Gerade bei der Arbeit mit Kindern ist es außerordentlich wichtig
Warum es wichtig ist, mit Kindern im richtigen Tonraum zu singen, welche Vorbildwirkung die Erzieherinnen haben und wie die Pflege der Kinderstimme das soziale Miteinander bereichert, erklärt Stimmtherapeutin Eleonore Perneker im Interview mit Nora-Henriette Friedel.
Nora-Henriette Friedel:
Frau Perneker, Sie sind Sängerin und Logopädin. Als Stimmtherapeutin arbeiten Sie auch viel mit Kindern. Wie singt man mit Kindern richtig?
Eleonore Pernecker: Man sollte sich bewusst sein, dass Kinder stimmlich gesehen keine verkleinerten Erwachsenen sind. Generell gilt es, Kinder nicht über die Grenzen ihres physiologisch gesunden Stimmgebrauchs hinweg ins Singen zu bringen. Die Gefahr liegt einerseits darin, dass Kinder markante Erwachsenenstimmklänge imitieren, und zum anderen darin, dass sie eine ungünstige Stimmlage nutzen – was vor allem zu tief, aber auch viel zu hoch sein kann. Dauer und Intensität eines solchen Stimmgebrauchs spielen hierbei die entscheidende Rolle. Spielerisch die Stimme auszuprobieren ist nicht problematisch, im Gegenteil. Und Freude am Singen und an der Musik, das ist richtig wichtig.
Nora-Henriette Friedel:
Wodurch unterscheidet sich denn die Kinderstimme von der Erwachsenenstimme?
Eleonore Pernecker:
Wachstumsbedingt verhält sich die Proportion Kopf zu Brustkorb, also auch das Lungenvolumen betreffend, ganz anders als beim Erwachsenen, die Unterschiedlichkeit der Resonanzräume verleiht der Kinderstimme einen anderen Klang, sie ist noch nicht so „brustig“ angelegt. Der noch kleinere Kehlkopf findet erst im Lauf der Zeit eine tiefere Position, die Stimmlippen sind noch kürzer und strukturell etwas anders aufgebaut.
Und auch bezüglich Stimmbandschluss gibt es manchmal im Hinblick auf die verschiedenen Register Unterschiede, Kinderstimmen können durch Luftanteil teilweise weicher klingen.
Nora-Henriette Friedel:
Was passiert, wenn Kinder erwachsenen Stimmklang imitieren?
Eleonore Pernecker:
Sie versuchen, mit zu viel Kraft oder Enge eine Klanglichkeit oder Lautstärke zu erzeugen, für die die anatomische Grundlage fehlt. Stimmlippen, Muskeln und Resonanzräume wachsen ja eben noch. Das gleichen sie durch erhöhten Anblasdruck aus, die Stimme wird so einseitig belastet und nimmt Schaden. Bewegen sich Kinder beim Singen vorwiegend in erwachsener Stimmlage, verlernt die Stimme, den Stimmlippenmuskel differenziert auch in höheren Lagen zu nutzen. Dabei ist der Stimmumfang des Menschen eigentlich sehr groß angelegt: Babys erreichen bis zu fünf Oktaven!
Nora-Henriette Friedel:
Woher weiß man, was die richtige Singstimmlage für Kleinkinder ist?
Eleonore Pernecker:
Mit etwa zweieinhalb Jahren beginnt die mittlere Sprechstimmlage bei Kindern auf etwa d1 abzusinken. In dieser Zeit lässt sich beobachten, dass Kinder ihr Spiel mit einem Singsang-Monolog begleiten und dabei mühelos in die Kopfstimme gleiten, etwa zwischen d1 und f2 – eine gute Orientierung für den Tonraum beim Singen mit Kindern.
Nora-Henriette Friedel:
Die Carusos-Qualitätskriterien geben vor, dass beim Singen das c1 nicht unterschritten werden soll und die Lieder möglichst in dem von Ihnen genannten Tonraum liegen sollen. Viele ungeübte Erzieherinnen fühlen sich spätestens ab c2 nicht mehr wohl. Andere verbinden eine hohe Singlage mit einer elitären, klassischen Klangästhetik. Diese sei vielen Kindern heute fremd und schwer zu vermitteln. In diesem Sinne argumentierte der Hamburger Chorleiter und Stimmwissenschaftler Winfried Adelmann im letzten Jahr in einem Interview der Zeitschrift „Popmusik in der Grundschule“ über gesunde Stimmlagen für Kinder.
