Der Stuttgarter Liederkranz ist nicht nur der größte Verein im Schwäbischen Chorverband, sondern auch Gründungsmitglied. Zur Tradition gehört nun auch Neuanfang.
Frisch, modern, innovativ: Der KonzertChor Stuttgart steht für Aufbruch und Zukunft. Alles ist noch ganz neu, denn das Ensemble ist gerade erst dabei, sich zu gründen. Ein Wagnis, denn der zukünftige Chor gehört dem altehrwürdigen Stuttgarter Liederkranz an. Der ist in der hiesigen Szene eine Institution. Seit gut 194 Jahren steht der Liederkranz vor allem für eines: Tradition. Doch nun saust ein Wind der Veränderung durch die geschichtsträchtigen Reihen des Ensembles.
Tradition und Neuanfang, das geht zusammen
„Länger hätten wir mit unserer Umstrukturierung nicht mehr warten dürfen“, sagt Dr. Stefan Schultes. Seit gut fünf Jahren ist er der Präsident des Stuttgarter Liederkranzes. Ich treffe ihn und den neuen musikalischen Leiter Andreas Großberger im Vereinsbüro. Es gibt noch sehr viel zu organisieren, bis der neue KonzertChor Stuttgart im Januar 2019 mit den Proben beginnen kann. Die Neugestaltung des Vereins ist eine drin-
gende Notwendigkeit, erzählen die beiden. In den vergangenen Jahren hatte der Chor Probleme, neue Mitglieder zu gewinnen.
„Wir haben einige Sängerinnen und Sänger, die beispielsweise weit über 80 Jahre alt sind und es aus physischen Gründen nicht mehr schaffen, ein zweistündiges Konzert durchzustehen“, erklärt Schultes. Überalterung – eine Entwicklung, mit der viele Chöre zu kämpfen haben. Traditionell war der Stuttgarter Liederkranz bisher immer in einen Männer- und einen Frauenchor unterteilt. Das wird sich mit dem KonzertChor Stutt-
gart ändern.
Andreas Großberger hat eine Vision: einen großen gemischten Chor für Stuttgart. Der neue künstlerische Leiter ist ein Optimist, der bereit ist, mutig in die Zukunft zu blicken. In den letzten fünf Jahren hat sich die Anzahl der Mitglieder rapide verringert. Dieser Tendenz möchte die Führungsspitze des Liederkranzes nun entgegenwirken. Die personellen und finanziellen Ressourcen sind gegeben und auch der Verein trägt die Entscheidung bisher mit. „Der Ruf nach Veränderung war auch ein Bedürfnis der Mitglieder selbst. Sogar die älteren Sängerinnen und Sänger sagen, wir müssen uns neu beleben, regenerieren uns neu besingen. „Da spüren wir eine gewisse innere Unruhe“, erklärt der Präsident. Aus diesem revolutionären Geist katalysieren er und Andreas Großberger neue Ideen und Perspektiven, zu denen auch der KonzertChor Stuttgart zählt. Eine Aufgabe, die viel Fingerspitzengefühl erfordert, denn langjährige Mitglieder sollen sich nicht ausgeschlossen fühlen. Andreas Großberger und Dr. Stefan Schultes treten als Team auf. Hört man die beiden von ihren Plänen erzählen, wird deutlich, dass Ihnen der Verein und die Tradition am Herzen liegen. Doch sie wollen die Strukturen so umgestalten, dass der Liederkranz auch langfristig eine solide Zukunft
hat.
Der Weg in die Zukunft
Andreas Großberger ist als neuer Dirigent des KonzertChors federführender Ideengeber und innovativer Geist. „Die Trennung von Männer- und Frauenchören ist eine Struktur, die sich, zumindest für dieses Haus, überlebt ist.“ Dennoch ist die Veränderung ein massiver Einschnitt in die Ordnung des Liederkranzes, der ursprünglich als Männergesangverein gegründet wurde.
