gloria.
4. Einzeln und handschriftlich erhaltene Werke
Die hier oben bereits aufgeführten Werke waren zum Teil noch von Capricornus selbst zum Druck befördert worden. Viele seiner Kompositionen aber wurden abgeschrieben und sind uns heute handschriftlich erhalten. Sie lagern in ganz Europa verstreut, ein gewichtiger Teil z.B. in der Düben-Sammlung in Uppsala.
Nicht nur Chormusik wurde veröffentlicht
Neben diesen, für Chöre vielleicht interessanteren Werken, ließ Capricornus einen großen Teil seiner Stuttgarter Kompositionen drucken. Diese Drucke enthalten neben Tafel- und Lustmusiken auch eine Vielzahl geistlicher Konzerte für ein bis fünf solistische Stimmen und Instrumentalbegleitung. In dieser Disziplin ist Capricornus Schaffen nicht zu unterschätzen. Seine Beiträge für das geistliche Konzert könnte man (fast) guten Gewissens neben die von Heinrich Schütz stellen.
Capricornus in der heutigen Aufführungspraxis
Alles in allem, so möchte man meinen, ist uns mit Samuel Capricornus ein wahrer Meisterkomponist für lange Zeit vorenthalten geblieben. Glücklicherweise sind seine Kompositionen in der Zwischenzeit verlegt worden, so zum Beispiel im Cornetto-Verlag in Stuttgart, und seine Stücke kommen immer mal wieder in verschiedensten Konzerten zur Aufführung. So wünsche ich Ihnen, dass Sie bald in den Genuss kommen, Samuel Friedrich Capricornus auch akustisch kennen zu lernen, zum Beispiel in einem Konzert Anfang Juli.
Nikolai Ott