Eleonore Pernecker:
Eine hohe Singlage hat nichts mit vermeintlich hochgezüchteten kleinen Sängern im Elitechor zu tun – diese Lage ist der kindlichen Stimme einfach physiologisch gegeben. In solchen Ängsten oder Vorurteilen schwingt ein Widerstreit zwischen Pop und Klassik mit. Doch es geht nicht darum, Pop oder eine andere Stilrichtung für Kinder vollkommen auszuklammern oder per se schlecht zu reden. Auch wenn Pospsongs oft in einer für Kinder ungünstigen Lage gesetzt sind, gibt es andere, die vom Tonraum her passen.
Nora-Henriette Friedel:
Aber Tonhöhe ist, wie Sie eingangs sagten, nur ein Aspekt kindgerechten Singens.
Eleonore Pernecker:
Genau. Generell gilt es, Popsongs bezüglich der Lage und auch der Klanglichkeit kindgerecht zu „übersetzen“. Ein schönes Beispiel hierfür ist die CD „Eule findet den Beat“. Allgemein geht es um die Vermeidung eines zu tiefen, am Rande des kindlichen Stimmumfangs liegenden, zu druckreichen, eventuell zu lauten, oder auch zu verhauchten, zu knarzenden, zu rauhen, zu gepressten, sehr gedrückt hohen oder zu forcierten Stimmgebrauchs.
Nora-Henriette Friedel:
Das sind ziemlich viele Kriterien…
Eleonore Pernecker:
Das wichtigste Kriterium ist, ob es Anstrengungszeichen beim Singen gibt: in der Atmung, in der Körperspannung oder direkt in der Stimme. Das gilt es ständig zu beobachten.
Nora-Henriette Friedel:
Welche Qualität muss das erwachsene Singen denn haben, damit Kinder, die es imitieren, ihrer Stimme nicht schaden, sondern sie entwickeln und entfalten können?
Eleonore Pernecker:
Ein anstrengungsloser, wohlklingender, ausgewogener Stimmgebrauch in der eigenen, – möglichst noch – angenehmen Lage ist wichtig – wichtiger als der Vorgabe der richtigen kindlichen Lage zu genügen, sich dabei aber zu verbiegen und angestrengt hoch zu singen.
Erzieherinnen dürfen klangvoll ihre Stimme nutzen, aber bitte nicht druckreich oder forciert, sondern ihr leicht und locker freien Lauf lassen – so können sie die Kinder einladen, es ihnen gleich zu tun . Denn wenn Singen gleichbedeutend wird mit Schreien, ermüdet es, schädigt, macht keine Freude und verbaut emotionale Ausdrucksmöglichkeiten.
Nora-Henriette Friedel:
PädagogInnen und Eltern sind also Stimmvorbilder für Kinder.
Eleonore Pernecker:
Ja, Imitation ist eine wichtige Lernstrategie für Kinder. Die Pflege der eigenen Stimme und die Beschäftigung mit ihr, auch ihre Gesunderhaltung ist eine Grundvoraussetzung in einem so stimmintensiven Beruf wie dem der Erzieherin im Kindergarten. Habe ich selbst Spaß daran, meine Stimme spielerisch einzusetzen, ihre verschiedenen Möglichkeiten und Klangfarben flexibel auszuprobieren, empfinde ich das Singen in der guten Lage für Kinder auch nicht mehr so sehr als Problem.
Nora-Henriette Friedel:
Wie kann das konkret aussehen?
Eleonore Pernecker:
Stimme hat mit Mut zu tun. Über sogenannte „primal sounds“, also Urklänge wie Juchzen, Seufzen, freudiges Staunen wie in dem Ausruf „Hey, toll, dass du da bist!“ kann ich recht niedrigschwellig dahin gelangen, meine Stimme anders zu gebrauchen als üblicherweise – auch wenn ich sonst stimmlich etwas zurückhaltend bin. Stimmspiele mit Kindern, in denen alle die piepsige Maus, den brummenden Bären oder rufenden Uhu nachahmen, helfen ebenso. Es sollte deutlich mehr Angebote für Erzieherinnen geben, ihre Stimme zu erkunden und zu pflegen.
Dabei gilt es, ihnen klar zu machen: Traut euch zu experimentieren, habt nicht so viel Sorge, etwas falsch zu machen, im Prinzip ist alles Nötige schon da! Es geht nur darum, Wege zu finden, hinspürend die eigenen Möglichkeiten auch zu nutzen.
Nora-Henriette Friedel:
Es gibt Projekte, in denen Seniorinnen und Senioren Singpaten für Kinder sind und alle gemeinsam singen. Was halten Sie aus stimmphysiologischer Sicht davon?