Für manche Mitglieder ist ein solcher Richtungswechsel nicht ganz einfach zu verkraften. Doch Präsident Dr. Schultes betont: „So können wir unseren Verein mit einer guten Basis in die 2020er Jahre führen.“ Mit der Gründung des KonzertChors Stuttgart ist eng die Hoffnung verbunden, neue und vor allem auch jüngere Mitglieder gewinnen zu können. „Es ist ein wahnsinniger Schritt, eigentlich unvorstellbar, umso erstaunlicher ist es, dass wir bisher eigentlich nur positive Resonanz aus den bestehenden Reihen erfahren“, resümiert Großberger. Vieles verändert sich. Hinsichtlich der Repertoireauswahl bleibt der studierte Kirchenmusiker, Sänger und Chorleiter allerdings der Tradition treu. Vor allem die großen romantischen Chorwerke stehen auf dem Programm. „Entscheidend für die Stückauswahl im kommenden Jahr ist, dass sie den Sängerinnen und Sängern Spaß macht.“ Es soll ein offener Geist herrschen. Verschiedene musikalische Genres wie Oper, Oratorium oder das ein oder andere Crossoverprojekt seien denkbar. Die regelmäßigen Proben in der prächtigen Liederhalle und Konzerte im Beethovensaal in Zusammenarbeit mit dem Staatsorchester bleiben ebenfalls bestehen. Ein besonderer Reiz für alle zukünftigen Sängerinnen und Sänger, da sind sich Dr. Schultes und Großberger sicher.
Ein Chor muss zusammenwachsen
Es ist ein Spagat, den der KonzertChor Stuttgart versucht zu bewältigen: zwischen Tradition und Moderne, Vergangenheit und Zukunft, treuen Mitgliedern und neuen Gesangfreunden. Aktuell laufen die Vorsingen und Andreas Großberger freut sich über den großen Zuspruch. „Nach drei Wochen haben sich schon knapp 40 Personen zwischen 16 und 65 Jahren beworben.“ Grundsätzlich kann sich jeder vorstellen, auch das ist eine
Neuerung. Der musikalische Leiter sucht vor allem nach Persönlichkeiten. „Wir suchen sehr flexible Menschen, die offen für neue Ideen und auch für die Vereinsarbeit sind.“
Einmal wöchentlich soll für zwei Stunden geprobt werden. Hinzu kommen Probewochenenden. Auch die bisherigen Mitglieder des Liederkranzes haben die Chance, dabei zu sein, ohne vorsingen zu müssen. „Ich fände es unangemessen, Leute, die vielleicht 50 Jahre einen Verein getragen haben, einfach auszuschließen. Alle Sängerinnen und Sänger, die jetzt gerade in den Chören des Liederkranzes sind, haben von meiner Seite aus das herzliche Angebot, am KonzertChor teilzunehmen.“
Der Stuttgarter Liederkranz ist ein Verein, der ein hohes musikalisches Niveau anstrebt. Eine Linie, die Andreas Großberger beibehalten will. Doch ihm geht es vor allem darum, hier einen soliden Gesangkorpus zu kreieren. „Natürlich kann ich sagen, ich will nicht unter ein gewisses Niveau gehen, wenn ich die Leute aber nicht kriege, bringt mir das alles nichts. Damit ist dem Verein nicht geholfen, denn der braucht Mitglieder, sonst kann er nicht überleben.“
Die eigentliche Arbeit beginnt erst nach den Vorsingen. Das Programm für das kommende Jahr steht, der Saal ist gebucht, nur der Chor fehlt noch. „Die Herausforderung wird sein, einen homogenen Klangkörper zu formen. Denn es werden 40 bis 60 neue Sängerinnen und Sänger auf jene aus dem Liederkranz treffen, die sich entschieden haben, mitzusingen. Eine große Herausforderung, der Andreas Großberger und Dr. Stefan Schultes sicher mit viel Geduld, Energie und Optimismus begegnen werden. Beide blicken nun äußerst zuversichtlich in die Zukunft. Bleibt zu hoffen, dass die Mitglieder des Stuttgarter Liederkranzes den Atem haben, den neu entstehenden KonzertChor lange und geduldig zu tragen.