Das Probedirigat ist neben einem persönlichen Gespräch und der Vita wohl die ausschlaggebende Basis, um bei der Einstellung einer neuen Chorleitung eine Auswahl zu treffen. Wenn ein Hobbychor eine neue Chorleitung sucht, wird er vermutlich selten in die Situation kommen, zehn oder noch mehr Probedirigate vergleichen zu müssen. Aber auch bei zwei oder drei Bewerbungen steht man vor der Wahl; selbst bei einer einzigen Rückmeldung auf die Suchanzeige muss eine Entscheidung getroffen werden. Wie, außer aus dem Bauch heraus, kann aber ein Probedirigat bewertet werden? Übrigens: bei jeder genutzten Gender-Form sollen sich bitte immer m/w/x gleich herzlich angesprochen fühlen. Ich wechsle auch zwischendurch mal ab – versprochen!
Das Bauchgefühl
Das Problem: Das Probedirigat hat allen Sängerinnen Spaß gemacht, der Endorphin-Spiegel ist beim Singen schließlich hoch genug. Auch die Entscheidungsträger haben sich primär auf das Einüben der Stücke konzentriert und nicht so sehr auf das Dirigat, wie sie es sich vorgenommen haben. Es ist dann schwer, sich rückwirkend wichtige Fragen zu beantworten: Wie wurde das Einsingen gestaltet? Welche didaktischen Ansätze wurden angewandt? Wie war die Klavierbegleitung? Wurde genügend auf den Chorklang eingegangen? Und auch ein Vergleich von Probedirigaten nach mehreren Wochen ist sehr schwer Und wer ist überhaupt Entscheidungsträger?
Abschauen bei den Profis
Viele Fragen, die ich mir vor einiger Zeit auch stellen musste. Und dann habe ich mir noch eine Frage gestellt: Wie machen das denn die Profis aus den Personalabteilungen bei Einstellungsgesprächen? Und hier habe ich ein interessantes Werkzeug gefunden: Oft wird ein Fragenkatalog im Multiple-Choice Modell erstellt und die Antworten werden gewichtet und bewertet. Ein simples Punktesystem. Diesen Gedanken habe ich aufgegriffen: Jeder unserer Sänger hat für das Probedirigat einen Fragebogen bekommen und war somit auch an der Entscheidung beteiligt.
Schritt für Schritt zum Fragebogen
Jeder Chor ist individuell und die passende Chorleiterin muss für jeden Chor andere Eigenschaften und Fähigkeiten mitbringen. Daher kann es auch keinen vorgefertigten Standard-Fragebogen geben. Der erste Schritt war für mich die Überlegung: Was ist bei uns wichtig und soll bewertet werden? Für unseren traditionalen Männerchor war dies zum Beispiel, dass die Sänger, die bisher wenig mit Musiktheorie konfrontiert wurden, dennoch das Ziel erkennen. Also nicht: „Die Quinte muss höher!“, sondern etwa: „Jetzt geht im Tenor die Sonne auf!“. Und der Spaß am Singen sollte für unseren Ü70-Durchschnitt noch vor der Qualität kommen, ohne diese ganz zu vernachlässigen. Dementsprechend hat die simple Antwort „hat Spaß gemacht“ auf die Frage nach dem Einsingen die höchste Punktzahl gebracht.
Der nächste Schritt war, die vorgegebenen Antworten so zu formulieren, so dass ich auch etwas daraus ablesen kann. Zum Beispiel konnte man die Frage nach der Effektivität damit beantworten, dass der Chorleiter sich sehr ausgiebig mit den anderen Stimmen beschäftigt hat. Das könnte darauf hindeuten, dass der Sänger unterfordert war. Wurde gleichzeitig das Einsingen als „zu lang“ eingestuft, hat sich der Sänger in der Probe möglicherweise sogar gelangweilt.
Der dritte Schritt war die Punkteverteilung. Seinerzeit gab es positive Punkte, heute würde ich bei bestimmten Antworten sogar Punktabzug vergeben. Ich habe versucht, die für uns wichtigen Fähigkeiten besonders hoch zu bewerten, die nicht so wichtigen Eigenschaften bekamen weniger Punkte. Wurden z.B. durch eine Antwort gute stimmbildnerische Fähigkeiten bescheinigt, war mir dies sehr wichtig und wurde mit einer hohen Punktzahl belohnt, während die Antwort auf die Korrepetition am Klavier nur maximal einen Punkt gab.
Das Ergebnis
Letztendlich hat das Ergebnis aus dem Fragebogen mein Bauchgefühl bestätigt, es war nur wesentlich deutlicher. Und durch den Fragenkatalog hatte ich eine objektive Begründung für mein Bauchgefühl. Außerdem konnten so alle Sänger an der Entscheidung teilhaben.
Fazit: Bei Bedarf würde ich dieses Werkzeug immer wieder einsetzen.