Eleonore Pernecker:
Das kann gut funktionieren: Im Alter wird die Sprechstimmlage von Männern höher, die von Frauen etwas tiefer, Kraft und Flexibilität lassen oft nach, ältere Menschen singen manchmal dabei leichter, weniger lautstark. Das kommt den leichteren Kinderstimmen entgegen. Und wenn die Senioren nicht in kindgerechte Höhe kommen, dann oktavieren sie – auch gut. Sie selbst trainieren über das Singen Körperfunktionen wie Atmung, Körperspannung oder den Hörsinn. Hier können beide Seiten gewinnen.
Nora-Henriette Friedel:
Eröffnet man Kindern den Weg, ihre eigene Stimme vielfältig und gesund einsetzen zu können, ermöglicht man ihnen einen Zugang zum aktiven Musizieren. Aber das ist sicher nicht alles?
Eleonore Pernecker:
Das Achtsame, das Wegnehmen von Druck beim Singen wirkt sich auch auf das miteinander Sprechen aus und damit auf das soziale Miteinander. Wenn ich stimmlich in der Lage bin, differenzierte emotionale Ausdrucksweisen zu finden, meiner Stimme verschiedene Farben und Zwischentöne zu verleihen, beeinflusst das auch den Umgang der Kinder untereinander positiv. Überhaupt hängt der Lärmpegel im Kindergarten auch von der Art und Weise ab, wie Erzieherinnen sprechen.
Nora-Henriette Friedel:
Kinder sind also nicht per se laut?
Eleonore Pernecker:
Ganz und gar nicht. Sie reagieren sehr stark auf Vorbilder, das erlebe ich in der Stimmtherapie mit Kindern immer wieder deutlich – im Negativen wie im Positiven. Gute Stimmvorbilder, wie zum Beispiel die sympathische Erzieherin, die ihre Stimme gesund einsetzt, sind elementar wichtig. Kinder in Therapie können oft leichter als Erwachsene positive Veränderungen vornehmen – einfach, weil ungünstigen Gewohnheiten noch nicht so lange bestehen und sie oft unvoreingenommener reagieren.
Nora-Henriette Friedel:
Umso wichtiger ist es, dass Erzieherinnen und Erzieher gute Vorbilder sind?
Eleonore Pernecker: Ja, denn Kinder sind zwar heute einer enormen Medienflut ausgesetzt. Aber kommunizieren lernen sie nach wie vor im persönlichen Kontakt. Und hier kommt es auch auf die Qualität der stimmlichen Botschaft an: Ein freundlicher Umgangston öffnet neben Türen auch den Atem. Dagegen ziehen harte Stimmeinsätze und enge Atemräume Grenzen, nicht nur für die Stimme. Leider kann man heute oft eine Armut des Ausdrucks verzeichnen, die sicher auch damit zusammenhängt, dass die Stimme und ihr Potential nicht gepflegt werden.
Nora-Henriette Friedel:
Wo machen Sie diese Beobachtung?
Eleonore Pernecker:
Ich unterrichte auch zukünftige Lehrerinnen und Lehrer im Referendariat. Dort fällt mir auf, dass es immer schwerer fällt, die eigene Wirkung zu reflektieren, die sich nicht über das Gesagte, sondern als Subtext über die Stimme transportiert. So fehlt zum Beispiel das Bewusstsein, dass eine stauende, schnappende Sprechatmung Druck bei Schülerinnen und Schülern erzeugt. Fördert man früh die stimmliche Entwicklung eben vor allem übers Singen, hilft das langfristig nicht nur der Stimmgesundheit, sondern jeglicher zwischenmenschlicher Kommunikation und auch in vielen beruflichen Situationen, angefangen beim Bewerbungsgespräch.
Mit freundlicher Genehmigung der Chorzeit – Das Vokalmagazin. Erstabdruck Ausgabe Februar 2018.
Eleonore Perneker ist Logopädin und studierte klassischen Gesang bei Prof. Monika Bürgener. Seit 2006 ist sie Lehrbeauftragte der Hochschule für Musik Würzburg für Stimmphysiologie, Stimmbildung, Sprecherziehung und Stimm- und Sprechberatung. Sie ist außerdem Dozentin für Sprecherziehung im Referendariat am Gymnasium und weiterhin für Stimmgesundheit.
In eigener Praxis ist sie als Stimmtherapeutin und -pädagogin für Menschen aller Altersgruppen tätig, schwerpunktmäßig in der Betreuung der Pädagogen- und der professionellen Singstimme. Verheiratet, vier Kinder. Freie Konzert- und Fortbildungstätigkeit.