Friedrich Silchers Volkslieder und Chorsätze sind den meisten Sängern und Chorleitern wohl bekannt. Doch Silcher hatte noch weitere musikalische Pläne
Denkt man an Silcher, fallen einem zunächst seine volkstümlichen Werke ein. Der „Meister des Volkslieds“ hat aber auch anspruchsvollere Stücke geschaffen, z.B. zwei Ouvertüren für Orchester: Dass Letztere kaum bekannt sind, liegt gewiss auch daran, dass sie erst über 100 Jahre nach dem Tod ihres Schöpfers im Druck herausgegeben wurden. (Inzwischen liegen sie auch als Tonaufnahmen auf CD vor.)
Ouvertüren – eine kurze Begriffserklärung
Ouvertüren sind, wie der Name schon sagt, ursprünglich „Eröffnungsstücke“ zu größeren Musikwerken, z.B. zu Sinfonien oder zu Opern. Im 19. Jahrhundert kamen Ouvertüren aber auch als eigenständige Musikstücke in Mode; als solche in keinem weiteren Zusammenhang stehende „Eröffnungsstücke“ hat man bislang auch die beiden Silcher´schen Arbeiten betrachtet. In der Literatur heißt es dazu nur, sie seien eben als Orchesterwerke „für das Musik-Collegium der Studenten des Evangelischen Stifts in Tübingen komponiert worden“.
Die Entstehung der beiden Ourvertüren Silchers
Hier sei nun die Frage erlaubt: Könnten diese Ouvertüren nicht doch im Rahmen von Bühnenwerken zu sehen sein, die der Komponist einst geplant, aber nicht zur Ausführung gebracht hat?
Professor Dahmen wies in diesem Zusammenhang bereits 1989 auf einen Brief des Schriftstellers Hermann Kurz hin. Er schrieb 1838, er hoffe, Silcher werde ihm zu einem Konradin-Drama, das ihm damals vor Augen schwebte, „eine Ouvertüre setzen“. Das Bühnenstück über den letzten Staufer Konradin ist allerdings eine Vision des Dichters geblieben, und von Silcher selbst hören wir dazu nichts.
Folgen wir daher lieber einer (bislang übersehenen) Spur, die der Komponist selbst gelegt hat! In einem Brief, der im Silcher-Museum aufbewahrt wird, machte der Tübinger Musikdirektor 1838 gegenüber seinem Ex-Schüler Friedrich Weizsäcker folgende Bemerkung:
„Ich glaube nicht, dass ich an meine Oper komme, ich müsste in anderen Verhältnissen leben, meine Zeit ist zu sehr zersplittert. Auch ist derjenige Text, den ich jahrelang im Herzen getragen, für mich nun verloren. Ein Militärkapellmeister kam darauf und siehe, als die Oper fertig war, sagt(e) der König: ´ich will nicht haben, dass mir meine Ahnherrn im Theater singen` u. damit hatte die Sache ein Ende. Gut, dass mirs nicht passiert ist.“
Silcher hatte demnach vor, eine Oper zu komponieren, und zwar zu einem ganz bestimmten „Text“. Um 1838 lässt er dieses Projekt aber fallen, nicht zuletzt weil ihm ein „Militärkapellmeister“ den Text wegschnappte.
Was wäre die Handlung der Oper gewesen?
Nun möchten wir natürlich gerne wissen, um welchen Bühnenstoff es sich bei Silchers Opernprojekt gehandelt hat. Da hilft uns Silchers Hinweis, der König habe das Stück des Kollegen abgelehnt, weil er eben nicht wollte, dass ihm seine „Ahnherrn im Theater singen“, weiter: Der Gegenstand, den der Tübinger Musikdirektor für eine Oper ins Auge gefasst hatte, muss demnach aus der Geschichte des Hauses Württemberg stammen.
Gehen wir den Silcher´schen Hinweisen zur Person des Komponisten weiter nach, so werden wir fündig. Allerdings an abgelegener Stelle – in der Monatszeitschrift für Justizpflege in Württemberg. Dort wird 1838 über einem Rechtsstreit des in Ludwigsburg tätigen Komponisten Nikolaus Stössel, der von 1793 bis 1839 lebte, berichtet und dabei ganz nebenbei erwähnt, dass dieser gerade eine historische Oper anfertige.
„Dem Vernehmen nach haben wir von diesem Compositeur, welcher Kapellmeister der Musik der III. Infanterie Brigade und Director des aus sämtlichen Militär-Musiken zusammengesetzten Garnisons-Orchesters in Ludwigsburg ist, demnächst eine neue Oper Lichtenstein nach Hauff, wozu der Text von einem Artillerie-Offizier gedichtet ist, zu erwarten.“
Ein Historiendrama als Grundlage
Hier ist also der „Militärkapellmeister“, der Silcher das Opernthema weggeschnappt hat! Und jetzt wissen wir auch, welchen Stoff der Tübinger Musikdirektor im Blick hatte: Es war der so bekannte Historienroman „Lichtenstein“, den 1826 sein ehemaliger Student Wilhelm Hauff veröffentlicht hat.
Stössel konnte sein angekündigtes Opus (dessen Niederschrift sich heute in der Landes-bibliothek zu Stuttgart befindet) zwar vollenden, aber nicht aufführen. Wilhelm I. verweigerte ihm dazu die Erlaubnis, wie wir oben aus Silchers Feder erfahren haben. Der König fand es nicht standesgemäß, dass einer seiner Vorfahren von einem Sänger auf der Theaterbühne dargestellt werden sollte.
Keine Erlaubnis für singende Ahnherren, aber eine Story die überzeugt
Auf einen solchen Herrscher-Auftritt konnte man mit Hauffs Romanvorlage allerdings nicht verzichten! Im „Lichtenstein“ ist Wilhelms „Ahnherr“ Herzog Ulrich von Württemberg einer der Hauptakteure. Zudem schildert eine populäre Szene des Romans, wie Ulrich in der Nebelhöhle, in der er sich vor seinen Feinden versteckt hält, sich die Zeit (und wohl auch die Furcht) mit Singen vertreibt. Das musste einfach auf die Bühne!
So konnte es am Ende nicht ausbleiben, dass Wilhelm doch noch „die Erlaubniß gab, den Herzog Ulrich, seinen Ahnherrn, auch außer- (halb) den Coulissen sichtbar und hörbar darstellen zu lassen“, wie das Morgenblatt für gebildete Leser am 9.12.1845 berichtet. Allerdings profitierte von diesem Sinneswandel nicht das Singspiel des Herrn Stössel – es blieb in der Versenkung, in die es 1838 gefallen war, verschwunden.
Nutznießer der königlichen Generosität war vielmehr der Stuttgarter Hofkapellmeister Peter von Lindpaintner (1791-1856). Wie uns das Morgenblatt 1845 weiter mitteilt, schuf Lindpaintner damals zur Einweihung des neuen Stuttgarter Opernhauses „eine große vaterländische Festoper in fünf Aufzügen, deren Buch „Lichtenstein“, getreu nach Hauffs beliebtem Roman bearbeitet worden ist.“
Ob Silcher bei der Uraufführung 1846 auch anwesend war? Durchaus möglich! Er kannte Lindpaintner gut. Dass er selbst eine Zeit lang eine „Lichtenstein“-Oper anfertigen wollte, hat er aber nie öffentlich preisgegeben, auch nicht in Zusammenhang mit seinen beiden Ouverturen.